Petersburg 1905: vierundzwanzig Stunden aus dem Leben des Revoluzzers und Kant-Adepten Nikolaj Apollonowitsch, der seinen Vater, einen Senator, mit einer Bombe ermorden soll. Aber schon ein lächerlicher Auftritt des Sohnes genügt, um den Vater zu Fall zu bringen. Unnachahmlich hat Andrej Belyj in seinem berühmtesten Roman die vorrevolutionäre Stimmung im alten Petersburg eingefangen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Dunkelmänner unter virtuoser Lichtregie
Erstmals übersetzt: Die Urfassung von Andrej Belyjs "Petersburg" / Von Wolfgang Schneider
Für mich sind die größten Meisterwerke der Prosaliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts in absteigender Rangfolge: Joyce' ,Ulysses', Kafkas ,Verwandlung', Belyjs ,Petersburg' und die erste Hälfte von Prousts Zaubermärchen ,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit'." In einem Interview aus dem Jahr 1965 teilte Vladimir Nabokov diese Bestenliste mit, an der nur eins erstaunt: daß Proust auf Platz vier verwiesen wird von einem Roman, der im Westen nie so recht im Kanon der Jahrhundertwerke ankam. Einen Grund dafür nennt Nabokov in seinen Vorlesungen über die russische Literatur: "Es wäre ein unsagbar schwieriges Unterfangen, sich ohne Kenntnis der Sprache mit Belyj zu beschäftigen."
Um so mehr ist nun Gabriele Leupolds Neuübersetzung von "Petersburg" zu würdigen, der Ilma Rakusa im Nachwort eine geradezu "befremdliche" Nähe zum Original bescheinigt. Erst jetzt können deutsche Leser die experimentelle Kühnheit Andrej Belyjs (1880 bis 1934) entdecken. Den bisherigen Übertragungen lag die "Berliner Fassung" des Romans von 1922 zugrunde. Diese vom Autor selbst um ein Viertel gekürzte und sprachlich geglättete Version meinte Nabokov jedoch nicht, als er Belyj pries. Er meinte die "Siriner Fassung" von 1913/14, die nun überhaupt zum ersten Mal auf deutsch vorliegt, nicht zu spät, um das Werk als Meilenstein des modernen Romans zu bewundern.
Die westliche Rezeption der russischen Romanliteratur, lange fixiert auf Tolstoi und Dostojewski, achtete wenig auf formale Errungenschaften jenseits des Realismus. Der Ästhetizismus des stark von Nietzsche und der Musik Wagners beeindruckten Belyj war dagegen nicht das, was man sich von der russischen Seele erwartete, auch wenn er etwas gänzlich anderes als ein Interesse an schönen Oberflächen bedeutet. "Petersburg" ist ein Großstadtroman von größter darstellerischer Radikalität; seine nervöse Energie spiegelt die Stimmung kurz vor der ersten russischen Revolution von 1905. Das Buch liest sich wie eine expressionistische Zuspitzung der unheilsschwangeren "Dämonen" Dostojewskis. Die Hirne junger Intellektueller und Apokalyptiker laufen heiß, in den Salons treffen Beamte auf Verschwörer, geheime Zirkel brüten welterlösende Mordanschläge aus. Die Revolution wird von Belyj in keinem Moment als politisches oder moralisches Phänomen begriffen. Versammlungen, Demonstrationen, Streiks und Attentate sind unter dem ästhetizistischen Blick nichts als blinde Erregungen und Zuckungen der Großstadt, die zum eigentlichen Helden des Textes wird: Petersburg, steingewordene Phantasmagorie, hybride Schöpfung eines einzigen Herrschers, Schnittstelle von Ost und West.
