Verliebtsein als philosophischer Zustand, Eros als anthropologischer Code innerhalb, aber auch jenseits der Genderspaltung: Davon handelt der Mythos von Phädra, der Heldin der Liebe, Ehebrecherin, Mörderin und Selbstmörderin. Geboren im Griechenland der Antike, ist diese Dark Lady im Theater der Welt zu Hause. Weder eine schmachtende, reife Frau, die der Schönheit des Stiefsohnes verfallen ist, noch sublime Sünderin, sondern eine gefährlich sprechende Figur. Agnese Grieco dekolonisiert diesen Klassiker, der Misogynie und Patriarchat, aber auch Begehren, Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Sinn für Gerechtigkeit vereint. Den altgriechischen Text des Euripides, dem Vater der Phädra, liest die Philosophin und Dramatikerin als Zeugnis und provozierendes Manifest gegen den allgegenwärtigen Fetisch der Identität. Auf der Bühne bricht Phädra das Schweigen, als weibliche/männliche Stimme debattiert sie stolz und verwundet mit Platon, Sokrates und den Sophisten. Diese paradoxe Verfechterin des Logos blickt uns direkt in die Augen und fragt: Wo stehen wir, was haben wir aus der Erfahrung der Liebe gelernt? Was haben wir mit dem Eros gemacht?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jürgen Kaube möchte von Agnese Griecos Essay über Phädra und ihre Erscheinungsformen bei Seneca, Ovid und anderen Dichtern nicht zu viel verlangen, etwa den Weitblick bis zu Phädra-Figuren von Zwetajewa oder Sarah Kane. Die kleine Studie leistet laut Kaube schon eine Menge, wenn sie klug und anregend Phädra und die mythische Helena oder Ödipus miteinander vergleicht oder sich mit der Nachgeschichte der griechischen Tragödie befasst. Etwas Eile gegen Ende des Buches und das Fehlen eines Kommentars zu Racine kann Kaube daher verschmerzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2023In Qualen verbotener Liebe
Sollte wirklich das Wissen um das Gute reichen, damit das Handeln ihm folgt? Agnese Grieco legt eine schmale, überaus gedankenreiche Studie zur tragischen Figur der Phädra vor, in der nicht zuletzt die Rolle des Eros und die Herrschaft der Männer in der griechischen Gesellschaft beleuchtet wird.
Es gibt eine ganze Reihe griechischer Frauenmythen, die bis in unsere Zeit hineinstrahlen. Wir kennen Penelope, die sehr lange auf Odysseus wartete, und wir kennen den Zweifel, wie treu sie ihm war. Berühmt ist Antigone, die sich weigerte, dem politischen Befehl zu gehorchen, weil sie ein höheres oder besser: tieferes Recht kannte als das des Gemeinwesens, das Recht der Familie. Berühmt ist auch Medea, die, wildgeworden aus enttäuschter Liebe, die schrecklichsten Folgerungen der Rache zog. Und Iphigenie, die geopfert werden sollte und, nachdem sie überlebt hatte, ihre ganze Energie darauf verwandte, dass das Opfern aufhören möge. Von Helena, die das große Opfern auslöste, ganz zu schweigen.
Aber wer kennt Phädra, griechisch "die Strahlende"? Euripides hat eine Tragödie über sie geschrieben, aber die trägt einen männlichen Namen: "Der kranztragende Hyppolytos". Über Seneca wird die Geschichte ihres Verliebtseins in den Stiefsohn Hyppolyt, der nichts von ihr wissen will und den sie deshalb lügnerisch denunziert, woraufhin er von einem Seeungeheuer getötet wird, das sein Vater Theseus herbeigerufen hat, weiter überliefert. Jean Racine schreibt 1677 sein letztes Antiken-Drama über sie. Schiller übersetzt das Stück und distanziert sich zugleich: "Nicht Muster darf uns zwar der Franke werden: / Aus seiner Kunst spricht kein lebend'ger Geist". Den Lesern Shakespeares war Racine vor allem Gips, bestenfalls Marmor. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die posenreiche, wie in einem Grabmal spielende "Phädra" in der Übersetzung von Simon Werle, die Peter Stein im Jahr 1987 auf die Schaubühne brachte, mit Jutta Lampe als Titelheldin.
