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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2002

Und ewig schwappt die Esoterik
Lukians "Lügenfreund" im flimmernden Licht der Rezeption

Warum lügen die Menschen so gern? Mit dieser Frage beginnt der große Satiriker des zweiten Jahrhunderts, Lukian, eine seiner bekanntesten Schriften. Die Frage ist aktuell, und die Antwort nicht überraschend: Man lügt gelegentlich, weil man einen Nutzen im Auge hat. Aber die Nutzlüge ist für den altgriechischen Frager kein Problem. (Für den Christen wäre sie wohl eines!) Ihm geht es darum, daß so viele der gebildetsten Menschen ihre gläubige Freude an absurden Märchen haben. Und dann berichtet er von einer Gesellschaft von Philosophen jeder Couleur - auch ein Arzt ist dabei -, die diskutieren, ob zur Schmerztherapie der Zahn einer Spitzmaus in einem frisch abgezogenen Löwenfell stecken muß oder in dem einer jungfräulichen Hirschkuh. Dann übertrumpfen sie einander mit Geschichten von Zauberern, Schlangenbeschwörern und Exorzisten und haben keine Schwierigkeiten, an fliegende und über das Wasser gehende Hyperboreer zu glauben, an Dämonen und Gespenster, an Statuen, die nachts vom Sockel steigen, oder an einen durch Hekates Stampfen erzeugten Erdspalt, der einen Blick in den Hades erlaubt, aus dem der Höllenhund heraufbellt. Die letzte dieser Zaubergeschichten gab Goethe das Motiv für sein Gedicht vom "Zauberlehrling".

Die Ausgabe dieser unterhaltsamen und kulturgeschichtlich interessanten Schrift bietet neben dem Text mit flotter Übersetzung und kommentierenden Anmerkungen eine Einführung in Leben und Werk des Autors. Dazu kommen Essays über Lukians Verhältnis zur Philosophie und zur Magie und ein germanistischer Beitrag über die Nachwirkung. Leider fehlt ein eigener Essay über das intellektuelle Milieu des zweiten und dritten Jahrhunderts. So wird dem Leser nicht deutlich, daß in dieser Zeit ein verstärktes Interesse an Esoterica und Magie festzustellen ist, für das ein Werk wie Philostrats Romanbiographie über den Magier-Philosophen Apollonius von Tyana typisch ist. Und heute haben wir eine ganz ähnliche Entwicklung. Die "sagenhaften Geschichten von heute", die Rolf W. Brednich gesammelt hat ("Die Spinne in der Yucca-Palme" und ihre Fortsetzungen), bieten die besten Parallelen zu Lukians Beispielen. Und Brednichs Gewährsleute sind oft gutgläubige Akademiker ...

Der fehlende Essay macht einen verunglückten Beitrag des Sammelbandes verständlich: Martin Ebners Vergleich dieser Zaubergeschichten mit den Wundergeschichten des Neuen Testaments. Ebner stellt nämlich fest, daß da gar nicht viel Vergleichbares ist. In den Evangelien treten keine Gespenster auf, und Jesus heilt nicht mit dem Splitter vom Grabstein einer verstorbenen Jungfrau, sondern mit seinem Wort. Sein "magischstes" Mittel ist Speichel. Aber da die neutestamentliche Wundergeschichtentradition "ohne Frage" (!) "im gleichen kulturellen Stratum verankert ist wie die üblichen hellenistischen Wundergeschichten auch", muß doch dasselbe vorkommen (so funktionieren historisch-kritische Argumente!).

Den Mangel an Magie kann sich Ebner deshalb nur so erklären, daß die Evangelisten die Erzählungen von den magischen Elementen gereinigt haben. In der Geschichte von dem Gelähmten, der durch das Dach zu Jesus hinabgelassen wird, findet er noch eine Spur des "dämonologischen Hintergrunds": Damit wird dem Krankheitsdämon die Rückkehr versperrt. Kennt doch jeder das "Gesetz der Teufel und Gespenster: Wo sie hineingeschlüpft sind, da müssen sie hinaus." Daß dieses Gesetz nur in Goethes Faust belegt ist und für die Gespenster des ersten Jahrhunderts vielleicht gar nicht gegolten hat, fällt dem Vertreter der "skeptischen Kritik" nicht auf. Wenn er das Vermißte nicht im Text findet, dann bringt er es eben in der imaginierten Vorgeschichte des Textes unter. Um daran zu glauben, muß man fast die Glaubenskraft von Lukians "Philosophen" haben.

MARIUS REISER

Lukian: "Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige". Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Martin Ebner, Holger Gzella, Heinz-Günther Nesselrath, Ernst Ribbat. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001. 214 S., geb., 29,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In seinem "Lügenfreund" ergießt der große Satiriker des zweiten Jahrhunderts, Lukian seinen Spott über die Gebildeten, die ihre gläubige Freude an haarsträubenden, absurden Geschichten haben, berichtet Rezensent Marius Reiser. Er sieht hier deutliche Parallelen zu den "sagenhaften Geschichten von heute", die Rolf W. Brednich gesammelt hat ("Die Spinne in der Yucca-Palme"), insbesondere da Brednichs Gewährsleute oft genug gutgläubige Akademiker sind. Vorliegende Ausgabe des "Lügenfreunds", einer "unterhaltsamen und kulturgeschichtlich interessanten Schrift", bietet laut Reiser neben dem Text mit "flotter Übersetzung und kommentierenden Anmerkungen" auch eine Einführung in Leben und Werk des Autors und eine Reihe von Essays über Lukians Verhältnis zur Philosophie, zur Magie und Lukians Nachwirkung. Nur ein Essay über das intellektuelle Milieu des zweiten und dritten Jahrhunderts fehlt, bedauert Reiser. Stattdessen findet sich mit Martin Ebners Vergleich von Lukians Zaubergeschichten mit den Wundergeschichten des Neuen Testaments ein regelrecht "verunglückter Beitrag".

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