Produktdetails
- Verlag: Europäische Verlagsanstalt
- Seitenzahl: 414
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 655g
- ISBN-13: 9783810801845
- Artikelnr.: 24562759
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2022Heilige Dinge kauft man doch nicht
Eine ethnographische Initiation besonderer Art: Michel Leiris' Feldtagebuch der Expedition von Dakar nach Djibouti in einer exzellenten neuen deutschen Ausgabe.
Als die Debatte über die Rückgabe von afrikanischen Objekten, die ihren Weg in europäische Museen zu Zeiten kolonialer Unternehmungen gefunden hatten, vor einigen Jahren Fahrt aufnahm, kam gleich ein berühmtes Buch ins Spiel. Es war auch naheliegend, in diesen Diskussionen auf "L'Afrique fantôme" hinzuweisen, Michel Leiris' 1934 veröffentlichtes Feldtagebuch, das er als Mitglied einer knapp zwei Jahre dauernden französischen ethnographischen Expedition quer durch das subsaharische Afrika von Dakar nach Djibouti verfasst hatte. Offen wird da geschildert, wie die Expedition, die vor allem für das neu zu gestaltende Ethnologische Museum in Paris sammelte, ihre zuletzt über 3500 Objekte anhäufte. Es wurde aufgekauft, was irgendwie interessant erschien, und es wurde auch gepresst und geklaut, wo selbst mit mehr oder minder erzwungenen Verkäufen nicht durchzukommen war. Letzteres betraf vor allem Gegenstände, die für die kolonisierten Einheimischen hohen Ritual- und Sakralwert hatten.
Wohl am bekanntesten wurde die Schilderung der Entwendung solcher heiligen Objekte bei den Dogon im westlichen Französisch-Sudan (heute Mali). Leiris, der dezidierte linke Antikolonialist, ist da selbst mit von der Partie, wie in anderen Fällen auch, um diese Stücke einzusacken. Gar nicht unbedingt deshalb, weil ihm der hehre wissenschaftliche Sammlungszweck die Mittel zu heiligen scheint - obwohl auch das offizielle Argument der Rettung von Zeugnissen bald ausgelöschter kultureller Praktiken zum Zug kommt -, sondern weil er in einer merkwürdigen Gegenrechnung das mit dem Raub begangene Sakrileg als angemessene Inbesitznahme von sakralen Gegenständen empfindet, "die zu kaufen", wie er in einem Brief schreibt, "tausendmal schmählicher wäre, als sie zu stehlen".
Womit man schon bei den Eigenheiten dieses Autors ist, der gerade dreißig Jahre alt geworden war, als er als Sekretär und Archivar der Expedition Dakar-Djibouti nach Afrika aufbrach: ein noch junger Schriftsteller, von der surrealistischen Bewegung geprägt, großbürgerlicher Kommunist schon damals, Verächter Europas und seiner zivilisatorischen Parolen, begeistert dafür von schwarzem Tanz und Jazz, noch kein Ethnologe, aber ethnologische Literatur als Mittel ergreifend, das bleiche Europa genauso hinter sich zu lassen wie eine als uneigentlich und bloß literarisch empfundene, auf Imagination und Wortkunst bauende persönliche Existenz, vor der es ihm ekelt.
Also nicht unbedingt ein Mann, den man als Archivar und Sekretär einer solchen Expedition in staatlichem Auftrag erwartet. Aber da kam ins Spiel, dass die Ethnographie in Frankreich institutionell noch wenig gefestigt war, was wiederum die für sie typischen Verknüpfungen mit dem literarisch-künstlerischen Feld förderte - und von ihnen profitierte der junge Leiris, der wohl über seine Tätigkeit als Redakteur der avantgardistischen Zeitschrift "Documents", die auch Ethnographisches im Programm hatte, um den bloß schönen Künsten zuzusetzen, Anschluss an die Organisatoren des Ethnologischen Museums fand, aus dem 1937 dann, Vorzeigeprojekt des Front Populaire, das Musée de l'Homme wurde.
