Mit seinen Napoleon-Büchern "1812"" und "1815" ist Adam Zamoyski auch in Deutschland zum Bestsellerautor geworden. Nun erzählt der polnisch-britische Historiker, wie nach dem Ende Napoleons aus der Angst der Herrschenden vor Terror und Revolution eine paranoide Politik der Unterdrückung wird. Spannend wie immer schildert Zamoyski das Ringen zwischen den Kräften der Reaktion und der liberalen Bewegung. Und er lässt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite er steht: Auf der Seite der Freiheit. Für die Herrschenden und Besitzenden waren die Jahre nach der Französischen Revolution und Napoleon ein Zeitalter höchster Besorgnis. Die gekrönten Häupter lebten in der permanenten Furcht vor erneuten Rebellionen und waren überzeugt davon, dass ihre Macht auf dem Spiel stand. So entstand eine Politik, die mit einem immer aufwendigeren System von Bespitzelung, Zensur und Repression gegen reale und imaginäre Feinde vorging. Doch das Resultat war anders, als es sich die Mächtigen erhofft hatten. Der Polizeistaat und eine verfehlte Politik brachten - damals wie heute - genau das hervor, was sie verhindern wollten.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Lea Halter liest Adam Zamoyskis Buch über die Angst vor der Revolution und damit einhergehende Verschwörungstheorien mit gemischten Gefühlen. Dem angelsächsischen Ansatz, mit dem sich der Autor an ein breites Publikum wendet, steht sie kritisch gegenüber. Der Verzicht auf Inhaltsverzeichnis und Einleitung scheint ihr nicht zu behagen. Und die "ungerahmte Erzählung" sorgt bisweilen für Orientierungslosigkeit bei der Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2016Die
Phantome
Europas
Ein niederländischer Journalist,
ein britischer Historiker aus bester
polnischer Familie und ein ukrainischer
Schriftsteller zeigen, wie sich auf
klug unterhaltende Weise
über unseren Kontinent erzählen lässt
– jenseits von Identitätskrampf
und Wertehysterie
VON JENS BISKY
Wenn ein Freund spöttisch fragte, was denn nun typisch sei für dieses Europa, käme man in Verlegenheit. Mit den Allgemeinplätzen, der Vielfalt, dem Lernen aus der Geschichte, dem Frieden, will man nicht aufwarten. Der Anblick des Kontinents wie der EU verbietet gegenwärtig jede Selbstfeier. Nach welchen Normen man zusammen und also Europäer ist, wird derzeit neu ausgehandelt – laut, unduldsam, oft grob. Keiner weiß, wie die Neuvermessung des Kontinents ausgehen wird.
Am besten also wäre es, Geschichten zu erzählen. Man könnte mit dem Freund beispielsweise zu Madame Tussauds in Berlin gehen. Da stehen derzeit sechs gut gekleidete Herrenfiguren herum: der Schotte Sean Connery, die Engländer Roger Moore und Daniel Craig, der Waliser Timothy Dalton, der Ire Pierce Brosnan und George Lazenby, der seit seinem 24. Lebensjahr in London wohnt. Alle sechs waren sie James Bond, ein typischer europäischer Held schon deshalb, weil er die Schurken gern an exotischen Schauplätzen erledigt, eine deutsche Pistole benutzt, von einem britischen Schriftsteller erfunden wurde und sich auf einer Insel am Rande Europas zuhause fühlt. Europäer wohl auch in seiner Mischung aus Prinzipientreue (geschüttelt, nicht gerührt), Einfallsreichtum und Stilempfinden. Bond ist, wenn man so will, ein Urenkel des Odysseus unter den Bedingungen des zerfallenen Empires.
Und er hat in den letzten Filmen eine für Europa nicht untypische Entwicklung durchlaufen. Die Verhaltenssicherheit aus den Zeiten des Kalten Krieges ist dahin, die Melancholie größer, die eigenen Leute bereiten ebenso viele Schwierigkeiten wie die Schurken. Bonds Welt ist britischer geworden und der Dienst zu einer Art Ersatzfamilie mit „M“ an der Spitze.