Die Handlung ist leicht überschaubar. Ihre strukturelle Achse ist ein Vater-Sohn-Konflikt. Apollon Apollonowitsch Ableuchow ist ein hochrangiger Beamter des Zarenregimes. Sein programmatischer Name läßt sich im Sinne von Nietzsches Antithese verstehen: Ableuchow ist ein Vertreter westlich-"apollinischer" Ordnung. Den formlosen russischen Staat möchte er nach dem Vorbild der aus dem Sumpf errichteten Stadt straff organisieren. Die vorgelagerten Inseln und ihre proletarische Bevölkerung sieht er mit Ekel als Brutstätten des "asiatischen" Chaos, das er in seinen Ordnungsphantasien mit pfeilgeraden, rechtwinkligen Prospekten "durchschießt". Mit dem Sohn hat er das Chaos jedoch bereits im Haus. Nikolaj Ableuchow hat sein Zimmer im Stil eines dionysischen Exotismus eingerichtet, er pflegt Kontakte zu sozialistischen Kreisen. Irgendwann hat der überspannte, von einem monströsen Ödipus-Komplex geplagte "Hamletist" dort erklärt, er sei bereit, seinen Vater zu ermorden. Die leichtfertige Äußerung hat er längst wieder vergessen, als ihm von den Revolutionären in einer Sardinenbüchse die Bombe geliefert wird, mit der er seiner "Verpflichtung" nachkommen soll. Zwar schreckt er panisch vor der Tat zurück, stellt wie unter Zwang aber trotzdem schon mal den Zeitzünder ein.
In diesem Roman kommt immer alles anders als geplant. Senator Ableuchow wird nicht in die Luft gesprengt, aber der Sohn produziert durch eine alberne Maskerade in Zusammenhang mit einer noch alberneren Liebesgeschichte einen gesellschaftlichen Skandal, der den Vater auch ohne Bombe aus dem Amt wirft. Gleichwohl läuft das Buch auf einen Mord hinaus: Der Strippenzieher des geplanten Attentats, der brutalsentimentale Provokateur Lippantschenko, wird von seinem Handlanger Dudkin umgebracht, einem von Alkoholdelirien gepeinigten Dachkammerphilosophen.
Dieses "ungesunde Geschehen", bewußt schrill und reißerisch konzipiert, wird nicht in epischer Kontinuität, sondern gleichsam in kleine Stücke geschlagen dargeboten. Das Abgerissene, Fragmentierte ist inhaltlich wie formal Prinzip des Romans; zwecklos die Handlungen, isoliert die Gesten und Redefetzen, unvermittelt die Szenenwechsel, mit denen Belyj die Technik des harten Filmschnitts vorwegnimmt. Dialoge in geschlossenen Räumen werden von den Schilderungen des "menschlichen Tausendfüßlers" auf den Straßen unterbrochen; in der simultanen Inszenierung der Stadt verkürzen sich Perspektiven von monumentaler Weite abrupt zu einer Nahsicht, die an den symbolistisch aufgeladenen Einzeldingen klebt. Über Petersburg herrscht stets eine Lichtregie der Irrealität: Nie wird ein klarer Tag beschrieben, sondern auf fast jeder Seite Nacht, Nebel, künstliche Beleuchtung, Zwielicht und Dämmer. Jederzeit kann sich die spukhafte Szenerie zu Träumen und Halluzinationen öffnen.
Das Erlebnis der modernen Großstadt war zugleich eine Revolution der sinnlichen Erfahrung. Die Figuren Belyjs scheinen die notwendige psychische Anpassungsleistung an das rasante Tempo der Eindrücke, wie sie der Philosoph Georg Simmel beschrieben hat, noch nicht vollzogen zu haben. Sie taumeln desorientiert durch eine Welt, in der sich alles Vertraute in Unvertrautes verwandelt hat. Als der Senator durch das Haus eines Freundes eilt, stößt er fast mit jemandem zusammen, den er als "kleinen rasierten Gymnasiasten" wahrnimmt. Er erkennt sich selbst nicht: "Apollon Apollonowitsch, die Lage der Zimmer durcheinanderbringend, wäre er beinahe in vollem Lauf in den Spiegel gerannt." Immer wieder beschreibt Belyj solche verschreckenden Spiegelbegegnungen. Während der Erzähler eine karikaturhafte Schärfe der physiognomischen Details aufbietet, scheinen die Figuren mit den einfachsten Wahrnehmungen überfordert. Entsprechend bewußtlos verlaufen oft die Dialoge: dumpf und affektgeladen, von einer Sprachlosigkeit, die in unwillkürliches Gestammel oder jähe Gesten ausbricht. Die "Hirne" gleichen festverschlossenen Dampfdrucktöpfen, kaum etwas vom inneren Gebrodel dringt nach draußen. Vor allem in der scheiternden Kommunikation von Vater und Sohn ist dank dieses Mißverhältnisses eine fulminante Groteskkomik wirksam, von der in den bisherigen Übersetzungen wenig zu spüren war.