Was mit "Phantom Afrika" aus dieser Konstellation hervorging, ist ein hervorstechendes Stück Bekenntnisliteratur - Rousseau ist für Leiris ein verehrter Pate - und gleichzeitig ein Dokument zu Selbstverständnis und Praxis dieser französischen Ethnographie der Vorkriegsjahre. Vor allem Ersteres geht freilich einer Wahrnehmung verloren, die den Text lediglich als Zeugnis für den kolonialen Raub von Kunst- und Kulturgütern heranzieht.
Irene Albers merkt das zu Recht im Vorwort zu der von ihr betreuten neuen Ausgabe von "Phantom Afrika" an. Die Berliner Romanistik-Professorin, als Kennerin von Leiris und seines Umfelds bestens ausgewiesen, hat nicht nur erreicht, dass das seit geraumer Zeit vergriffene Buch - 1980/84 noch mitten im "Ethnoboom" bei Syndikat erschienen, ein Jahr später von Suhrkamp übernommen - wieder aufgelegt wurde. Es ist vielmehr, auf den Spuren inzwischen erschienener französischer Editionen, eine bedeutend erweiterte Ausgabe geworden.
Zur revidierten Übersetzung kommen nun in den Marginalspalten Auszüge aus Briefen, die Leiris in Afrika schrieb, dazu seine eigenen Anmerkungen zu den französischen Ausgaben. Die Anmerkungen der Herausgeberin verarbeiten zusätzlich Quellen wie Logbuch, Agenda, Listen und Karteiblätter der Expedition, samt Abgleich der von Leiris erwähnten Objekte mit den Beständen im heutigen Musée Quai Branly, erläutern bündig die kolonialen Konstellationen, mit denen es die Expedition zu tun bekam, und verweisen auf später erschienene Texte von Leiris. Ein stattlicher Anhang präsentiert zudem Texte rund um die Expedition, in der Mehrzahl von Leiris selbst - von einer Ankündigung 1930 bis zum Waschzettel der späten Ausgabe von "Phantom Afrika" 1981 -, aber etwa auch die Gesetzesvorlage, die eigens für sie 1931 im Palais Bourbon auf den Weg gebracht wurde. Der Kontrast ist schlagend zwischen den im parlamentarischen Antrag formulierten Zielsetzungen einer "Ethnologie der primitiven Völker" - als Beitrag zum "Studium des vor- und frühgeschichtlichen Menschen" - und Leiris' Erwartung, der präformierenden "weißen Mentalität", die in solcher Abdrängung der kolonisierten Indigenen in eine Vorgeschichte mit exotischem Reiz zum Ausdruck kommt, gerade zu entkommen.
Die Herausgeberin verdient großes Lob für diese Edition, die sich neben den kommentierten französischen Ausgaben dieses kanonischen Texts behaupten kann, sie an einigen Stellen sogar ergänzt. Und auch der Verlag ist zu loben, der immerhin sein in den späten Siebzigerjahren entworfenes Logo dem 1933 erschienenen Expeditionsbericht in einem Heft der Zeitschrift "Minotaure" verdankt: eine kopierte Felszeichnung der Dogon, mit der sowohl auf den dissidenten Surrealisten Leiris verwiesen war wie auf die ethnographische Komponente der Avantgarde.
Dass Leiris' Text ein "Zeugnis der Widersprüche kolonialistischer Ethnographie" sei, wie es auf dem Buchrücken eingeprägt steht, formuliert allerdings zu viel und zu wenig in einem. Zum einen kann man kaum von "der" kolonialistischen Ethnographie sprechen, zum anderen sind die ganz konkreten Widersprüche, die in "Phantom Afrika" ausgetragen werden, zu keinem kleinen Teil erst einmal solche von Leiris, selbst wenn sie sich von objektiven Widersprüchen seiner damaligen Position nicht abtrennen lassen. Es ist nicht "die Ethnographie", die sich in das Protokollieren von Beschneidungsritualen und dann immer mehr von Besessenheitskulten stürzt, sondern der ethnologische Lehrling Leiris, der sich auf dieses Unternehmen einlässt, weil er die Hoffnung auf eine persönliche Verwandlung hegt - eine Hoffnung, die er freilich selbst von Anfang an misstrauisch hin und her wendet.