Man könnte auf der Suche nach dem typisch Europäischen auch erzählen, dass in der Ukraine über Rumänien gern schlecht geredet wird. Wobei jeder annimmt, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Das dürfte an der erheblichen Ähnlichkeit liegen, an der hier wie da anzutreffenden Mischung aus Armut, Korruption und wildem Nationalstolz. Es ist das Gemeinsame, das trennt und einen Narzissmus der kleinsten Differenz befördert.
Wahrscheinlich gehört auch die Übertreibung von Bagatellen aus Diensteifer zu Europa. In Paris, so wird berichtet, forderten nach Napoleons endgültiger Niederlage bei Waterloo zwei wachsame Polizeiagenten einen Soldaten, der einst in der Grande Armeé gedient hatte, zum Trinken auf. Der Wein schmeckte, sie schwärmten von früher und unterschrieben einen Eid, füreinander und die wahre Freiheit zu sterben. Der arme Ex-Soldat wurde festgenommen und wegen Umsturzplänen zu langer Haft verurteilt. Die Szene könnte aus einem Roman von Dumas oder Balzac stammen, hat sich aber tatsächlich ereignet. Politik mit Fiktionen zu machen, den Fakten notfalls nachzuhelfen, scheint auch eine europäische Tradition.
Über den bezaubernden Helden James Bond informiert der Kulturführer „Typisch Europa“ des niederländischen Journalisten Pieter Steinz. Der leidenschaftliche Kritiker starb im August dieses Jahres an den Folgen von ALS. Sein Buch, in den Niederlanden ein großer Erfolg, stellt in 100 Stationen europäische Kunstwerke und Kulturprodukte vor, die in ganz Europa bekannt sind. Das reicht von Homer bis zum Minirock, von Shakespeare bis zum Zauberwürfel. Steinz verfährt dabei rein affirmativ, und doch gelingt ein lebendiges Panorama der europäischen Kultur, riecht es nie muffig oder anbiedernd auf diesem tollkühnen Parcours. James Bond führt unverzüglich zur Femme fatale. In diesem typisch europäischen Erfahrungsraum ist alles möglich, außer Festschreibung eines Zustands, außer Beharrung, Sich-Einigeln.
Vom Eifer der französischen Polizeiagenten berichtet der Historiker Adam Zamoyski, der aus einer der vornehmsten polnischen Adelsfamilien stammt und in London lebt. In „Phantome des Terrors“ schildert er, wie die gekrönten Häupter Europas nach dem Schock der Französischen Revolution und den Schlachten der Napoleonischen Kriege den „Schwindelgeist“ der Freiheit unter Kontrolle zu bringen versuchten. In diesen Jahren entstand die politische Polizei; Bespitzelung, Repression und Zensur bedienten sich zunehmend ausgeklügelter Verfahren. Am Ende standen dennoch die Revolutionen von 1848 und ihr zwiespältiges Erbe von Freiheitsstreben, Demokratieverlangen und nationalistischer Überspannung.
Warum die Ähnlichkeiten Ukrainer und Rumänen in wechselseitiger Abneigung vereinen, kann man unter „Bukarest“ in Juri Andruchowytschs „Kleinem Lexikon intimer Städte“ nachlesen. Es will als „Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik“ genutzt werden. Viele Motive aus dem Werk des ukrainischen Schriftstellers, der 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren wurde, sind hier neu zusammengestellt, aktualisiert zu einem radikal subjektiven Bild Europas und einiger weniger amerikanischer Städte. Das Gemeinsame, schreibt Andruchowytsch in Lemberg, der Stadt, in der er studierte, käme am besten in einer Art Roman zum Ausdruck, der davon handeln müsste, „wie seltsame metaphysische Kaufleute, die in einer Art universellem Lemberger Wirtshaus zusammensitzen, der Reihe noch von fernen Welten erzählen. Sie bilden einen Kreis, und wer dran ist, greift ein Motiv aus der Erzählung des Vorgängers auf, Hauptsache, die Kette von Erzählungen wird nicht unterbrochen“.
