Der Newskijprospekt. Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Die Nase. Der Mantel
Romantische Phantastik und sozialkritischer Realismus kennzeichnen jene berühmten vier Erzählungen Nikolaj Gogols, die als 'Petersburger Novellen' in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Bereits der Titel zeigt an, daß man den Meister der Groteske an einem ungewohnten Schauplatz findet: seiner virtuosen Darstellung der bäuerlichen und provinziellen Welt in 'Die Toten Seelen' folgt jetzt die Beschreibung der Großstadt als Symbol der Moderne.
In der Novelle 'Der Newskijprospekt' (1835) schildert Gogol die sich im Lauf des Tages verändernde Physiognomie der legendären Prachtstraße Petersburgs und läßt die Diskrepanz zwischen mondän-glückversprechendem Schein und seelenloser Wirklichkeit offenkundig werden. Mag das Absurde in den tagebuchartigen 'Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen' (1935) noch durch den fortschreitenden Prozeß der geistigen Verwirrung des Titularrates Popristschin motiviert erscheinen, so ist es in der berühmten Novelle 'Die Nase' (1836/42) bereits zur inhumanen »Realität« geworden. Den Abschluß der 'Petersburger Novellen' bildet 'Der Mantel' (1842), Gogols reifstes Meisterwerk, »eine Groteske, in der sich die Mimik des Lachens mit der Mimik der Trauer abwechselt« (B. Ejchenbaum).
Romantische Phantastik und sozialkritischer Realismus kennzeichnen jene berühmten vier Erzählungen Nikolaj Gogols, die als 'Petersburger Novellen' in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Bereits der Titel zeigt an, daß man den Meister der Groteske an einem ungewohnten Schauplatz findet: seiner virtuosen Darstellung der bäuerlichen und provinziellen Welt in 'Die Toten Seelen' folgt jetzt die Beschreibung der Großstadt als Symbol der Moderne.
In der Novelle 'Der Newskijprospekt' (1835) schildert Gogol die sich im Lauf des Tages verändernde Physiognomie der legendären Prachtstraße Petersburgs und läßt die Diskrepanz zwischen mondän-glückversprechendem Schein und seelenloser Wirklichkeit offenkundig werden. Mag das Absurde in den tagebuchartigen 'Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen' (1935) noch durch den fortschreitenden Prozeß der geistigen Verwirrung des Titularrates Popristschin motiviert erscheinen, so ist es in der berühmten Novelle 'Die Nase' (1836/42) bereits zur inhumanen »Realität« geworden. Den Abschluß der 'Petersburger Novellen' bildet 'Der Mantel' (1842), Gogols reifstes Meisterwerk, »eine Groteske, in der sich die Mimik des Lachens mit der Mimik der Trauer abwechselt« (B. Ejchenbaum).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2009Bin ich auch nicht betrunken?
Ikonographie des Irrenhauses: Gogols "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", neu übersetzt von Peter Urban, spielen auf Goya an
Komik, die tragisch wirkt, fehlt bei Nikolai Gogol fast nie. Thomas Mann nannte den heute vor zweihundert Jahren Geborenen "komisch aus Realismus, aus Leid und Mitleid, aus tiefster Menschlichkeit, aus satirischer Verzweiflung". Nicht nur Tschitschikows Idee, russischen Gutsbesitzern Karteileichen abzuhandeln, weil die verstorbenen Leibeigenen noch auf staatlichen Steuerlisten stehen und so weiter hohe Einkünfte versprechen, zeugt von schalkhafter Gerissenheit. Gogol verdankte den grotesken Einfall zu den "Toten Seelen" zwar seinem Freund Puschkin, im tragisch-komischen Sujet hatte er sich da aber bereits bewährt. Unter den Erzählungen, die 1835 zu Beginn des Romanprojekts gerade vorlagen, glänzen besonders "Die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen".
Axenti Iwanowitsch Poprischtschin ist ein kleines Würstchen im St. Petersburger Ministerium - zweiundvierzig Jahre alt, keine Schönheit, etwas einfältig und den ganzen Tag mit dem Anspitzen von Schreibfedern beschäftigt. Er scheint ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, also der Rede eigentlich gar nicht wert. Doch in ihm geschieht Merkwürdiges, und er entfaltet es auf beklemmende Weise in einem inneren Tagebuchmonolog: Die völlig abwegige und aussichtslose Liebe zur Tochter des Direktors treibt ihn unweigerlich in den Wahnsinn.
Wie vor ihm schon Goethes Werther wird Poprischtschin zum Protokollanten der eigenen Krankengeschichte, ohne freilich zu merken, wie schlimm es um ihn steht. Im Amt bewegt er sich am untersten Ende der Hierarchie, doch im intimen Tagebuch ist er ganz groß. Hier kann er endlich nach Belieben gegen alle Abteilungsleiter und Lakaien, gegen Ehrsucht und Eitelkeit, gegen dumme Franzosen und die Inquisition rebellieren.
