Produktdetails
  • Verlag: Residenz
  • Seitenzahl: 115
  • Abmessung: 211mm x 136mm x 16mm
  • Gewicht: 235g
  • ISBN-13: 9783701710157
  • ISBN-10: 3701710155
  • Artikelnr.: 06483501
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1996

Zitronenfalter in der Kühlbox
Ausgesprochen feinfühlig: Auch Peter Horst Neumann dichtet

Wie gut, daß es noch Autoren gibt, die nicht gleich jedes lyrische Pflänzchen auf den Wochenmarkt tragen. Viel Papier hätte gespart, mancher Fehlstart vermieden werden können, wenn sich der Gedichteschreiber nicht gleich für einen Rainer Maria Rilke gehalten hätte oder für einen Gottfried Benn, für den bekanntlich auch große Dichter seiner Zeit nicht mehr "als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen" haben. Und wie schrieb Ernst Robert Curtius an Benn? "Ach, diese jungen Leute, sie sind wie die Vögel, im Frühling singen sie, und im Sommer sind sie dann schon wieder still."

Einer, der bis zum Herbst mit seiner ersten größeren Gedichtsammlung gewartet hat, ist Peter Horst Neumann, Professor für Literaturgeschichte und Verfasser subtiler Studien zur Lyrik Bertolt Brechts, Paul Celans oder Günter Eichs. Aber wenn man in Analogie zum "Professorenroman" vom "Professorengedicht" sprechen wollte - in Peter Horst Neumanns Sammlung "Pfingsten in Babylon" findet sich keines. Auch kein Benn-, Brecht-, Celan- oder Eich-Epigone begegnet uns hier.

Verstreut und zum Bändchen zusammengeheftet, haben Gedichte von Neumann schon früher die Öffentlichkeit erreicht. Im Frühjahr wurde ihm der Eichendorff-Preis verliehen. Der jetzt erschienene Band liefert eine schöne Rechtfertigung nach. Im übrigen schlägt der Preis eine Brücke zur Biographie. In der Stadt Neisse/Oberschlesien, in der Eichendorff sein Grab fand, stand Peter Horst Neumanns Wiege. So beschwört das Gedichtquartett "Nach Neisse" wieder das "Singen" von "Eichendorffs Lerche". Zur Schuhmacherwerkstatt des schlesischen Mystikers Jakob Böhme trägt den Nachgeborenen der "Pilgerschuh" ("In Görlitz").

Es sind freilich keine Vulkanausbrüche der Sturm-und Drang-Periode mehr, die hier ihren Widerschein finden, sondern die Wahrnehmungen und der Reflexionshorizont eines kultivierten Lebens, bei hoher Empfindlichkeit für Übergänge und Zwischentöne. Den Grad der Gelassenheit, mit der auf den lyrisch prägnanten Augenblick gewartet wird, umschreibt im Kurzgedicht "Wanderlied" der Rat an einen "gehbehinderten" Freund: "Bleib stehen. / Es kommt / auf dich zu."

Ihren Niederschlag finden natürlich auch literarische Begegnungen: mit Kleist, Kafka oder Eich. Aber kein Bildungswissen trumpft hier auf. Aus Zurückhaltung verschwiegen werden die Namen der Freunde Paul Celan und Peter Szondi im Gedicht "Andenken". Wo der Literatur Altäre errichtet werden, meldet sich der skeptische Ironiker, so im Gedicht "Schwester Laurentia, Buchhändlerin": "Zur Frühmesse / täglich und einmal / im Kirchenjahr / Frankfurt. // Der Sintflut / den Wasserstand / messen. // Dort schwimmt sie / von Stand zu Stand."

Einen originellen Blick auf die Sintflut gewährt das "Sisyphus"-Gedicht. Zum "Freudentag" wurde die Sintflut für die Fische: "ihnen / gehörte die Welt"; und der Stein des Sisyphus "wog" im Wasser "leicht". Die Verschränkung der biblischen und der mythischen Geschichte ermöglicht neue Annäherungen an alte Überlieferungen, so auch die Kombination der Geschichte von Moses' zorniger Zerschmetterung der Gesetzestafeln beim Anblick des Goldenen Kalbs und des Motivs vom Turmbau zu Babel. "Das Wunschfest / der einen Sprache" führte ins Schweigen, wir tragen noch am Erbe: am "gebrochenen Wort", an den gespaltenen Zungen.

Nicht blind geworden ist der Spätzeit-Lyriker für die kleinen "Fundsachen" des Alltags, für das in der Jackentasche vergessene, gekeimte Maiskorn oder den das Gefrieren in der Kühlbox überlebenden Zitronenfalter, nicht taub für das "mit den Füßen gesungene Lied" der Grille. "Laß deine Hand / zum Guten mich erschrecken", wünscht beim Erwachen aus seinem "schwarzen Traum" der Liebende. Was im Band "Pfingsten in Babylon" zu entdecken ist, sind lyrische Gesten der Klugheit, der Freundlichkeit, der sensiblen Beobachtung - und der Wachsamkeit gegen allzuviel Gleichmut: "WENN WIR / in Drachenblut / baden, // ein Lindenblatt / soll uns / gnädig sein, // daß wir / verwundbar / bleiben." WALTER HINCK

Peter Horst Neumann: "Pfingsten in Babylon". Gedichte. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1996. 116 S., geb., 38,- DM.

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