Wenn Phädra, trotz mehrerer Theaterstücke und Opern, die ihr galten, nicht zu einer einprägsamen Figur unseres Mythenschatzes geworden ist, dann ist das vorliegende Buch ein Versuch, das zu ändern. Die italienische Autorin und Regisseurin Agnese Grieco hat auf Deutsch eine wundervolle Studie über ihre Heldin geschrieben. Sie fließt geradezu über an Gedanken, was es mit dieser Frau auf sich hat. Der Stil der Studie bewegt sich zwischen einer literaturgeschichtlichen Untersuchung, einem philosophischen Essay und Skizzen zu einer Inszenierung des Dramas, mit an den Rand des Textes geschriebenen Ausrufezeichen.
In seinem Zentrum steht die Frage danach, ob wir mehr als die Erkenntnis des Guten benötigen, um gut zu handeln. Phädra quält sich mit ihrer unausgesprochenen Liebe zum Stiefsohn, weil ihr das Verbot des Ehebruchs bewusst ist. Sie will ihren Kindern eine vorbildliche Mutter, dem Hof eine vorbildliche Königin sein, und so geht das nicht. Aber weshalb heißen die verbotene wie die erlaubte Liebe dann beide "Liebe"? Macht das untersagte Begehren Phädra zu einer Nutte, wie sie Aischylos in "Die Frösche" von Aristophanes nennt? Wohl schon deshalb nicht, weil das Objekt ihres Begehrens der keusche Hyppolyt ist, an dem die Liebesgöttin Aphrodite, die auch schon am Trojanischen Krieg schuld war, sich seiner Abstinenz und übertriebenen Artemis-Verehrung wegen rächen möchte. Deshalb steckt sie das Herz der Königin in Brand.
"Rein sind meine Hände", sagt diese, "doch befleckt mein Sinn." Sie wird den Gedanken an den Stiefsohn nicht mehr los. Grieco findet die gute Formulierung, Phädra sei das Gegenteil des Ödipus, denn sie wisse alles. Nicht also der mit Blindheit geschlagene Mensch wird hier zum Spielball des Schicksals, sondern der um das Gute wissende, der nur nicht danach handeln möchte, weil sein Begehren seinem Wissen entgegensteht. Phädra spricht auf der Bühne mit dem Frauenchor über dieselben Fragen, die Platon in seinem "Protagoras" aufwirft: Ist das Gute eine Erkenntnis? "Gibt es ein ethisches Können?" (Grieco) Muss nicht zum Begreifen auch noch ein Wollen hinzukommen? Platon verneint das, mit Phädra müsste man hingegen sagen, dass uns die Vernunft allein nicht aus den mythischen Verstrickungen herauslösen wird.
Ihr anderer Gegenpol ist die Amme, der sie bei Euripides wie Racine ihre ausweglose Lage mitteilt. Denn die Amme rät ihr im Sinne der Sophisten, die Sache ihrer Leidenschaft nicht so schwer zu nehmen und sich weder in das Tugendideal noch in die Passion zu verbeißen. Die Amme könnte heute als Familientherapeutin dargestellt werden. Dann aber wäre es keine Tragödie. Phädra strebt an, was ihr als griechischer Königin versagt ist: einen Rollenwechsel, sie will heraus aus ihrer Haut, aus dem Palast. Ihre Fixiertheit ganz darauf konnte Euripides aus der mythischen Figur heraus plausibel machen, denn Phädra schleppt, anders als viele ihrer Artgenossinnen, keine Verwandtschaftslasten, keine Schuld und keinen alten Verrat mit sich, war keine Kriegsbeute, ist nicht die Schwester von Heroen. Es ragt wenig Vergangenheit in ihre Geschichte hinein.
Dennoch vergleicht Agnese Grieco sie mit einer anderen mythischen Figur: Helena. "Jedermann verhasst", sagt diese über sich selbst bei Euripides. Sie ist die sexuelle Attraktion schlechthin, wortkarg und schamlos, um die politischen Folgen ihrer Verführung unbekümmert: Inbegriff des Scheins. Der Krieg mag der Vater aller Dinge sein, Helena ist die Mutter des größten Kriegs, ein Phantasma, um das er geführt wurde. Unbestraft kehrt sie aus ihm zurück nach Sparta, als wäre nichts geschehen. Grieco erwägt anhand der "Verteidigung Helenas", einer glanzvollen Schrift des Rhetorikers Gorgias, wer in der Geschichte Helenas wem Gewalt angetan hat und wer wen verführte.
Phädra ist wie ihre Schwester im Scheine ein Instrument der Aphrodite. Sie weiß davon, aber das hilft ihr nicht. Ihr gegenüber steht ein Mann, der, anders als der Trojanerplayboy Paris Helena, sie gerade nicht haben will, was sie zusätzlich zu ihrem moralischen Konflikt in die Verzweiflung treibt. Hyppolyt ist geradezu frauenfeindlich. Alle Weiber sind ihm verdorben. Hätte denn, fragt er, das Problem der menschlichen Fortpflanzung nicht anders gelöst werden können, und er denkt sich bei Euripides sogar so etwas wie Leihmütter aus, mit denen die Herren nicht wohnen müssen.