Die öffentliche Rede über den Kontinent scheint seit längerem in Wiederholungen erstarrt, in der Verkrampfung nähern sich Anti-Europäer und Verteidiger einer europäischen Einigung einander an: Europa geht immerzu unter, steht jeden Morgen wieder vor der entscheidenden Krise. Werte werden beschworen, Identitäten gefordert. Christentum, Aufklärung, Vaterländer, Abendland. Doch selbst eine 24-stündige Voltaire-Lesung in der Peterskirche würde nichts daran ändern, dass politische Probleme politisch, ökonomische politökonomisch gelöst werden müssen. Gewiss könnte in einem guten metaphysischen Wirtshausroman auch einer auftreten, der sich am Sollen und an Postulaten berauscht. Die Selbstverständlichkeit Europas aber beginnt jenseits von Identitätswahn und Wertehysterie.
Die politische Imagination, der Diskurs in Europa ist von Vorstellungen vergiftet, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben, die Entwicklung behindern und es erschweren, Probleme angemessen zu bearbeiten – dies ist das Fazit von Adam Zamoyskis ausgreifender Studie über die politische Kultur jener Jahre zwischen Französischer Revolution und Völkerfrühling. Damals entstand das moderne Europa – mit seinen Nationalismen, mit Regierungen, die zusammenarbeiteten, um den status quo aufrecht zu erhalten, mit Massen, deren Interessen und Stimmungen nicht länger ignoriert werden konnten. Politischer Terror wurde ein Teil des Alltags.
Aber nicht die vielen Geschichten über Geheimpolizisten, die förderten oder gar selber schufen, was sie bekämpfen sollten, sorgen für die beunruhigende Aktualität dieser Studie. Hier lässt sich Schritt für Schritt, vom London Pitts und Wellingtons über Metternichs Wien, das zerrissene Italien, das geknechtete Polen bis hin ins Reich der Zaren Alexander und Nikolaus, nachvollziehen, wie die Regierenden sich selber fesselten. Sie beschworen eine Bedrohung, für die Belege fehlten, glaubten bald selbst daran, dass hinter Unruhen und Unzufriedenheiten Geheimorganisationen steckten, wahrscheinlich ein zentrales Komitee mit Sitz – natürlich – in Paris.
Der Sinn für Proportionen, Verhältnismäßigkeit litt, die Fähigkeit, zwischen wichtig und unwichtig, groß und klein zu unterscheiden. 1831 erging ein Ukas, der russischen Studenten das Studium in Frankreich untersagte. Sie gingen an deutsche Universitäten, der französische Einfluss wurde durch Hegel und Marx verdrängt, „was sich auf Dauer als sehr viel gefährlicher für die russische Monarchie herausstellen sollte“. Überhaupt stärkten all die Maßnahmen gegen den Schwindelgeist der Freiheit die radikalen Kräfte.
Am verheerendsten aber, so Zamoyski in einer kecken Schlusswendung, wirkte eine neue, der Einbildung entsprungene Sichtweise auf Politik und Gesellschaft insgesamt: sie wurden fortan als dauernder Kampf zwischen denen da unten und denen da oben verstanden. „Beschworen wurde eine Konstellation der Reichen und Mächtigen in ihren komfortablen Zitadellen, belagert von einer gewalttätigen, anarchischen Masse der Armen und Zukurzgekommenen, unter Führung von tollwütigen Terroristen, die diese Zitadellen stürmen und die Gesellschaftsordnung umstürzen wollen.“ Das ist nicht nur eine Diagnose des 19. Jahrhunderts.
Weder Geschichte noch Kultur taugen als Goldreserve. Aber der Glaube, da liege etwas, auf das man sich verlassen, auf das man zurückgreifen könne, wenn einen die Gegenwart, wie sie es gern tut, überfordert, dieser Glaube ist doch auch typisch für Europa. Er hat etwas Sympathisches, wird ärgerlich, wenn er mit der Weigerung einhergeht, Wirklichkeit wahrzunehmen, die einem zu dicht auf die Pelle rückt. Dann ziehen sich viele ins Gewohnte zurück, graben sich ein an Vergangenheitsfronten.
Andruchowytsch beschreibt dies als „undurchdringliche Wand“. Unsichtbare Wände durchziehen unsere Vorstellungswelt. Was die Seelenruhe zu gefährden droht, verschwindet dahinter: etwa der Heroismus und das Pathos der tragischen Revolutionen in der Ukraine. 2004 ein Mysterium: „die massenhafte Rückkehr der Menschen zum Menschlichen“.