Poprischtschin ist sehr sensibel. Gleich im ersten Tagebucheintrag räumt er ein, dass er seit einiger Zeit Dinge wahrnehme, "die noch niemand gesehen und gehört hat". Dazu zählt vor allem das phantastische Plaudern kleiner Kläffer auf der Straße, worüber er sich nur zu Beginn des Tagebuchs noch wundert: "Bin ich auch nicht betrunken?" Wie bei den sprechenden Katern Tiecks oder E. T. A. Hoffmanns, deren Bekanntschaft Gogol auf seiner Deutschland-Reise 1829 macht, wird es Poprischtschin zunehmend selbstverständlich, dass die bellenden Madgie und Fidèle höchst beredt sind und fast gewandtere Briefe schreiben als sein Abteilungsleiter.
Umso größer ist sein Schock, als er durch die Hundsbriefe nicht nur von den wahren Herzensangelegenheiten der Direktorentochter erfährt, sondern auch vom Blick der Welt auf seine lächerliche Existenz: "die Haare auf seinem Kopf sehen sehr aus wie Heu. Papá schickt ihn immer als Boten anstelle des Dieners."
Anton Tschechow hält so etwas zu Recht für "einfach begeisternd und nichts weiter". Poprischtschins "Aufzeichnungen" fügen sich zu einer großartigen Erzählung. Wir sind als Leser ganz nahe dabei, wenn die Datierungen entgleiten und die Vision des Tagebuchschreibers, in Wirklichkeit der König von Spanien zu sein, immer manifester wird. Im Kopf des Verrückten überlagert sich der historische Konflikt um Philipp II. aus Schillers "Don Carlos" mit dem aktuellen Nachfolgestreit des Jahres 1833 zwischen Isabella II. und Carlos V. Plötzlich sieht Poprischtschin sich als legitimer Thronfolger des verstorbenen Ferdinand VII., hält die ihn abholenden Emissäre der Irrenanstalt für spanische Deputierte und die Stockhiebe der Wärter für Ritterschläge. Wenn er sich am "Dreißigsten Februarius" in Madrid in einer "Menschenmenge mit glattrasierten Köpfen" wiederfindet, dann kann einem Francisco de Goyas zwischen 1808 und 1814 entstandenes Gemälde "Casa de locos" vor Augen treten.
Auf diesem ebenfalls hochpolitischen Bild thront in der Mitte eines von Irren überfüllten Saals ein selbsternannter König mit Szepter und einer Krone aus Spielkarten. Flankiert wird er von einer Papstfigur mit Kette und Tiara sowie einem nackten, lediglich mit Dreispitz bekleideten Soldaten, der mit seiner gestisch angedeuteten Waffe in die Luft schießt. Die Kritik an König, Kirche und Armee Spaniens, die Napoleon nicht abwehrten, wird überdeutlich. Peter Urban erwägt das zwar nicht in seinem ausgezeichneten Nachwort und Kommentar, betont aber die große Anspielungsdichte. Es ist also nicht auszuschließen, dass Gogol dieses Gemälde, das für die Ikonographie des Irrenhauses zentral ist, zusätzlich inspirierte.
ALEXANDER KOSENINA.
Nikolai Gogol: "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen". Novelle. Neu übersetzt und hrsg. von Peter Urban. Mit vier Tuschzeichnungen von Horst Hussel. Friedenauer Presse, Berlin 2009. 88 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ikonographie des Irrenhauses: Gogols "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", neu übersetzt von Peter Urban, spielen auf Goya an
Komik, die tragisch wirkt, fehlt bei Nikolai Gogol fast nie. Thomas Mann nannte den heute vor zweihundert Jahren Geborenen "komisch aus Realismus, aus Leid und Mitleid, aus tiefster Menschlichkeit, aus satirischer Verzweiflung". Nicht nur Tschitschikows Idee, russischen Gutsbesitzern Karteileichen abzuhandeln, weil die verstorbenen Leibeigenen noch auf staatlichen Steuerlisten stehen und so weiter hohe Einkünfte versprechen, zeugt von schalkhafter Gerissenheit. Gogol verdankte den grotesken Einfall zu den "Toten Seelen" zwar seinem Freund Puschkin, im tragisch-komischen Sujet hatte er sich da aber bereits bewährt. Unter den Erzählungen, die 1835 zu Beginn des Romanprojekts gerade vorlagen, glänzen besonders "Die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen".