"Phantom Afrika" ist rückblickend der Auftakt für die autobiographischen Texte, mit denen Leiris dann nicht zuletzt zu seinem Rang als Autor kam; als "Sonntagsschriftsteller", wie er es später formulierte, der aus der Ethnologie nach seiner Rückkehr aus Afrika als Leiter der Afrika-Abteilung des Musée de l'Homme einen soliden, ihn mit seinen Routinen sichernden Beruf gemacht hatte. Verglichen mit den späteren ethnographischen Ausarbeitungen seiner während der Expedition begonnenen Feldforschungen, fällt der Text zwar ins literarische Fach. Doch die tiefe Aversion gegen Romanhaftes, gegen das mehr oder minder literarisierende Reise-, sprich Abenteuerbuch steht hinter der Entscheidung, die Aufzeichnungen weitgehend unbearbeitet zum Druck einzurichten.
In dieser Form enthalten sie keine einfache Lektion. Auch jene nicht, die hervorzuheben Leiris manchmal neigte, nämlich die der Einsicht, dass es mit der Verwandlung, dem Loskommen von den Prägungen eben nichts wird, dass der Zurückkehrende also zumindest "einen Mythos umgebracht (hatte), jenen der Reise als Mittel des Ausbruchs". "Phantom Afrika" ist nicht einfach eine solche Ernüchterung, sondern viel eher eine Folge von Auf- und Abschwüngen, von immer wieder geweckten Erwartungen - in sakral gesättigte Lebenswelten und poetische Weltverhältnisse einzudringen, Geheimnissen auf die Spur zu kommen - und ihrer skeptischen Einklammerung; nicht einmal als ethnographische Lehrjahre, die Leiris hier zweifellos hinter sich brachte - Praktiken der Feldforschung verwünschend und gleichzeitig vertiefend -, lassen sie sich ohne Weiteres lesen.
Aber ob man diese Aufzeichnungen nun mehr mit Fokus auf Leiris liest oder eher als Dokument, das dieses "journal intime" durch seine Ungeschminktheit auch wurde - man kann es nun in einer deutschen Ausgabe tun, die man nicht mehr erwartet hatte. HELMUT MAYER
Michel Leiris: "Phantom Afrika".
Hrsg. von Irene Albers. Aus dem Französischen von R. Wintermeyer und T. Trzaskalik. Nachwort von H.-J. Heinrichs. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 968 S., Abb., geb., 68,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine ethnographische Initiation besonderer Art: Michel Leiris' Feldtagebuch der Expedition von Dakar nach Djibouti in einer exzellenten neuen deutschen Ausgabe.
Als die Debatte über die Rückgabe von afrikanischen Objekten, die ihren Weg in europäische Museen zu Zeiten kolonialer Unternehmungen gefunden hatten, vor einigen Jahren Fahrt aufnahm, kam gleich ein berühmtes Buch ins Spiel. Es war auch naheliegend, in diesen Diskussionen auf "L'Afrique fantôme" hinzuweisen, Michel Leiris' 1934 veröffentlichtes Feldtagebuch, das er als Mitglied einer knapp zwei Jahre dauernden französischen ethnographischen Expedition quer durch das subsaharische Afrika von Dakar nach Djibouti verfasst hatte. Offen wird da geschildert, wie die Expedition, die vor allem für das neu zu gestaltende Ethnologische Museum in Paris sammelte, ihre zuletzt über 3500 Objekte anhäufte. Es wurde aufgekauft, was irgendwie interessant erschien, und es wurde auch gepresst und geklaut, wo selbst mit mehr oder minder erzwungenen Verkäufen nicht durchzukommen war. Letzteres betraf vor allem Gegenstände, die für die kolonisierten Einheimischen hohen Ritual- und Sakralwert hatten.
Wohl am bekanntesten wurde die Schilderung der Entwendung solcher heiligen Objekte bei den Dogon im westlichen Französisch-Sudan (heute Mali). Leiris, der dezidierte linke Antikolonialist, ist da selbst mit von der Partie, wie in anderen Fällen auch, um diese Stücke einzusacken. Gar nicht unbedingt deshalb, weil ihm der hehre wissenschaftliche Sammlungszweck die Mittel zu heiligen scheint - obwohl auch das offizielle Argument der Rettung von Zeugnissen bald ausgelöschter kultureller Praktiken zum Zug kommt -, sondern weil er in einer merkwürdigen Gegenrechnung das mit dem Raub begangene Sakrileg als angemessene Inbesitznahme von sakralen Gegenständen empfindet, "die zu kaufen", wie er in einem Brief schreibt, "tausendmal schmählicher wäre, als sie zu stehlen".