Zehn Jahre später ist die europäische Aufmerksamkeit groß, das Verständnis gering. 21. Februar, Kiew, Maidan, Andruchowytsch wird angerufen aus Deutschland, Polen, Spanien, Tschechien, Dänemark: „Am Vortag hatten sie auf dem Maidan die Himmlische Hundertschaft erschossen. Ich wollte von jenen Erschossenen erzählen und von ihrem, pardon me, Heroismus. Aber die erschossenen Helden interessierten niemanden. Alle interessierten nur die ,Nazis‘, ,ultrarechten Extremisten‘, ,Ultraextraneofaschinazis‘“. Auch das ein typisch europäischer Augenblick.
Pieter Steinz: Typisch Europa. Ein Kulturverführer in 100 Stationen. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Albrecht Knaus Verlag, München 2016. 464 S., 29,99 Euro. E-Book 23, 99 Euro.
Adam Zamoyski: Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit. 1789-1848. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. Verlag C. H. Beck, München 2016. 618 S., 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Juri Andruchowytsch: Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Insel Verlag, Berlin 2016. 416 S., 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Im 19. Jahrhundert wollte man
den „Schwindelgeist“ der Freiheit
unter Kontrolle bringen
Werte werden beschworen in
der Debatte heute – Christentum,
Aufklärung, Abendland
Der Sinn für Proportionen litt,
die Fähigkeit, zwischen wichtig
und unwichtig zu unterscheiden
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Phantome
Europas
Ein niederländischer Journalist,
ein britischer Historiker aus bester
polnischer Familie und ein ukrainischer
Schriftsteller zeigen, wie sich auf
klug unterhaltende Weise
über unseren Kontinent erzählen lässt
– jenseits von Identitätskrampf
und Wertehysterie
VON JENS BISKY
Wenn ein Freund spöttisch fragte, was denn nun typisch sei für dieses Europa, käme man in Verlegenheit. Mit den Allgemeinplätzen, der Vielfalt, dem Lernen aus der Geschichte, dem Frieden, will man nicht aufwarten. Der Anblick des Kontinents wie der EU verbietet gegenwärtig jede Selbstfeier. Nach welchen Normen man zusammen und also Europäer ist, wird derzeit neu ausgehandelt – laut, unduldsam, oft grob. Keiner weiß, wie die Neuvermessung des Kontinents ausgehen wird.
Am besten also wäre es, Geschichten zu erzählen. Man könnte mit dem Freund beispielsweise zu Madame Tussauds in Berlin gehen. Da stehen derzeit sechs gut gekleidete Herrenfiguren herum: der Schotte Sean Connery, die Engländer Roger Moore und Daniel Craig, der Waliser Timothy Dalton, der Ire Pierce Brosnan und George Lazenby, der seit seinem 24. Lebensjahr in London wohnt. Alle sechs waren sie James Bond, ein typischer europäischer Held schon deshalb, weil er die Schurken gern an exotischen Schauplätzen erledigt, eine deutsche Pistole benutzt, von einem britischen Schriftsteller erfunden wurde und sich auf einer Insel am Rande Europas zuhause fühlt. Europäer wohl auch in seiner Mischung aus Prinzipientreue (geschüttelt, nicht gerührt), Einfallsreichtum und Stilempfinden. Bond ist, wenn man so will, ein Urenkel des Odysseus unter den Bedingungen des zerfallenen Empires.
Und er hat in den letzten Filmen eine für Europa nicht untypische Entwicklung durchlaufen. Die Verhaltenssicherheit aus den Zeiten des Kalten Krieges ist dahin, die Melancholie größer, die eigenen Leute bereiten ebenso viele Schwierigkeiten wie die Schurken. Bonds Welt ist britischer geworden und der Dienst zu einer Art Ersatzfamilie mit „M“ an der Spitze.