Axenti Iwanowitsch Poprischtschin ist ein kleines Würstchen im St. Petersburger Ministerium - zweiundvierzig Jahre alt, keine Schönheit, etwas einfältig und den ganzen Tag mit dem Anspitzen von Schreibfedern beschäftigt. Er scheint ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, also der Rede eigentlich gar nicht wert. Doch in ihm geschieht Merkwürdiges, und er entfaltet es auf beklemmende Weise in einem inneren Tagebuchmonolog: Die völlig abwegige und aussichtslose Liebe zur Tochter des Direktors treibt ihn unweigerlich in den Wahnsinn.
Wie vor ihm schon Goethes Werther wird Poprischtschin zum Protokollanten der eigenen Krankengeschichte, ohne freilich zu merken, wie schlimm es um ihn steht. Im Amt bewegt er sich am untersten Ende der Hierarchie, doch im intimen Tagebuch ist er ganz groß. Hier kann er endlich nach Belieben gegen alle Abteilungsleiter und Lakaien, gegen Ehrsucht und Eitelkeit, gegen dumme Franzosen und die Inquisition rebellieren.
Poprischtschin ist sehr sensibel. Gleich im ersten Tagebucheintrag räumt er ein, dass er seit einiger Zeit Dinge wahrnehme, "die noch niemand gesehen und gehört hat". Dazu zählt vor allem das phantastische Plaudern kleiner Kläffer auf der Straße, worüber er sich nur zu Beginn des Tagebuchs noch wundert: "Bin ich auch nicht betrunken?" Wie bei den sprechenden Katern Tiecks oder E. T. A. Hoffmanns, deren Bekanntschaft Gogol auf seiner Deutschland-Reise 1829 macht, wird es Poprischtschin zunehmend selbstverständlich, dass die bellenden Madgie und Fidèle höchst beredt sind und fast gewandtere Briefe schreiben als sein Abteilungsleiter.
Umso größer ist sein Schock, als er durch die Hundsbriefe nicht nur von den wahren Herzensangelegenheiten der Direktorentochter erfährt, sondern auch vom Blick der Welt auf seine lächerliche Existenz: "die Haare auf seinem Kopf sehen sehr aus wie Heu. Papá schickt ihn immer als Boten anstelle des Dieners."
Anton Tschechow hält so etwas zu Recht für "einfach begeisternd und nichts weiter". Poprischtschins "Aufzeichnungen" fügen sich zu einer großartigen Erzählung. Wir sind als Leser ganz nahe dabei, wenn die Datierungen entgleiten und die Vision des Tagebuchschreibers, in Wirklichkeit der König von Spanien zu sein, immer manifester wird. Im Kopf des Verrückten überlagert sich der historische Konflikt um Philipp II. aus Schillers "Don Carlos" mit dem aktuellen Nachfolgestreit des Jahres 1833 zwischen Isabella II. und Carlos V. Plötzlich sieht Poprischtschin sich als legitimer Thronfolger des verstorbenen Ferdinand VII., hält die ihn abholenden Emissäre der Irrenanstalt für spanische Deputierte und die Stockhiebe der Wärter für Ritterschläge. Wenn er sich am "Dreißigsten Februarius" in Madrid in einer "Menschenmenge mit glattrasierten Köpfen" wiederfindet, dann kann einem Francisco de Goyas zwischen 1808 und 1814 entstandenes Gemälde "Casa de locos" vor Augen treten.
Auf diesem ebenfalls hochpolitischen Bild thront in der Mitte eines von Irren überfüllten Saals ein selbsternannter König mit Szepter und einer Krone aus Spielkarten. Flankiert wird er von einer Papstfigur mit Kette und Tiara sowie einem nackten, lediglich mit Dreispitz bekleideten Soldaten, der mit seiner gestisch angedeuteten Waffe in die Luft schießt. Die Kritik an König, Kirche und Armee Spaniens, die Napoleon nicht abwehrten, wird überdeutlich. Peter Urban erwägt das zwar nicht in seinem ausgezeichneten Nachwort und Kommentar, betont aber die große Anspielungsdichte. Es ist also nicht auszuschließen, dass Gogol dieses Gemälde, das für die Ikonographie des Irrenhauses zentral ist, zusätzlich inspirierte.
ALEXANDER KOSENINA.
Nikolai Gogol: "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen". Novelle. Neu übersetzt und hrsg. von Peter Urban. Mit vier Tuschzeichnungen von Horst Hussel. Friedenauer Presse, Berlin 2009. 88 S., br., 16,- [Euro].
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"Seit Gogol ist die russische Literatur komisch,- komisch aus Realismus, aus Leid und Mitleid, aus tiefster Menschlichkeit, aus satirischer Verzweiflung, auch aus einfacher Lebensfrische; aber das gogolisch komische Elemente fehlt nirgends und in keinem Fall." Thomas Mann