Womit man schon bei den Eigenheiten dieses Autors ist, der gerade dreißig Jahre alt geworden war, als er als Sekretär und Archivar der Expedition Dakar-Djibouti nach Afrika aufbrach: ein noch junger Schriftsteller, von der surrealistischen Bewegung geprägt, großbürgerlicher Kommunist schon damals, Verächter Europas und seiner zivilisatorischen Parolen, begeistert dafür von schwarzem Tanz und Jazz, noch kein Ethnologe, aber ethnologische Literatur als Mittel ergreifend, das bleiche Europa genauso hinter sich zu lassen wie eine als uneigentlich und bloß literarisch empfundene, auf Imagination und Wortkunst bauende persönliche Existenz, vor der es ihm ekelt.
Also nicht unbedingt ein Mann, den man als Archivar und Sekretär einer solchen Expedition in staatlichem Auftrag erwartet. Aber da kam ins Spiel, dass die Ethnographie in Frankreich institutionell noch wenig gefestigt war, was wiederum die für sie typischen Verknüpfungen mit dem literarisch-künstlerischen Feld förderte - und von ihnen profitierte der junge Leiris, der wohl über seine Tätigkeit als Redakteur der avantgardistischen Zeitschrift "Documents", die auch Ethnographisches im Programm hatte, um den bloß schönen Künsten zuzusetzen, Anschluss an die Organisatoren des Ethnologischen Museums fand, aus dem 1937 dann, Vorzeigeprojekt des Front Populaire, das Musée de l'Homme wurde.
Was mit "Phantom Afrika" aus dieser Konstellation hervorging, ist ein hervorstechendes Stück Bekenntnisliteratur - Rousseau ist für Leiris ein verehrter Pate - und gleichzeitig ein Dokument zu Selbstverständnis und Praxis dieser französischen Ethnographie der Vorkriegsjahre. Vor allem Ersteres geht freilich einer Wahrnehmung verloren, die den Text lediglich als Zeugnis für den kolonialen Raub von Kunst- und Kulturgütern heranzieht.
Irene Albers merkt das zu Recht im Vorwort zu der von ihr betreuten neuen Ausgabe von "Phantom Afrika" an. Die Berliner Romanistik-Professorin, als Kennerin von Leiris und seines Umfelds bestens ausgewiesen, hat nicht nur erreicht, dass das seit geraumer Zeit vergriffene Buch - 1980/84 noch mitten im "Ethnoboom" bei Syndikat erschienen, ein Jahr später von Suhrkamp übernommen - wieder aufgelegt wurde. Es ist vielmehr, auf den Spuren inzwischen erschienener französischer Editionen, eine bedeutend erweiterte Ausgabe geworden.
Zur revidierten Übersetzung kommen nun in den Marginalspalten Auszüge aus Briefen, die Leiris in Afrika schrieb, dazu seine eigenen Anmerkungen zu den französischen Ausgaben. Die Anmerkungen der Herausgeberin verarbeiten zusätzlich Quellen wie Logbuch, Agenda, Listen und Karteiblätter der Expedition, samt Abgleich der von Leiris erwähnten Objekte mit den Beständen im heutigen Musée Quai Branly, erläutern bündig die kolonialen Konstellationen, mit denen es die Expedition zu tun bekam, und verweisen auf später erschienene Texte von Leiris. Ein stattlicher Anhang präsentiert zudem Texte rund um die Expedition, in der Mehrzahl von Leiris selbst - von einer Ankündigung 1930 bis zum Waschzettel der späten Ausgabe von "Phantom Afrika" 1981 -, aber etwa auch die Gesetzesvorlage, die eigens für sie 1931 im Palais Bourbon auf den Weg gebracht wurde. Der Kontrast ist schlagend zwischen den im parlamentarischen Antrag formulierten Zielsetzungen einer "Ethnologie der primitiven Völker" - als Beitrag zum "Studium des vor- und frühgeschichtlichen Menschen" - und Leiris' Erwartung, der präformierenden "weißen Mentalität", die in solcher Abdrängung der kolonisierten Indigenen in eine Vorgeschichte mit exotischem Reiz zum Ausdruck kommt, gerade zu entkommen.
