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Im Kontext der Globalisierung ist immer wieder von kulturellen Selbstbeschreibungen, Selbstinszenierungen und Selbsterzählungen die Rede, ohne dass sich die Philologien bislang dieser Frage grundsätzlich angenommen haben. Mit den Grenzgängen ist jetzt eine Auswertung der einschlägigen Debatten von der Krise des Historismus bis zur writing culture greifbar, die, aufbauend auf einer theoretischen Reflexion, vor allem auch die praktische Anwendung der Kategorien zeigt. Bezogen auf Jean Paul und Richard Wagner, auf die Paradigmenbildung der Klassischen Moderne bei Walter Benjamin, Robert Musil und…mehr

Produktbeschreibung
Im Kontext der Globalisierung ist immer wieder von kulturellen Selbstbeschreibungen, Selbstinszenierungen und Selbsterzählungen die Rede, ohne dass sich die Philologien bislang dieser Frage grundsätzlich angenommen haben. Mit den Grenzgängen ist jetzt eine Auswertung der einschlägigen Debatten von der Krise des Historismus bis zur writing culture greifbar, die, aufbauend auf einer theoretischen Reflexion, vor allem auch die praktische Anwendung der Kategorien zeigt. Bezogen auf Jean Paul und Richard Wagner, auf die Paradigmenbildung der Klassischen Moderne bei Walter Benjamin, Robert Musil und Bertolt Brecht sowie auf das stille Einvernehmen der Literaturen in der Vorwendezeit, werden Diskurse, Szenarien und Erzählmuster analysiert, die einen Durchblick auf die Kulturgeschichte der Literatur anhand der poetischen Umsetzungen eröffnen. Die Studie wendet sich an Philologen, Kulturwissenschaftler und Historiker. Sie kann, wenn man so will, als literarästhetisches Seitenstück sowohl zur Memoriaforschung wie auch zur Feldanalyse und darin als Hommage an die poetische Virtualisierung im Zeitalter der Neuen Medien und der Globalität genommen werden.
Autorenporträt
Horst Turk ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2003

Die Krise als Chance
Horst Turks Grenzverkehr zwischen Literatur und Sprachgeste

Gilt das Analoge auch heute als ruinös rückständig, so war es doch einmal von erkenntnistheoretischer Dignität. Heinrich von Kleists Schrift über das Marionettentheater eröffnet mit einer solchen Analogie, die auf mathematische Weise die Ordnungen transzendiert: Damit die hölzernen Puppen einen berückenden Tanz vollführen könnten, konstatiert der mysteriöse Herr von C., habe der Maschinist seinerseits zu tanzen, genauer: dem Weg der Seele des Tänzers zu folgen, denn es bestehe eine differentialrechnerische Beziehung zwischen Lenker und Gelenkten. In Analogie zur Analogie des Puppenspiels erscheint auch die Literaturwissenschaft mit ihren Beschreibungen zweiter Ordnung als eine Disziplin der Integration, die Steigungen und Gefälle der Literaturen in Funktionen übersetzt. Um dem poetischen Wörtertanz wirklich folgen zu können, haben dabei ihre besten Spielmeister selbst literarisch zu werden, zumal wenn sie sich mit den großen Umbrüchen in der Geschichte ihres Gegenstands befassen.

Ein solches Unterfangen stellt Horst Turks nun erschienenes Kompendium zum Cultural Turn in der Literatur dar, eine voluminöse Summa aus dreißig Jahren philologischer Forschung, und man darf sagen, es ist eine hochkonzentriert getanzte Kür. Mit komplexen Theorien und ihren jeweiligen Fachsprachen jongliert der Göttinger Philologe in vollendeter Virtuosität, wenn auch der elokutionelle Hochglanz dabei nicht immer der Verständlichkeit dient. Turks leitende und aus der aristotelischen Tragödiendefinition entwickelte Grundthese hat allerdings auch den inhaltlichen Kern mit Kleists Tanzmechanik gemein: Die Mimesis als gewichtige Kategorie abendländischer Kulturentwicklung könnte sich demnach statt auf Referenzverhältnisse in einem viel grundlegenderen Sinne auf performative Akte beziehen. Diese performativen Bezugnahmen würden mithin nicht selbst vollzogen, sondern mittels Nachstellung auf höherer Ebene transparent gemacht.