Phädra nimmt den Misogynen mit in ihren schon geplanten Selbstmord, "damit er lernt, nicht stolz auf meine Not herabzusehen". Die Not ihres Geschlechts, daran lässt Grieco keinen Zweifel, ist hier mitgemeint. Sie will den, der sie verschmähte und für den sie nur ein Fall ihres Geschlechts war, Einsicht in die Verletzlichkeit und die Passion lehren. Dazu erfindet sie, von ihm vergewaltigt worden zu sein, woraufhin ihn die Rache seines Vaters ereilt: "Tod hieß der Gott, dem meine Bitten galten."
Für Agnese Grieco ist die Geschichte der Phädra eine über die Rolle des Eros in der griechischen Gesellschaft, ihres Begriffs des "Hauses", das unter männlicher Vorherrschaft steht, und ihrer Begründungen für diese Überlegenheit der Männer. Athen hat seinen Namen nach einer Göttin, die aber nicht von einer Mutter geboren wurde. Die Zeugung selbst wurde nicht als etwas Gemeinschaftliches, Geteiltes verstanden, sondern als Gabe, die Frauen von Männern erhalten. Ein Blick in Platons schreckliche Vorstellungen von der Sexualordnung in der perfekten Polis und in die gynäkokratische Komödie des Aristophanes, "Frauenvolksversammlung", in der radikale sexuelle Gerechtigkeit durchgesetzt werden soll, bilden das vorletzte Kapitel des Buches.
Das letzte wendet sich der Nachgeschichte des griechischen Dramas zu. Bei Seneca träumt Phädra davon, Witwe zu werden, weil das den Weg zu Hyppolyt von ihrer Seite aus freimachen würde. Den Rest soll Verführung bewirken. Die philosophischen Fragen treten zurück, das Stück gibt sich ganz den dunklen Phantasien der vor Liebe Rasenden hin. Hier weiß sie nicht mehr, was sie sagt, wenn sie, nach römischem Recht, einen Inzest mit dem Stiefsohn begehen will, den es aber mehr in die Waldeinsamkeit zieht.
Agnese Grieco hat einen klugen, ungemein gedankenanregenden und sehr lebendigen Essay geschrieben. Zu wünschen übrig lässt er nur einen Kommentar zu Racines Fassung. Am Ende, wenn es um Ovids Phädra geht, pressiert das Buch ein wenig, für die Zeit nach Ovid belässt es die Autorin bei der Diagnose, Phädra sei in ihr verstummt. Ob das auch für die Versionen gilt, die Marina Zwetajewa und Sarah Kane von Phädra vorgelegt haben, kann diskutiert werden, und es bleibt außerdem die Frage nach den Gründen für dieses Verstummen. Doch es wäre ungerecht, von einem kleinen Buch, das so viele Gedanken entwickelt hat, die Beantwortung aller Fragen zu seinem Stoff zu verlangen. JÜRGEN KAUBE
Agnese Grieco: "Phädras Ehre".
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022, 218 S.,
br., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sollte wirklich das Wissen um das Gute reichen, damit das Handeln ihm folgt? Agnese Grieco legt eine schmale, überaus gedankenreiche Studie zur tragischen Figur der Phädra vor, in der nicht zuletzt die Rolle des Eros und die Herrschaft der Männer in der griechischen Gesellschaft beleuchtet wird.
Es gibt eine ganze Reihe griechischer Frauenmythen, die bis in unsere Zeit hineinstrahlen. Wir kennen Penelope, die sehr lange auf Odysseus wartete, und wir kennen den Zweifel, wie treu sie ihm war. Berühmt ist Antigone, die sich weigerte, dem politischen Befehl zu gehorchen, weil sie ein höheres oder besser: tieferes Recht kannte als das des Gemeinwesens, das Recht der Familie. Berühmt ist auch Medea, die, wildgeworden aus enttäuschter Liebe, die schrecklichsten Folgerungen der Rache zog. Und Iphigenie, die geopfert werden sollte und, nachdem sie überlebt hatte, ihre ganze Energie darauf verwandte, dass das Opfern aufhören möge. Von Helena, die das große Opfern auslöste, ganz zu schweigen.
