Heimat - dieser Begriff benennt eines der meistdiskutierten und am heftigsten umstrittenen Probleme unserer Zeit. Steht die Betonung von Heimat nicht im Widerspruch zu einer Haltung, die der Mensch im Zeitalter von Globalisierung und weltweiter Vernetzung einnehmen muß? Oder ist sie noch immer der Mittelpunkt der individuellen Existenz des Menschen, Ort seiner Kindheit, der Geborgenheit und Sicherheit? Philosophisch fundierte Untersuchungen indes, die das Phänomen Heimat unvoreingenommen in den Blick nehmen, sind gegenwärtig rar.
Karen Joisten wendet sich diesem Problemkreis zu, indem sie das Konzept entwirft, der Mensch zeichne sich durch eine Doppelstruktur aus, die sprachlich in der Wendung Heim-weg zum Ausdruck gebracht wird. Während der Bestandteil Heim- auf die heimische Seite des Menschen verweist, die es ihm ermöglicht, Bindungen einzugehen und in sich zu wohnen, verweist der Bestandteil -weg auf die weghafte Seite des Menschen, die dazu führt, daß er permanent unterwegs sein muß, also bei keiner eingenommenen Haltung und Einsicht stehenbleiben kann.
Im ersten Teil des Buches werden unterschiedliche Weisen des In-Beziehung-Seins des Menschen zum Raum, zur Zeit und zum Mitmenschen analysiert, sowohl in bezug auf seine heimhafte als auch auf seine weghafte Seite. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei die Grundphänomene Geborgenheit, Ruhe und Vertrauen. Zugleich werden vier Hauptwege, auf und in denen sich der Mensch primär bewegt und ausrichtet, gekennzeichnet: das Wandern in der Natur, das Gehen auf der Straße, das Fahren auf der Straße und das Surfen im Netz.
Im zweiten Teil des Bandes setzt sich die Autorin mit grundlegenden philosophiehistorischen Antworten auf die Frage auseinander, was unter Heimat zu verstehen ist, bezieht sie auf die Deutung des Menschen und macht sie fruchtbar für die moderne Diskussion.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Karen Joisten wendet sich diesem Problemkreis zu, indem sie das Konzept entwirft, der Mensch zeichne sich durch eine Doppelstruktur aus, die sprachlich in der Wendung Heim-weg zum Ausdruck gebracht wird. Während der Bestandteil Heim- auf die heimische Seite des Menschen verweist, die es ihm ermöglicht, Bindungen einzugehen und in sich zu wohnen, verweist der Bestandteil -weg auf die weghafte Seite des Menschen, die dazu führt, daß er permanent unterwegs sein muß, also bei keiner eingenommenen Haltung und Einsicht stehenbleiben kann.
Im ersten Teil des Buches werden unterschiedliche Weisen des In-Beziehung-Seins des Menschen zum Raum, zur Zeit und zum Mitmenschen analysiert, sowohl in bezug auf seine heimhafte als auch auf seine weghafte Seite. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei die Grundphänomene Geborgenheit, Ruhe und Vertrauen. Zugleich werden vier Hauptwege, auf und in denen sich der Mensch primär bewegt und ausrichtet, gekennzeichnet: das Wandern in der Natur, das Gehen auf der Straße, das Fahren auf der Straße und das Surfen im Netz.
Im zweiten Teil des Bandes setzt sich die Autorin mit grundlegenden philosophiehistorischen Antworten auf die Frage auseinander, was unter Heimat zu verstehen ist, bezieht sie auf die Deutung des Menschen und macht sie fruchtbar für die moderne Diskussion.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2003Der olle Bollnow hat ihr den Kopf verdreht
Nach Hause, nach Hause: Karen Joisten will sich Nähe und Ferne nur räumlich vorstellen und liebt deshalb den Bäcker um die Ecke
"Es ist grotesk, ja geradezu abwegig, sich einen Menschen vorzustellen, der sich mitten auf dem Bürgersteig niederläßt, ein Buch aus seiner Jacke herauszieht und zu lesen beginnt." Für Karen Joisten ist Philosophie anthropo-ontologische Deutung des menschlichen Seins mit ethischen Konsequenzen. Vor allem Merleau-Ponty folgend gibt sie eine Phänomenologie des Daseins als zwischen Heimat und Unterwegssein ausgespannt, und wie Bollnow nimmt sie dabei die Geborgenheit von Wohnung, Geburtsort, Familie als das Primärphänomen. Näher wird die ewige Reise nach Hause in die Aspekte von Raum, Zeit und Mitmenschen und in vier Entfernungsschichten zergliedert, für die eine Tageswanderung, das morgendliche Brötchenholen, die sonnabendliche Fahrt zum Baumarkt und das Surfen im Netz die Beispiele geben.