Damit zieht Turk eine weitere Zwischendecke ein und siedelt bereits die Literatur auf der Ebene zweiter Ordnung an. Unter solcher "praxeologischen" Abwandlung der ersten Begriffe wäre die Literaturgeschichte mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Sprachgeste neu zu schreiben. Schnell scheint auch Turks so traditionelle wie sympathische Auffassung von Literatur als einer vermittels ihrer Möglichkeitsausrichtung aller Historiographie überlegenen Wirklichkeitskonstruktion durch, à la mode "poetische Virtualisierung" genannt. Doch unabhängig von diesem utopischen Gehalt, besteht Turks Anliegen vor allem in dem Nachweis eines sich allmählich entwickelnden Selbstbewußtseins der Literatur in Hinsicht auf ihren fundamentalen Bezug zur Gestik: die Mimesis, so Turks These in aller Kürze, als ein Werk des (Panto-)Mimen.

Die Arbeit analysiert die zeitlich, nicht aber chronologisch angeordneten Paradigmen einer Kulturgeschichte der modernen Literatur und stellt damit eine Gesamtschau der Debatten dar, die im 20. Jahrhundert zum Zusammenhang von Kultur, respektive Literatur, und Gesellschaft geführt wurden. Das ist nun allerdings ein Manifest pro domo, eine große Reverenz Turks an die Philologie. Denn durch die - hier mit der Globalisierung zusammengedachte - Wandlung eines "Textes der Kultur" zum "kulturellen Text" in der writing culture steige die Lektüre der jeweiligen kulturellen Selbstbeschreibungen zum grundlegenden Verfahren der Kulturinterpretation auf und etabliere, so das Großkonzept, die Philologie zur entsprechenden Leitwissenschaft oberhalb von Kulturwissenschaft, Ethnographie oder Sozialgeschichte.

Turks Kulturhermeneutik verortet nun Kultur im Feld von Politik, Religion und Gesellschaft. Als "dritter Faktor" entstehe sie im hier anvisierten Sinne zwischen dem Nationalstaat des 19. und der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts: ein Übergangsphänomen, dem vor dem Hintergrund der Erschütterung des Historismus eine erhebliche Integrationsleistung zugetraut wurde. Das Auseinanderstreben des Partikularen bedingte demnach eine emphatische Wendung zur einheitsstiftenden Kultur. Anhand einer entsprechenden "Achse des Universellen", die um 1900 gelegt wurde, aber auf das voraufgehende Jahrhundert verweise, stellt Turk zunächst die Krisenreaktionskräfte der frühen Soziologie vor.

Als Erzieher der Moderne im Zeichen des Universalismus gelten ihm die "Kulturalisten" Ernst Troeltsch, Hermann Cohen und - seinerseits eine Synthese aus beiden - Max Weber, mit dem die Soziologie zur Kulturwissenschaft avancierte. Unter dem Label "Kultursynthese" zusammengefaßt, kontrastiert Turk diese jüdisch-protestantische Strömung der Politischen Theologie Carl Schmitts mit ihrer radikalen Freund-Feind-Dichotomie. Auf die Schmittsche Sehnsucht nach der Ruhelage vor der Enttheologisierung der politischen Welt führt Turk die gemeinschaftsbildende Figur des auszuschließenden Dritten, des dem Antichristen nachempfundenen Fremden, zurück. Dieser politischen Überformung des ethischen Universalismus wird schließlich der jüdische Religionssoziologe Gershom Scholem gegenübergestellt, in dessen kritischem Denken, zumal nach seiner Auswanderung nach Palästina im Jahre 1923, der Zionismus weniger eine politische denn eine gesellschaftliche, vor allem aber kulturelle Bewegung darstellte. Scholem war die Erlösungsidee nicht fremd, anders als Schmitt aber beschrieb er sie als einen öffentlichen Akt in Leib und Seele.