Die Herausgeberin verdient großes Lob für diese Edition, die sich neben den kommentierten französischen Ausgaben dieses kanonischen Texts behaupten kann, sie an einigen Stellen sogar ergänzt. Und auch der Verlag ist zu loben, der immerhin sein in den späten Siebzigerjahren entworfenes Logo dem 1933 erschienenen Expeditionsbericht in einem Heft der Zeitschrift "Minotaure" verdankt: eine kopierte Felszeichnung der Dogon, mit der sowohl auf den dissidenten Surrealisten Leiris verwiesen war wie auf die ethnographische Komponente der Avantgarde.
Dass Leiris' Text ein "Zeugnis der Widersprüche kolonialistischer Ethnographie" sei, wie es auf dem Buchrücken eingeprägt steht, formuliert allerdings zu viel und zu wenig in einem. Zum einen kann man kaum von "der" kolonialistischen Ethnographie sprechen, zum anderen sind die ganz konkreten Widersprüche, die in "Phantom Afrika" ausgetragen werden, zu keinem kleinen Teil erst einmal solche von Leiris, selbst wenn sie sich von objektiven Widersprüchen seiner damaligen Position nicht abtrennen lassen. Es ist nicht "die Ethnographie", die sich in das Protokollieren von Beschneidungsritualen und dann immer mehr von Besessenheitskulten stürzt, sondern der ethnologische Lehrling Leiris, der sich auf dieses Unternehmen einlässt, weil er die Hoffnung auf eine persönliche Verwandlung hegt - eine Hoffnung, die er freilich selbst von Anfang an misstrauisch hin und her wendet.
"Phantom Afrika" ist rückblickend der Auftakt für die autobiographischen Texte, mit denen Leiris dann nicht zuletzt zu seinem Rang als Autor kam; als "Sonntagsschriftsteller", wie er es später formulierte, der aus der Ethnologie nach seiner Rückkehr aus Afrika als Leiter der Afrika-Abteilung des Musée de l'Homme einen soliden, ihn mit seinen Routinen sichernden Beruf gemacht hatte. Verglichen mit den späteren ethnographischen Ausarbeitungen seiner während der Expedition begonnenen Feldforschungen, fällt der Text zwar ins literarische Fach. Doch die tiefe Aversion gegen Romanhaftes, gegen das mehr oder minder literarisierende Reise-, sprich Abenteuerbuch steht hinter der Entscheidung, die Aufzeichnungen weitgehend unbearbeitet zum Druck einzurichten.
In dieser Form enthalten sie keine einfache Lektion. Auch jene nicht, die hervorzuheben Leiris manchmal neigte, nämlich die der Einsicht, dass es mit der Verwandlung, dem Loskommen von den Prägungen eben nichts wird, dass der Zurückkehrende also zumindest "einen Mythos umgebracht (hatte), jenen der Reise als Mittel des Ausbruchs". "Phantom Afrika" ist nicht einfach eine solche Ernüchterung, sondern viel eher eine Folge von Auf- und Abschwüngen, von immer wieder geweckten Erwartungen - in sakral gesättigte Lebenswelten und poetische Weltverhältnisse einzudringen, Geheimnissen auf die Spur zu kommen - und ihrer skeptischen Einklammerung; nicht einmal als ethnographische Lehrjahre, die Leiris hier zweifellos hinter sich brachte - Praktiken der Feldforschung verwünschend und gleichzeitig vertiefend -, lassen sie sich ohne Weiteres lesen.
Aber ob man diese Aufzeichnungen nun mehr mit Fokus auf Leiris liest oder eher als Dokument, das dieses "journal intime" durch seine Ungeschminktheit auch wurde - man kann es nun in einer deutschen Ausgabe tun, die man nicht mehr erwartet hatte. HELMUT MAYER
Michel Leiris: "Phantom Afrika".
Hrsg. von Irene Albers. Aus dem Französischen von R. Wintermeyer und T. Trzaskalik. Nachwort von H.-J. Heinrichs. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 968 S., Abb., geb., 68,- Euro.
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