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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2000

Latein fürs Teltower Rübchen
Ein Römer in Westfalen: "Des Philomathus Jugendgedichte"

Geboren wurde Fabio Chigi, der sich als Dichter "Philomathus" nannte und später Papst Alexander VII. wurde, vor vierhundert Jahren in Siena, 1639 war er päpstlicher Nuntius in Köln und 1644 außerordentlicher Nuntius beim Friedenskongress in Münster, wo er dank diplomatischem Geschick und Autorität die Hochachtung der Kriegsparteien genoss und für den 1648 geschlossenen Westfälischen Frieden arbeitete. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Münster veröffentlichte der aus Paderborn nach Münster geflohene Wilhelm von Fürstenberg die "Jugendgedichte" des Italieners, sein Bruder Ferdinand von Fürstenberg gab eine erweiterte Ausgabe 1654 in Antwerpen und 1656 in Paris heraus, mit den Gedichten über seine Münsteraner Zeit, die ihm den Ruhm eines Heimatdichters eingebracht haben.

Das Buch gehört zu den publizistischen Glanzlichtern anlässlich der Jahresfeiern zum Friedensschluss; und an Monumentalität lässt es nichts zu wünschen übrig: zwei Foliobände von zusammen an die achthundert Seiten, dreizehn Pfund schwer. Im ersten stehen die 93 Gedichte und eine Tragödie, "Pompeius", faksimiliert nach der Pariser Ausgabe, mit zeilengetreuer deutscher Übersetzung, im zweiten Darstellungen über den Autor, die neulateinische Sprache, das Verhältnis von Dichtung und Rhetorik im Manierismus des siebzehnten Jahrhunderts, Kommentare zu den Gedichten und ein Anhang zur Rhetorik, Stilistik, Metrik sowie zur Geschichte der literarischen Formen. Der Herausgeber Hermann Hugenroth betont, dass er klassischer Philologe und kein "Neulateiner" sei, aber das ist es gerade, was ihn mit Fabio Chigi verbinden kann, denn der ist ein Klassiker, ein Konservativer in der Literaturgeschichte des Barockzeitalters, einer von jenen, welche die "Degenerierung in rein artifizielle Virtuosität" ein Weilchen aufhalten konnten. Auch für Hugenroth ist es ein Verdienst Fabio Chigis, sich vor "einer Infizierung durch den pathologischen Virus der excessiven Argutiakunst" geschützt zu haben, wenn der Erfolg des 1623 gestorbenen Giambattista Marino auch nicht aufzuhalten war.

Dieser konservative, moralische Zug am Werk des Fabio Chigi muss die Brüder Fürstenberg angesprochen haben, als sie die Sammlung einem Jüngling, dem Neffen des Dichters, Flavio Chigi, als ein nach Italien heimkehrendes Geschenk "von einem Unbekannten aus fernen Gegenden" widmeten. Der Dichter äußert darin Rühmendes über bedeutende Zeitgenossen in eleganten lateinischen Versen, Erbauliches über Graburnen, Sand- und Sonnenuhren, Reisen von Ferrara und Malta nach Rom, fromme Bearbeitungen christlicher Themen im Sinne eines "theozentrischen Humanismus", wie er sich für den zukünftigen Papst geziemt. Der Jüngling wird "nicht auf Gestalten stoßen, die wegen üppiger und liederlicher Lebensweise für junge Menschen eine Gefahr bedeuten". Es fehlt darum einer der Bereiche, in denen die neulateinische Dichtung, durch Ovid und Catull gedeckt, sonst Unerhörtes wagen durfte: die Erotik.

Dem Leser von heute möchte der Herausgeber zwar vor allem die poetische Kunst dieses dichtenden Diplomaten nahe bringen, doch sei gestanden, dass die Spannung wächst, wenn Themen auftauchen, welche die Wirklichkeit spiegeln, vor allem die deutsche: Reisen von Ferrara nach Köln, von Köln nach Münster, von Münster nach Aachen, mit fast penibler Aufzeichnung aller Stationen, aber in lateinischen Versen, in welche die barbarischen Namen nur mit Schwierigkeiten eingepfropft werden können; immer wieder mit Anspielungen auf den ewigen Regen, schon in München, wo er durch die "von ständigem Regen und Dreck gezeichnete Straße" spaziert, was seine Bewunderung für die herzoglichen Bauten aber nicht beeinträchtigt. Sein liebevolles Gedicht über die Münsteraner Frauenhaube, das "Felken", ist zu Recht berühmt.