Seit je werden die Metropolen mit Hilfe biologisch-organischer Metaphern beschrieben: Häusermeer, Asphaltdschungel, Steinwüste, Dickicht der Städte. Erst recht bei Belyj gewinnt der Stadtkörper ein bedrohliches organisches Eigenleben: "Die Trottoirs flüsterten und schlürften unter der Rotte steinerner Riesen-Häuser"; "am anderen Ufer der Newa erhoben sich die riesigen Gebäude und warfen in den Nebel feurig entzündete Augen." Nicht nur die Monumentalisierung und Vitalisierung der Architektur, sondern auch die syntaktische Inversion erinnert an die zwischen Faszination und Horror schwankenden Stadtdarstellungen im deutschen Expressionismus, der 1913/14 ebenfalls auf dem Höhepunkt war. Hier grassierte nicht weniger das Lebensgefühl der Menschheitsdämmerung, der Kampf zwischen Vätern und Söhnen und der Wille zur Intensität um jeden Preis. So hat Gabriele Leupold gut daran getan, ihrer Übersetzung an vielen Stellen den Klang des Expressionismus zu verleihen. Selbst die musikalischen Strukturen und den sprachlichen Rhythmus des Originals hat Gabriele Leupold so weit wie möglich im Deutschen nachgebildet.
In der Fassung von 1922 hat Belyj sein Buch gezähmt. Es gibt kein Kapitel, in dem er nicht erheblich gestrichen hätte. Für den fiebrigen Roman war die grellschillernde frühere Form jedoch die angemessenere. Ohne die barocke Überinstrumentierung wirken viele Beschreibungen merkwürdig leblos. In Leupolds Übersetzung findet man beispielsweise Nikolaj an einer Stelle "im Gespräch mit einem vorbeikommenden Dozenten, der sich zu ihm herunterbeugte, und, ihn mit Spucke besprühend, eilig bemüht war, ihm den Inhalt eines deutschen Artikels zu referieren" - ein Schnappschuß aus der vorrevolutionären Hysterie. Belyj hat das später verkürzt zu: Nikolaj "unterhielt sich mit einem Dozenten". Damit ist das Detail keineswegs prägnanter, sondern überflüssig geworden; es hat jeden atmosphärischen Wert verloren. Auch viele Gesprächsszenen verblassen ohne die dissonante gestisch-theatralische Begleitmusik. Einige Passagen hat Belyj ganz herausgenommen. Brisant ist der Verzicht auf den Abschnitt "Das Meeting", der in der Sowjetunion, wohin der Autor 1923 nach zweijähriger Emigration zurückkehrte, nicht mehr opportun gewesen wäre: "Gänn . . . ossssn! . . . ", ruft ein verwirrter Redner, "ich, das haiß ain aamä Mann, - Prrolätarrria, Gänn . . . ossssn! . . . aso, du arbaits und arbaits . . . füa diesä Burschuasie . . ."