Man könnte auf der Suche nach dem typisch Europäischen auch erzählen, dass in der Ukraine über Rumänien gern schlecht geredet wird. Wobei jeder annimmt, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Das dürfte an der erheblichen Ähnlichkeit liegen, an der hier wie da anzutreffenden Mischung aus Armut, Korruption und wildem Nationalstolz. Es ist das Gemeinsame, das trennt und einen Narzissmus der kleinsten Differenz befördert.
Wahrscheinlich gehört auch die Übertreibung von Bagatellen aus Diensteifer zu Europa. In Paris, so wird berichtet, forderten nach Napoleons endgültiger Niederlage bei Waterloo zwei wachsame Polizeiagenten einen Soldaten, der einst in der Grande Armeé gedient hatte, zum Trinken auf. Der Wein schmeckte, sie schwärmten von früher und unterschrieben einen Eid, füreinander und die wahre Freiheit zu sterben. Der arme Ex-Soldat wurde festgenommen und wegen Umsturzplänen zu langer Haft verurteilt. Die Szene könnte aus einem Roman von Dumas oder Balzac stammen, hat sich aber tatsächlich ereignet. Politik mit Fiktionen zu machen, den Fakten notfalls nachzuhelfen, scheint auch eine europäische Tradition.
Über den bezaubernden Helden James Bond informiert der Kulturführer „Typisch Europa“ des niederländischen Journalisten Pieter Steinz. Der leidenschaftliche Kritiker starb im August dieses Jahres an den Folgen von ALS. Sein Buch, in den Niederlanden ein großer Erfolg, stellt in 100 Stationen europäische Kunstwerke und Kulturprodukte vor, die in ganz Europa bekannt sind. Das reicht von Homer bis zum Minirock, von Shakespeare bis zum Zauberwürfel. Steinz verfährt dabei rein affirmativ, und doch gelingt ein lebendiges Panorama der europäischen Kultur, riecht es nie muffig oder anbiedernd auf diesem tollkühnen Parcours. James Bond führt unverzüglich zur Femme fatale. In diesem typisch europäischen Erfahrungsraum ist alles möglich, außer Festschreibung eines Zustands, außer Beharrung, Sich-Einigeln.
Vom Eifer der französischen Polizeiagenten berichtet der Historiker Adam Zamoyski, der aus einer der vornehmsten polnischen Adelsfamilien stammt und in London lebt. In „Phantome des Terrors“ schildert er, wie die gekrönten Häupter Europas nach dem Schock der Französischen Revolution und den Schlachten der Napoleonischen Kriege den „Schwindelgeist“ der Freiheit unter Kontrolle zu bringen versuchten. In diesen Jahren entstand die politische Polizei; Bespitzelung, Repression und Zensur bedienten sich zunehmend ausgeklügelter Verfahren. Am Ende standen dennoch die Revolutionen von 1848 und ihr zwiespältiges Erbe von Freiheitsstreben, Demokratieverlangen und nationalistischer Überspannung.
Warum die Ähnlichkeiten Ukrainer und Rumänen in wechselseitiger Abneigung vereinen, kann man unter „Bukarest“ in Juri Andruchowytschs „Kleinem Lexikon intimer Städte“ nachlesen. Es will als „Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik“ genutzt werden. Viele Motive aus dem Werk des ukrainischen Schriftstellers, der 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren wurde, sind hier neu zusammengestellt, aktualisiert zu einem radikal subjektiven Bild Europas und einiger weniger amerikanischer Städte. Das Gemeinsame, schreibt Andruchowytsch in Lemberg, der Stadt, in der er studierte, käme am besten in einer Art Roman zum Ausdruck, der davon handeln müsste, „wie seltsame metaphysische Kaufleute, die in einer Art universellem Lemberger Wirtshaus zusammensitzen, der Reihe noch von fernen Welten erzählen. Sie bilden einen Kreis, und wer dran ist, greift ein Motiv aus der Erzählung des Vorgängers auf, Hauptsache, die Kette von Erzählungen wird nicht unterbrochen“.