Aber wer kennt Phädra, griechisch "die Strahlende"? Euripides hat eine Tragödie über sie geschrieben, aber die trägt einen männlichen Namen: "Der kranztragende Hyppolytos". Über Seneca wird die Geschichte ihres Verliebtseins in den Stiefsohn Hyppolyt, der nichts von ihr wissen will und den sie deshalb lügnerisch denunziert, woraufhin er von einem Seeungeheuer getötet wird, das sein Vater Theseus herbeigerufen hat, weiter überliefert. Jean Racine schreibt 1677 sein letztes Antiken-Drama über sie. Schiller übersetzt das Stück und distanziert sich zugleich: "Nicht Muster darf uns zwar der Franke werden: / Aus seiner Kunst spricht kein lebend'ger Geist". Den Lesern Shakespeares war Racine vor allem Gips, bestenfalls Marmor. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die posenreiche, wie in einem Grabmal spielende "Phädra" in der Übersetzung von Simon Werle, die Peter Stein im Jahr 1987 auf die Schaubühne brachte, mit Jutta Lampe als Titelheldin.
Wenn Phädra, trotz mehrerer Theaterstücke und Opern, die ihr galten, nicht zu einer einprägsamen Figur unseres Mythenschatzes geworden ist, dann ist das vorliegende Buch ein Versuch, das zu ändern. Die italienische Autorin und Regisseurin Agnese Grieco hat auf Deutsch eine wundervolle Studie über ihre Heldin geschrieben. Sie fließt geradezu über an Gedanken, was es mit dieser Frau auf sich hat. Der Stil der Studie bewegt sich zwischen einer literaturgeschichtlichen Untersuchung, einem philosophischen Essay und Skizzen zu einer Inszenierung des Dramas, mit an den Rand des Textes geschriebenen Ausrufezeichen.
In seinem Zentrum steht die Frage danach, ob wir mehr als die Erkenntnis des Guten benötigen, um gut zu handeln. Phädra quält sich mit ihrer unausgesprochenen Liebe zum Stiefsohn, weil ihr das Verbot des Ehebruchs bewusst ist. Sie will ihren Kindern eine vorbildliche Mutter, dem Hof eine vorbildliche Königin sein, und so geht das nicht. Aber weshalb heißen die verbotene wie die erlaubte Liebe dann beide "Liebe"? Macht das untersagte Begehren Phädra zu einer Nutte, wie sie Aischylos in "Die Frösche" von Aristophanes nennt? Wohl schon deshalb nicht, weil das Objekt ihres Begehrens der keusche Hyppolyt ist, an dem die Liebesgöttin Aphrodite, die auch schon am Trojanischen Krieg schuld war, sich seiner Abstinenz und übertriebenen Artemis-Verehrung wegen rächen möchte. Deshalb steckt sie das Herz der Königin in Brand.
"Rein sind meine Hände", sagt diese, "doch befleckt mein Sinn." Sie wird den Gedanken an den Stiefsohn nicht mehr los. Grieco findet die gute Formulierung, Phädra sei das Gegenteil des Ödipus, denn sie wisse alles. Nicht also der mit Blindheit geschlagene Mensch wird hier zum Spielball des Schicksals, sondern der um das Gute wissende, der nur nicht danach handeln möchte, weil sein Begehren seinem Wissen entgegensteht. Phädra spricht auf der Bühne mit dem Frauenchor über dieselben Fragen, die Platon in seinem "Protagoras" aufwirft: Ist das Gute eine Erkenntnis? "Gibt es ein ethisches Können?" (Grieco) Muss nicht zum Begreifen auch noch ein Wollen hinzukommen? Platon verneint das, mit Phädra müsste man hingegen sagen, dass uns die Vernunft allein nicht aus den mythischen Verstrickungen herauslösen wird.
Ihr anderer Gegenpol ist die Amme, der sie bei Euripides wie Racine ihre ausweglose Lage mitteilt. Denn die Amme rät ihr im Sinne der Sophisten, die Sache ihrer Leidenschaft nicht so schwer zu nehmen und sich weder in das Tugendideal noch in die Passion zu verbeißen. Die Amme könnte heute als Familientherapeutin dargestellt werden. Dann aber wäre es keine Tragödie. Phädra strebt an, was ihr als griechischer Königin versagt ist: einen Rollenwechsel, sie will heraus aus ihrer Haut, aus dem Palast. Ihre Fixiertheit ganz darauf konnte Euripides aus der mythischen Figur heraus plausibel machen, denn Phädra schleppt, anders als viele ihrer Artgenossinnen, keine Verwandtschaftslasten, keine Schuld und keinen alten Verrat mit sich, war keine Kriegsbeute, ist nicht die Schwester von Heroen. Es ragt wenig Vergangenheit in ihre Geschichte hinein.