"Petersburg" ist ein Wurf von außerordentlicher Kraft, bei dessen Lektüre allerdings auch eine Portion Krudität in Kauf genommen werden muß. Belyj beschäftigte sich zeitlebens mit Naturwissenschaft, Philosophie und Mystik und unternahm dabei eigenwillige Brückenschläge. Zur Zeit von "Petersburg" war er ein Anhänger Rudolf Steiners. So schleppt der Roman einigen anthroposophischen Ballast mit. Manche Beschreibung verliert ihre Merkwürdigkeit vielleicht, wenn man überzeugt ist, daß sich der pulsierende Äther-Leib vom physischen Leib lösen kann, daß die Seele dem astralen Kosmos angehört und leibseelische Erfahrungen mit der Ausdehnung und Gravitation der Himmelskörper zusammenhängen.
Sicher lassen sich gegen den Roman, dessen elektrisierte Sprachkunst an keiner Stelle bequemen Darstellungskonventionen weicht, ein paar weitere Einwände vorbringen. Auf der Länge von 630 Seiten können die expressiven Steilheiten strapazieren. Die futuristische Dynamik erscheint nach fast hundert Jahren nicht mehr ganz so atemberaubend: immer noch rast der Senator in der schlammspritzenden Pferdekutsche über die Prospekte. Auch die unterschwellig religiöse Dämonisierung des Molochs Stadt ist dem heutigen Lebensgefühl ferngerückt. Frischer wirkt da die Lässigkeit, mit der fünfzehn Jahre später der überzeugte Berliner Döblin die Großstadt als selbstverständlichen Lebensraum des Franz Biberkopf inszeniert hat.
Aber glücklicherweise werden auch in "Petersburg" dem Pathos durch Komik Grenzen gezogen. Im Finale setzt sie sich durch. Anstelle des Weltenbrands steht der fünfte Akt einer burlesken Familienkomödie mit unerwartet anrührenden Obertönen auf dem Programm. Die Ableuchowa kehrt zurück, nachdem sie den Senator zwei Jahre zuvor wegen eines feurigen Italieners verlassen hatte. Bei der Familienzusammenführung geht zwar unpassenderweise noch die Bombe hoch, jedoch ohne größeren Schaden anzurichten. Dies ist wohl das größte Verdienst der neuen Übersetzung: daß sie den deutschen Lesern Belyj als Meister einer an Gogol geschulten, so farcen- wie fratzenhaften Humoristik erschließt.
Andrej Belyj: "Petersburg". Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Leupold. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 639 S., geb., 68,- DM.
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Erstmals übersetzt: Die Urfassung von Andrej Belyjs "Petersburg" / Von Wolfgang Schneider
Für mich sind die größten Meisterwerke der Prosaliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts in absteigender Rangfolge: Joyce' ,Ulysses', Kafkas ,Verwandlung', Belyjs ,Petersburg' und die erste Hälfte von Prousts Zaubermärchen ,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit'." In einem Interview aus dem Jahr 1965 teilte Vladimir Nabokov diese Bestenliste mit, an der nur eins erstaunt: daß Proust auf Platz vier verwiesen wird von einem Roman, der im Westen nie so recht im Kanon der Jahrhundertwerke ankam. Einen Grund dafür nennt Nabokov in seinen Vorlesungen über die russische Literatur: "Es wäre ein unsagbar schwieriges Unterfangen, sich ohne Kenntnis der Sprache mit Belyj zu beschäftigen."
Um so mehr ist nun Gabriele Leupolds Neuübersetzung von "Petersburg" zu würdigen, der Ilma Rakusa im Nachwort eine geradezu "befremdliche" Nähe zum Original bescheinigt. Erst jetzt können deutsche Leser die experimentelle Kühnheit Andrej Belyjs (1880 bis 1934) entdecken. Den bisherigen Übertragungen lag die "Berliner Fassung" des Romans von 1922 zugrunde. Diese vom Autor selbst um ein Viertel gekürzte und sprachlich geglättete Version meinte Nabokov jedoch nicht, als er Belyj pries. Er meinte die "Siriner Fassung" von 1913/14, die nun überhaupt zum ersten Mal auf deutsch vorliegt, nicht zu spät, um das Werk als Meilenstein des modernen Romans zu bewundern.