Die öffentliche Rede über den Kontinent scheint seit längerem in Wiederholungen erstarrt, in der Verkrampfung nähern sich Anti-Europäer und Verteidiger einer europäischen Einigung einander an: Europa geht immerzu unter, steht jeden Morgen wieder vor der entscheidenden Krise. Werte werden beschworen, Identitäten gefordert. Christentum, Aufklärung, Vaterländer, Abendland. Doch selbst eine 24-stündige Voltaire-Lesung in der Peterskirche würde nichts daran ändern, dass politische Probleme politisch, ökonomische politökonomisch gelöst werden müssen. Gewiss könnte in einem guten metaphysischen Wirtshausroman auch einer auftreten, der sich am Sollen und an Postulaten berauscht. Die Selbstverständlichkeit Europas aber beginnt jenseits von Identitätswahn und Wertehysterie.
Die politische Imagination, der Diskurs in Europa ist von Vorstellungen vergiftet, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben, die Entwicklung behindern und es erschweren, Probleme angemessen zu bearbeiten – dies ist das Fazit von Adam Zamoyskis ausgreifender Studie über die politische Kultur jener Jahre zwischen Französischer Revolution und Völkerfrühling. Damals entstand das moderne Europa – mit seinen Nationalismen, mit Regierungen, die zusammenarbeiteten, um den status quo aufrecht zu erhalten, mit Massen, deren Interessen und Stimmungen nicht länger ignoriert werden konnten. Politischer Terror wurde ein Teil des Alltags.
Aber nicht die vielen Geschichten über Geheimpolizisten, die förderten oder gar selber schufen, was sie bekämpfen sollten, sorgen für die beunruhigende Aktualität dieser Studie. Hier lässt sich Schritt für Schritt, vom London Pitts und Wellingtons über Metternichs Wien, das zerrissene Italien, das geknechtete Polen bis hin ins Reich der Zaren Alexander und Nikolaus, nachvollziehen, wie die Regierenden sich selber fesselten. Sie beschworen eine Bedrohung, für die Belege fehlten, glaubten bald selbst daran, dass hinter Unruhen und Unzufriedenheiten Geheimorganisationen steckten, wahrscheinlich ein zentrales Komitee mit Sitz – natürlich – in Paris.
Der Sinn für Proportionen, Verhältnismäßigkeit litt, die Fähigkeit, zwischen wichtig und unwichtig, groß und klein zu unterscheiden. 1831 erging ein Ukas, der russischen Studenten das Studium in Frankreich untersagte. Sie gingen an deutsche Universitäten, der französische Einfluss wurde durch Hegel und Marx verdrängt, „was sich auf Dauer als sehr viel gefährlicher für die russische Monarchie herausstellen sollte“. Überhaupt stärkten all die Maßnahmen gegen den Schwindelgeist der Freiheit die radikalen Kräfte.
Am verheerendsten aber, so Zamoyski in einer kecken Schlusswendung, wirkte eine neue, der Einbildung entsprungene Sichtweise auf Politik und Gesellschaft insgesamt: sie wurden fortan als dauernder Kampf zwischen denen da unten und denen da oben verstanden. „Beschworen wurde eine Konstellation der Reichen und Mächtigen in ihren komfortablen Zitadellen, belagert von einer gewalttätigen, anarchischen Masse der Armen und Zukurzgekommenen, unter Führung von tollwütigen Terroristen, die diese Zitadellen stürmen und die Gesellschaftsordnung umstürzen wollen.“ Das ist nicht nur eine Diagnose des 19. Jahrhunderts.
Weder Geschichte noch Kultur taugen als Goldreserve. Aber der Glaube, da liege etwas, auf das man sich verlassen, auf das man zurückgreifen könne, wenn einen die Gegenwart, wie sie es gern tut, überfordert, dieser Glaube ist doch auch typisch für Europa. Er hat etwas Sympathisches, wird ärgerlich, wenn er mit der Weigerung einhergeht, Wirklichkeit wahrzunehmen, die einem zu dicht auf die Pelle rückt. Dann ziehen sich viele ins Gewohnte zurück, graben sich ein an Vergangenheitsfronten.
Andruchowytsch beschreibt dies als „undurchdringliche Wand“. Unsichtbare Wände durchziehen unsere Vorstellungswelt. Was die Seelenruhe zu gefährden droht, verschwindet dahinter: etwa der Heroismus und das Pathos der tragischen Revolutionen in der Ukraine. 2004 ein Mysterium: „die massenhafte Rückkehr der Menschen zum Menschlichen“.