Aber Chigi berichtet auch aus dem freiheitsliebenden, jedoch protestantisch verblendeten Frankfurt, wie junge Burschen hier einen Äthiopier verlachen und mit Steinwürfen zurück in den Kahn treiben. Seine politische Rolle kommentiert er nicht oft, aber den Antrieb des Unfriedens, den Kampf um die Macht in Europa, scheint er erkannt zu haben. Noch 1648, nach vier Jahren Arbeit, will es nicht gelingen, "das österreichische und das bourbonische Haus zu versöhnen". Dass die Feinde der gleichen Religion angehören, empfindet er als Skandal. Aber: "Es ist besser, dass ich beiden Parteien Glauben schenke, solange nur jede von Frieden redet!" Gegen Ende der Verhandlungen gerät der Vermittler samt der Politik der Kurie ins Abseits. Fabio Chigi konnte nicht über seinen Schatten springen, und der Friede forderte etwas, das er nicht zu bieten geneigt war: eine Anerkennung der protestantischen Position.

Der konservative Nuntius hielt nicht nur dem Marinismus stand, sondern allen Feinden, notfalls mit Gewalt. Bei der Pest in Ferrara geißelt er zwar das Wohlleben der Reichen, aber das Heil scheint ihm die Abweisung "böswilliger Fremder" zu sein: "Als äußerstes Mittel soll man bei Zuwiderhandelnden die Todesstrafe anwenden. Mit vergitterten Mauern soll man den Feind fern halten." Die Todesstrafe erscheint ihm auch sonst angemessen, als Strafe für gottlose Ketzerei und für den "auf frischer Tat ertappten Dieb, auch wenn eine Hand voll Kohl nur aus fremden Garten er hat entwendet" - und sieht doch, wenn er nur den Blick wechselt, wie der frühere Thomas Müntzer, dass die "Ursachen für leidenschaftliche Ausbrüche durch den Getreidepreis bestimmt werden".

Lateinkundige gibt es immer weniger, und selbst sie werden dafür dankbar sein, dass neben dem Text eine Übersetzung steht. Hugenroth hat sich für eine "rhythmisierte Prosa" entschieden und damit in den allermeisten Fällen dem Original Rechnung getragen. Dass er dabei gern eine der empfindlichsten Eigenheiten der deutschen Sprache opfert, die Wortstellung, muss man ihm nachsehen: "Zu meiner großen Freude mich erreicht Dein Brief soeben . . ." Das gar zu konzise Latein lässt er im Deutschen etwas stärker sprossen: für "furor" steht "revolutionärer Wahn"; und westfälisch-konkreter: die "rapula" wird mit Augenzwinkern ein "Teltower Rübchen"!

Diese aufschwellende Übersetzung ist oft nötig, meistens nützlich und immer das Zeichen für ein pädagogisches Bedürfnis des Übersetzers. Die zur zweiten Natur gewordene Lebensaufgabe des akademischen Lehrers verleugnet Hermann Hugenroth nie, er gibt ihr im Gegenteil bereitwillig Raum, besonders im Anhang, wo er eine Übersicht über Tropen und Figuren, über Stilformen, über Metren und schließlich einen enzyklopädischen Abschnitt mit dem Titel "Das Wichtigste zur Entstehung und Geschichte der angewandten literarischen Formen" bereitstellt. Das ist alles nützlich. Im Folioformat liest es sich, als ob alles in Hexametern geschrieben wäre. Dem "Philomathus", der dank seiner Gedichte langlebiger als Erz ist (aber auch die Denkmalfigur auf seinem Grabmal von Bernini steht noch in der Peterskirche), wird es recht sein, wenn er hier gerühmt und aus der knapp 350 Jahre währenden Latenzperiode herausgeführt wird; es entspricht seiner eigenen Überzeugung, wonach allein die Musen beständig, alles andere hinfällig sei.

Man spürt, dass dieser Vermittler im westfälischen "Mimigarda" im Exil lebt. Was sind ein Ausflug und eine Kahnfahrt nach Telgte! Die deutschen Dichter, die Günter Grass dort versammelte, konnte er nicht treffen. Die Zeitgenossen Opitz, Harsdörffer und Grimmelshausen scheinen nicht in seinen Gesichtskreis getreten zu sein. Auch in Italien, in Rom, war er nicht recht zu Hause. Seine reale Umwelt erblickte er im literarischen Abendschimmer der Antike, und das gerade, wo er den Eindruck hatte, dass ihm die Aemulatio, der Wetteifer mit den Alten, gelingen könnte.

HANS-HERBERT RÄKEL

Fabio Chigi: "Philomathi Musae Juveniles - Des Philomathus Jugendgedichte". Teil I: Faksimile der Ausgabe Paris 1656. Mit der Übersetzung von Hermann Hugenroth. Teil II: "Zum dichterischen Werk des Fabio Chigi (1599-1667), des späteren Papstes Alexander VII.". Einführung und Kommentar von Hermann Hugenroth. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 1999. 826 S., geb., zus. 128,- DM.

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