Die westliche Rezeption der russischen Romanliteratur, lange fixiert auf Tolstoi und Dostojewski, achtete wenig auf formale Errungenschaften jenseits des Realismus. Der Ästhetizismus des stark von Nietzsche und der Musik Wagners beeindruckten Belyj war dagegen nicht das, was man sich von der russischen Seele erwartete, auch wenn er etwas gänzlich anderes als ein Interesse an schönen Oberflächen bedeutet. "Petersburg" ist ein Großstadtroman von größter darstellerischer Radikalität; seine nervöse Energie spiegelt die Stimmung kurz vor der ersten russischen Revolution von 1905. Das Buch liest sich wie eine expressionistische Zuspitzung der unheilsschwangeren "Dämonen" Dostojewskis. Die Hirne junger Intellektueller und Apokalyptiker laufen heiß, in den Salons treffen Beamte auf Verschwörer, geheime Zirkel brüten welterlösende Mordanschläge aus. Die Revolution wird von Belyj in keinem Moment als politisches oder moralisches Phänomen begriffen. Versammlungen, Demonstrationen, Streiks und Attentate sind unter dem ästhetizistischen Blick nichts als blinde Erregungen und Zuckungen der Großstadt, die zum eigentlichen Helden des Textes wird: Petersburg, steingewordene Phantasmagorie, hybride Schöpfung eines einzigen Herrschers, Schnittstelle von Ost und West.
Die Handlung ist leicht überschaubar. Ihre strukturelle Achse ist ein Vater-Sohn-Konflikt. Apollon Apollonowitsch Ableuchow ist ein hochrangiger Beamter des Zarenregimes. Sein programmatischer Name läßt sich im Sinne von Nietzsches Antithese verstehen: Ableuchow ist ein Vertreter westlich-"apollinischer" Ordnung. Den formlosen russischen Staat möchte er nach dem Vorbild der aus dem Sumpf errichteten Stadt straff organisieren. Die vorgelagerten Inseln und ihre proletarische Bevölkerung sieht er mit Ekel als Brutstätten des "asiatischen" Chaos, das er in seinen Ordnungsphantasien mit pfeilgeraden, rechtwinkligen Prospekten "durchschießt". Mit dem Sohn hat er das Chaos jedoch bereits im Haus. Nikolaj Ableuchow hat sein Zimmer im Stil eines dionysischen Exotismus eingerichtet, er pflegt Kontakte zu sozialistischen Kreisen. Irgendwann hat der überspannte, von einem monströsen Ödipus-Komplex geplagte "Hamletist" dort erklärt, er sei bereit, seinen Vater zu ermorden. Die leichtfertige Äußerung hat er längst wieder vergessen, als ihm von den Revolutionären in einer Sardinenbüchse die Bombe geliefert wird, mit der er seiner "Verpflichtung" nachkommen soll. Zwar schreckt er panisch vor der Tat zurück, stellt wie unter Zwang aber trotzdem schon mal den Zeitzünder ein.
In diesem Roman kommt immer alles anders als geplant. Senator Ableuchow wird nicht in die Luft gesprengt, aber der Sohn produziert durch eine alberne Maskerade in Zusammenhang mit einer noch alberneren Liebesgeschichte einen gesellschaftlichen Skandal, der den Vater auch ohne Bombe aus dem Amt wirft. Gleichwohl läuft das Buch auf einen Mord hinaus: Der Strippenzieher des geplanten Attentats, der brutalsentimentale Provokateur Lippantschenko, wird von seinem Handlanger Dudkin umgebracht, einem von Alkoholdelirien gepeinigten Dachkammerphilosophen.