Zehn Jahre später ist die europäische Aufmerksamkeit groß, das Verständnis gering. 21. Februar, Kiew, Maidan, Andruchowytsch wird angerufen aus Deutschland, Polen, Spanien, Tschechien, Dänemark: „Am Vortag hatten sie auf dem Maidan die Himmlische Hundertschaft erschossen. Ich wollte von jenen Erschossenen erzählen und von ihrem, pardon me, Heroismus. Aber die erschossenen Helden interessierten niemanden. Alle interessierten nur die ,Nazis‘, ,ultrarechten Extremisten‘, ,Ultraextraneofaschinazis‘“. Auch das ein typisch europäischer Augenblick.
Pieter Steinz: Typisch Europa. Ein Kulturverführer in 100 Stationen. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Albrecht Knaus Verlag, München 2016. 464 S., 29,99 Euro. E-Book 23, 99 Euro.
Adam Zamoyski: Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit. 1789-1848. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. Verlag C. H. Beck, München 2016. 618 S., 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Juri Andruchowytsch: Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Insel Verlag, Berlin 2016. 416 S., 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Im 19. Jahrhundert wollte man
den „Schwindelgeist“ der Freiheit
unter Kontrolle bringen
Werte werden beschworen in
der Debatte heute – Christentum,
Aufklärung, Abendland
Der Sinn für Proportionen litt,
die Fähigkeit, zwischen wichtig
und unwichtig zu unterscheiden
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ein Lesefeuerwerk"
Ingo Hasewend, Kleine Zeitung, 07. Mai 2017
"Das Standardwerk zu dieser folgenreichen Epoche."
Südkurier, 07. April 2017
"Zamoyski erzählt geistreich und fesselnd, trotz aller Ernsthaftigkeit unterhaltsam von einer aufwühlenden Umbruchszeit."
dpa, 08. Februar 2017
"Adam Zamoyski erzählt meisterlich von Angst, Hysterie und Verfolgungswahn (...). Das Ganze liest sich, trotz der ernsten Thematik, unterhaltsam, zum Teil ausgesprochen amüsant."
Volker Ullrich, DIE ZEIT, 15. Dezember 2016
"Spannend wie immer."
Nürtinger Zeitung, 8. Oktober 2016
"Mit seinem vorzüglich geschriebenen und dokumentierten Buch ist es Zamoyski gelungen, eine Vergangenheit zu beleuchten, die bis in die Gegenwart fortwirkt."
Johannes Willms, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Oktober 2016
"Schöner Lesestoff. Man erfährt eine Menge über den zweiten Raum der Politik aus jener Zeit und macht sich so seine Gedankenüber den zweiten Raum der Politik in unserer Zeit."
Dirk Kurbjuweit, DER SPIEGEL, 17. September 2016
Ingo Hasewend, Kleine Zeitung, 07. Mai 2017
"Das Standardwerk zu dieser folgenreichen Epoche."
Südkurier, 07. April 2017
"Zamoyski erzählt geistreich und fesselnd, trotz aller Ernsthaftigkeit unterhaltsam von einer aufwühlenden Umbruchszeit."
dpa, 08. Februar 2017
"Adam Zamoyski erzählt meisterlich von Angst, Hysterie und Verfolgungswahn (...). Das Ganze liest sich, trotz der ernsten Thematik, unterhaltsam, zum Teil ausgesprochen amüsant."
Volker Ullrich, DIE ZEIT, 15. Dezember 2016
"Spannend wie immer."
Nürtinger Zeitung, 8. Oktober 2016
"Mit seinem vorzüglich geschriebenen und dokumentierten Buch ist es Zamoyski gelungen, eine Vergangenheit zu beleuchten, die bis in die Gegenwart fortwirkt."
Johannes Willms, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Oktober 2016
"Schöner Lesestoff. Man erfährt eine Menge über den zweiten Raum der Politik aus jener Zeit und macht sich so seine Gedankenüber den zweiten Raum der Politik in unserer Zeit."
Dirk Kurbjuweit, DER SPIEGEL, 17. September 2016