Dennoch vergleicht Agnese Grieco sie mit einer anderen mythischen Figur: Helena. "Jedermann verhasst", sagt diese über sich selbst bei Euripides. Sie ist die sexuelle Attraktion schlechthin, wortkarg und schamlos, um die politischen Folgen ihrer Verführung unbekümmert: Inbegriff des Scheins. Der Krieg mag der Vater aller Dinge sein, Helena ist die Mutter des größten Kriegs, ein Phantasma, um das er geführt wurde. Unbestraft kehrt sie aus ihm zurück nach Sparta, als wäre nichts geschehen. Grieco erwägt anhand der "Verteidigung Helenas", einer glanzvollen Schrift des Rhetorikers Gorgias, wer in der Geschichte Helenas wem Gewalt angetan hat und wer wen verführte.
Phädra ist wie ihre Schwester im Scheine ein Instrument der Aphrodite. Sie weiß davon, aber das hilft ihr nicht. Ihr gegenüber steht ein Mann, der, anders als der Trojanerplayboy Paris Helena, sie gerade nicht haben will, was sie zusätzlich zu ihrem moralischen Konflikt in die Verzweiflung treibt. Hyppolyt ist geradezu frauenfeindlich. Alle Weiber sind ihm verdorben. Hätte denn, fragt er, das Problem der menschlichen Fortpflanzung nicht anders gelöst werden können, und er denkt sich bei Euripides sogar so etwas wie Leihmütter aus, mit denen die Herren nicht wohnen müssen.
Phädra nimmt den Misogynen mit in ihren schon geplanten Selbstmord, "damit er lernt, nicht stolz auf meine Not herabzusehen". Die Not ihres Geschlechts, daran lässt Grieco keinen Zweifel, ist hier mitgemeint. Sie will den, der sie verschmähte und für den sie nur ein Fall ihres Geschlechts war, Einsicht in die Verletzlichkeit und die Passion lehren. Dazu erfindet sie, von ihm vergewaltigt worden zu sein, woraufhin ihn die Rache seines Vaters ereilt: "Tod hieß der Gott, dem meine Bitten galten."
Für Agnese Grieco ist die Geschichte der Phädra eine über die Rolle des Eros in der griechischen Gesellschaft, ihres Begriffs des "Hauses", das unter männlicher Vorherrschaft steht, und ihrer Begründungen für diese Überlegenheit der Männer. Athen hat seinen Namen nach einer Göttin, die aber nicht von einer Mutter geboren wurde. Die Zeugung selbst wurde nicht als etwas Gemeinschaftliches, Geteiltes verstanden, sondern als Gabe, die Frauen von Männern erhalten. Ein Blick in Platons schreckliche Vorstellungen von der Sexualordnung in der perfekten Polis und in die gynäkokratische Komödie des Aristophanes, "Frauenvolksversammlung", in der radikale sexuelle Gerechtigkeit durchgesetzt werden soll, bilden das vorletzte Kapitel des Buches.
Das letzte wendet sich der Nachgeschichte des griechischen Dramas zu. Bei Seneca träumt Phädra davon, Witwe zu werden, weil das den Weg zu Hyppolyt von ihrer Seite aus freimachen würde. Den Rest soll Verführung bewirken. Die philosophischen Fragen treten zurück, das Stück gibt sich ganz den dunklen Phantasien der vor Liebe Rasenden hin. Hier weiß sie nicht mehr, was sie sagt, wenn sie, nach römischem Recht, einen Inzest mit dem Stiefsohn begehen will, den es aber mehr in die Waldeinsamkeit zieht.
Agnese Grieco hat einen klugen, ungemein gedankenanregenden und sehr lebendigen Essay geschrieben. Zu wünschen übrig lässt er nur einen Kommentar zu Racines Fassung. Am Ende, wenn es um Ovids Phädra geht, pressiert das Buch ein wenig, für die Zeit nach Ovid belässt es die Autorin bei der Diagnose, Phädra sei in ihr verstummt. Ob das auch für die Versionen gilt, die Marina Zwetajewa und Sarah Kane von Phädra vorgelegt haben, kann diskutiert werden, und es bleibt außerdem die Frage nach den Gründen für dieses Verstummen. Doch es wäre ungerecht, von einem kleinen Buch, das so viele Gedanken entwickelt hat, die Beantwortung aller Fragen zu seinem Stoff zu verlangen. JÜRGEN KAUBE
Agnese Grieco: "Phädras Ehre".
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022, 218 S.,
br., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main