Dieses "ungesunde Geschehen", bewußt schrill und reißerisch konzipiert, wird nicht in epischer Kontinuität, sondern gleichsam in kleine Stücke geschlagen dargeboten. Das Abgerissene, Fragmentierte ist inhaltlich wie formal Prinzip des Romans; zwecklos die Handlungen, isoliert die Gesten und Redefetzen, unvermittelt die Szenenwechsel, mit denen Belyj die Technik des harten Filmschnitts vorwegnimmt. Dialoge in geschlossenen Räumen werden von den Schilderungen des "menschlichen Tausendfüßlers" auf den Straßen unterbrochen; in der simultanen Inszenierung der Stadt verkürzen sich Perspektiven von monumentaler Weite abrupt zu einer Nahsicht, die an den symbolistisch aufgeladenen Einzeldingen klebt. Über Petersburg herrscht stets eine Lichtregie der Irrealität: Nie wird ein klarer Tag beschrieben, sondern auf fast jeder Seite Nacht, Nebel, künstliche Beleuchtung, Zwielicht und Dämmer. Jederzeit kann sich die spukhafte Szenerie zu Träumen und Halluzinationen öffnen.
Das Erlebnis der modernen Großstadt war zugleich eine Revolution der sinnlichen Erfahrung. Die Figuren Belyjs scheinen die notwendige psychische Anpassungsleistung an das rasante Tempo der Eindrücke, wie sie der Philosoph Georg Simmel beschrieben hat, noch nicht vollzogen zu haben. Sie taumeln desorientiert durch eine Welt, in der sich alles Vertraute in Unvertrautes verwandelt hat. Als der Senator durch das Haus eines Freundes eilt, stößt er fast mit jemandem zusammen, den er als "kleinen rasierten Gymnasiasten" wahrnimmt. Er erkennt sich selbst nicht: "Apollon Apollonowitsch, die Lage der Zimmer durcheinanderbringend, wäre er beinahe in vollem Lauf in den Spiegel gerannt." Immer wieder beschreibt Belyj solche verschreckenden Spiegelbegegnungen. Während der Erzähler eine karikaturhafte Schärfe der physiognomischen Details aufbietet, scheinen die Figuren mit den einfachsten Wahrnehmungen überfordert. Entsprechend bewußtlos verlaufen oft die Dialoge: dumpf und affektgeladen, von einer Sprachlosigkeit, die in unwillkürliches Gestammel oder jähe Gesten ausbricht. Die "Hirne" gleichen festverschlossenen Dampfdrucktöpfen, kaum etwas vom inneren Gebrodel dringt nach draußen. Vor allem in der scheiternden Kommunikation von Vater und Sohn ist dank dieses Mißverhältnisses eine fulminante Groteskkomik wirksam, von der in den bisherigen Übersetzungen wenig zu spüren war.
Seit je werden die Metropolen mit Hilfe biologisch-organischer Metaphern beschrieben: Häusermeer, Asphaltdschungel, Steinwüste, Dickicht der Städte. Erst recht bei Belyj gewinnt der Stadtkörper ein bedrohliches organisches Eigenleben: "Die Trottoirs flüsterten und schlürften unter der Rotte steinerner Riesen-Häuser"; "am anderen Ufer der Newa erhoben sich die riesigen Gebäude und warfen in den Nebel feurig entzündete Augen." Nicht nur die Monumentalisierung und Vitalisierung der Architektur, sondern auch die syntaktische Inversion erinnert an die zwischen Faszination und Horror schwankenden Stadtdarstellungen im deutschen Expressionismus, der 1913/14 ebenfalls auf dem Höhepunkt war. Hier grassierte nicht weniger das Lebensgefühl der Menschheitsdämmerung, der Kampf zwischen Vätern und Söhnen und der Wille zur Intensität um jeden Preis. So hat Gabriele Leupold gut daran getan, ihrer Übersetzung an vielen Stellen den Klang des Expressionismus zu verleihen. Selbst die musikalischen Strukturen und den sprachlichen Rhythmus des Originals hat Gabriele Leupold so weit wie möglich im Deutschen nachgebildet.