Scholem, als "performanzorientiertes Pendant zu den Ausführungen von Troeltsch, Cohen und Weber", fungiert mithin als Gewährsmann der Turkschen Grundidee von der Kultur als Mimik statt Mimesis. Füglich endet mit Scholem der erste Durchgang durch den Debattenhorizont, bevor sich Turk mit den feldanalytischen wie systemtheoretischen Fortsetzungen der soziologischen Disziplin auseinandersetzt. Gerade die Systemtheorie dokumentiere dabei den Kulturprimat hinsichtlich der gesellschaftlichen Integration, nachdem die sozialökonomische Integrationsvorgabe der Sozialwissenschaft erstaunlich ergebnislos geblieben sei.

Um daraufhin die kulturelle Bedeutung von Texten zu ermessen, entwickelt Turk in Anlehnung an Talcott Parsons ein Koordinatensystem, das aus den drei Achsen des commitment, einer moralischen Verpflichtung der Akteure, des enactment, der jeweils gestisch-theatralen Komponente, und des emplotment, einer narratologisch zu explizierenden Inhaltlichkeit, besteht. Dieses Raster - einen einmal durch die Systemtheorie geschickten Strukturalismus - wendet er auf die verschiedenen Stadien der Literatur an, wobei sich unterschiedliche Dominanzen abzeichnen. In der Moderne - so das Ergebnis - findet demzufolge eine Rehabilitation der lange untergeordneten gestischen Bedeutung statt.

Turks Studie erweist sich damit als weit ausgreifende Einholung der ansonsten oft punktuell ansetzenden Performanztheorien. Zwar wurde nach Turk bereits in der handlungsorientierten aristotelischen Poetik das commitment maßgeblich durch das enactment getragen, bald aber sei mit der Schrift das emplotment zum Kernbereich aufgestiegen und habe - endgültig unter der historistischen Perspektive - die Gestik verdrängt. Mit dem Aufbrechen der Grundlagenkrisen änderte sich das Gesamtgefüge aber noch einmal, wie es überhaupt vornehmlich Krisen sind, die hier als Chancen der Literatur im Sinne einer Kulturalisierung fungieren. Turk sammelt also in einem großen Umritt seine Mitstreiter für eine Theorie der untergründigen Macht des Mimischen ein. Er beginnt - ganz klassisch - in der Klassischen Moderne: Walter Benjamins Choc-Theorie, die dieser am Theater festmacht, gehört ebenso dazu wie Bertolt Brechts episches Theater der Verfremdung, Franz Kafkas ausgeprägte Gebärdenphilie oder Robert Musils gestisches Überschreiten aller kulturellen Lesbarkeit durch eine "ekstatische Teilhabe an der Virtualität der wirklichen Welt".

Ein neues Krisenszenario liegt dem nächsten Anlauf zugrunde: der Kalte Krieg als Motor der Auseinandersetzung mit dem nach 1945 herrschenden Konzept einer sittlich-politischen Bindung des Ästhetischen. Hier werden vor allem zwei Antipoden in der Brecht-Nachfolge gegenübergestellt: Peter Hacks und Heiner Müller. Angekoppelt an die bisherige Untersuchung wird die zugehörige kursorische Textanalyse aber lediglich durch die Feststellung, Hacks' sozialistisch korrekte Literatur sei eher dem emplotment verpflichtet, während Müller die neue Ordnung als Sache des enactment begreife und vermittels einer solchen theatralen Einkörperung angreifbar mache. Wie sich das Verhältnis von Narrativik und Theatralik jenseits dieses speziellen ostdeutschen Streitfalls in die Gegenwart fortsetzt, bleibt bei Turk allerdings offen.

Statt dessen gelangt er einigermaßen überraschend zu den Voraussetzungen des Cultural Turn im 19. Jahrhundert zurück. In einem beinahe 200 Seiten umfassenden Schlußkapitel wird die bisherige enactment-Theorie mit verschiedenen Auffassungen einer mythologischen Integration überkreuzt. Es sind vor allem die hierin denkbar gegensätzlichen Positionen Richard Wagners und Jean Pauls, an denen Turk den verschiedenen Umgang zur Zeit der romantischen Unterbauung der Kultur mit transzendental-historischen Narrationen vorführt. Während Wagners romantische Charaktere sich (bereits wieder) mythologisch integrieren ließen, wenn auch der antike wie der christliche Mythos durch einen seinerseits ödipalen nordischen ersetzt worden sei, sprenge Jean Pauls Schreibweise das emplotment, indem alle Aufmerksamkeit auf das enactment gelenkt werde: Erst die um 1800 eingetretene Umwertung von Handlung und Charakter aber habe dazu geführt, daß bei Jean Paul die Charaktere zum eigenen Urbild hätten werden können. Damit hat Turks enactment-These ihren terminus post quem erreicht.

Trotz geistreicher Beobachtungen zu Wagners "Ring", bei dem Wotan-Laios und nicht Siegfried-Ödipus im Mittelpunkt stehe, wie auch zu Jean Pauls "Titan" oder "Siebenkäs" wirkt die gesamte Schlußsequenz der Studie eigentümlich monolithisch und kann auch im Epilog nur peripher in die Gesamtkonzeption integriert werden. Einer gewinnbringenden Lektüre dieses Stücks theoretisch hochgerüsteter Literatur tun solche Digressionen jedoch keinen Abbruch, ebensowenig die oft allzu gewitzten dialektischen Formulierungen oder die zur Hermetik neigende Überkomplexität in der Argumentation. Den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil sich die Welt "in der ,Epoche' des ,reinen Ego' auflöst", ist für den Grenztänzer Horst Turk schließlich das Kennzeichen und das Schicksal des modernen Kulturprozesses. Verschlungen ist der Weg der Seele der Literatur zu sich selbst.

OLIVER JUNGEN.

Horst Turk: "Philologische Grenzgänge". Zum Cultural Turn in der Literatur. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003. 520 S., br., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der "elokutionelle Hochglanz", den Rezensent Oliver Jungen bei Horst Turks "Philologischen Grenzgängen" konstatiert und den er "dabei nicht immer der Verständlichkeit" dienen sieht, haftet seinem eigenen Text ebenso an: diesem hochkomplexen Kompendium zum Cultural Turn in der Literatur, welches die Früchte aus 30 Jahren philologischer Forschung verwertet, dient er sich als verständiger Begleiter an. Turks Anliegen sei, meint Jungen, einen Nachweis des sich allmählich entwickelnden Bewusstseins der Literatur hinsichtlich ihres fundamentalen Bezugs zur Gestik zu erbringen: "die Mimesis", definiert Jungen die Grundthese des Autors, "als ein Werk des (Panto-)Mimen". In einem Durchgang durch die großen kulturellen Debatten des 20. Jahrhunderts scheint Turk "Mitstreiter" für seine "Theorie der untergründigen Macht des Mimischen" zu suchen und gefunden zu haben: etwa bei Gershom Scholem, Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, um einige der Gewährsmänner der Turkschen Kulturdebatten zu benennen. Etwas verwundert zeigt sich Jungen über der Tatsache, dass der Autor, statt seine Suche nach der performativen Seite der Literatur bis in die Gegenwart fortzusetzen, diese bei der Kontroverse Müller/Hacks abbricht und ins neunzehnte Jahrhundert zurückkehrt. "Eigentümlich monolithisch" wirkt auf ihn das 200 Seiten umfassende Schlusskapitel, dass nur schwer in die Gesamtkonzeption zu integrieren sei.

© Perlentaucher Medien GmbH
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