In der Fassung von 1922 hat Belyj sein Buch gezähmt. Es gibt kein Kapitel, in dem er nicht erheblich gestrichen hätte. Für den fiebrigen Roman war die grellschillernde frühere Form jedoch die angemessenere. Ohne die barocke Überinstrumentierung wirken viele Beschreibungen merkwürdig leblos. In Leupolds Übersetzung findet man beispielsweise Nikolaj an einer Stelle "im Gespräch mit einem vorbeikommenden Dozenten, der sich zu ihm herunterbeugte, und, ihn mit Spucke besprühend, eilig bemüht war, ihm den Inhalt eines deutschen Artikels zu referieren" - ein Schnappschuß aus der vorrevolutionären Hysterie. Belyj hat das später verkürzt zu: Nikolaj "unterhielt sich mit einem Dozenten". Damit ist das Detail keineswegs prägnanter, sondern überflüssig geworden; es hat jeden atmosphärischen Wert verloren. Auch viele Gesprächsszenen verblassen ohne die dissonante gestisch-theatralische Begleitmusik. Einige Passagen hat Belyj ganz herausgenommen. Brisant ist der Verzicht auf den Abschnitt "Das Meeting", der in der Sowjetunion, wohin der Autor 1923 nach zweijähriger Emigration zurückkehrte, nicht mehr opportun gewesen wäre: "Gänn . . . ossssn! . . . ", ruft ein verwirrter Redner, "ich, das haiß ain aamä Mann, - Prrolätarrria, Gänn . . . ossssn! . . . aso, du arbaits und arbaits . . . füa diesä Burschuasie . . ."
"Petersburg" ist ein Wurf von außerordentlicher Kraft, bei dessen Lektüre allerdings auch eine Portion Krudität in Kauf genommen werden muß. Belyj beschäftigte sich zeitlebens mit Naturwissenschaft, Philosophie und Mystik und unternahm dabei eigenwillige Brückenschläge. Zur Zeit von "Petersburg" war er ein Anhänger Rudolf Steiners. So schleppt der Roman einigen anthroposophischen Ballast mit. Manche Beschreibung verliert ihre Merkwürdigkeit vielleicht, wenn man überzeugt ist, daß sich der pulsierende Äther-Leib vom physischen Leib lösen kann, daß die Seele dem astralen Kosmos angehört und leibseelische Erfahrungen mit der Ausdehnung und Gravitation der Himmelskörper zusammenhängen.
Sicher lassen sich gegen den Roman, dessen elektrisierte Sprachkunst an keiner Stelle bequemen Darstellungskonventionen weicht, ein paar weitere Einwände vorbringen. Auf der Länge von 630 Seiten können die expressiven Steilheiten strapazieren. Die futuristische Dynamik erscheint nach fast hundert Jahren nicht mehr ganz so atemberaubend: immer noch rast der Senator in der schlammspritzenden Pferdekutsche über die Prospekte. Auch die unterschwellig religiöse Dämonisierung des Molochs Stadt ist dem heutigen Lebensgefühl ferngerückt. Frischer wirkt da die Lässigkeit, mit der fünfzehn Jahre später der überzeugte Berliner Döblin die Großstadt als selbstverständlichen Lebensraum des Franz Biberkopf inszeniert hat.
Aber glücklicherweise werden auch in "Petersburg" dem Pathos durch Komik Grenzen gezogen. Im Finale setzt sie sich durch. Anstelle des Weltenbrands steht der fünfte Akt einer burlesken Familienkomödie mit unerwartet anrührenden Obertönen auf dem Programm. Die Ableuchowa kehrt zurück, nachdem sie den Senator zwei Jahre zuvor wegen eines feurigen Italieners verlassen hatte. Bei der Familienzusammenführung geht zwar unpassenderweise noch die Bombe hoch, jedoch ohne größeren Schaden anzurichten. Dies ist wohl das größte Verdienst der neuen Übersetzung: daß sie den deutschen Lesern Belyj als Meister einer an Gogol geschulten, so farcen- wie fratzenhaften Humoristik erschließt.
Andrej Belyj: "Petersburg". Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Leupold. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 639 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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