Je weiter wir wegkommen, um so anonymer und konventioneller werden unsere Wahrnehmung wie unser Verhalten; je näher wir dem Heim bleiben, um so mehr sind wir bei uns zu Hause. Doch die moderne Beschleunigung bringe die Gefahr mit sich, daß die Menschen sich in der Ferne verlieren, immer weniger sie selbst sind. Deshalb gelte es, die reale Gebundenheit an eine Heimat als ein bewußtes Sich-Binden zu übernehmen. Und deshalb ist, wer in der Öffentlichkeit liest, nicht nur komisch, sondern ethisch fragwürdig.
Man kann sich Neubaueigenheim-Siedlungen mit schnellwachsenden Koniferen in den gepflegten Vorgärten vorstellen, in denen ein müßiges Verweilen bald das Mißtrauen der Anwohner erregen würde. Aber schon in Mainz, wo Joistens Buch als Habilitationsschrift angenommen wurde, gibt es Straßencafés, und auf den Straßen gerade der dichtesten Städte kann man gute Einfälle haben. Das Problem ist nicht, daß Joisten eine partikulare Lebensform zur Norm aufpolstert. Es ist am Ende ja nur ein Beispiel. Nein, das einseitige Verständnis von Nähe und Ferne als räumlich führt in die Irre. Der Bibliothekar, mit dem ich in Iran über Hafis streite, kann mir näher sein als Wiglaf Droste, der mich in unserem Haus nicht grüßt. Die junge Jordanierin macht im chat-room unter der Maske einer reichen unbefriedigten Witwe mehr Erfahrungen mit sich selber als im heimischen Streit mit ihren Brüdern, die ihr den Besuch des Internetcafés verbieten wollen.
Und komplementär führt in die Irre, daß der Mensch erst in der Einsamkeit des Selbstgesprächs zu sich selbst finde, mit sich identisch werde. Man muß nicht Tugendhats Polemik gegen ein introspektives Modell von Selbstbewußtsein mitmachen, daß er überhaupt nichts sehe, wenn er tief in sich hineinblicke, um monologische Selbsterkenntnis zumindest für fehlbar zu halten. Daß ich geizig, dick, arrogant oder ressentimentgeladen bin, werde ich kaum in der Introspektion ermitteln. Die anderen müssen es mir sagen.
Joistens Ich ist ein schauendes. Es schaut aus dem Auto, und es schaut in sich hinein. Aus der Untersuchung ausdrücklich ausgeschlossen ist die Heimat als "Ort der Arbeit und des Handelns". Das gehöre in die Soziologie. Ist nicht das Gegenteil genauso richtig? Wandern und Chatten, Eigenheime und Baumärkte gehören in die Soziologie, Arbeit und Handeln in die Philosophie. Soziologie und Philosophie unterscheiden sich nicht durch die Gegenstände, sondern durch die Fragen. Was sich in Joistens Ausgrenzung vielmehr ausdrückt, ist ein Verständnis von Gesellschaft als zweiter, nämlich uneigentlicher Natur. In Wahrheit bin ich in meinem Beruf oder meinen Interessen mindestens ebenso zuhause wie in meiner Wohnung. Heimat ist da, wo ich mich auskenne. Da habe ich ein sicheres Urteil, da fühle ich mich verantwortlich. Indem Joisten Arbeit und Handeln ausgrenzt, kommt ihr die Möglichkeit sachlicher Nähe bei räumlicher Ferne nicht in den Blick. Und am Ende kann sie nicht einmal angeben, was an einer Heimat, in der ich mich nicht - etwa durch das Markieren von Wanderwegen - betätige, ethisch bedeutsam sein soll.
Joisten schätzt das vertraute Umfeld, weil sie ohne nachzudenken den Weg zum Bäcker findet und weil man sie im Baumarkt sofort versteht. "Ein intensives Miteianderreden läuft dem Charakter der Straße, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel ist, entgegen." Wirklich zu Hause ist sie erst, wenn sie sich in den Sessel fallenläßt oder beim Wandern ihren Gedanken nachhängt. Was aber unterscheidet das noch von dem perhorreszierten modernen Vagabunden, der seinen Aufenthaltsort bindungslos nach Arbeit und Einkommen wählt?
GUSTAV FALKE
Karen Joisten: "Philosophie der Heimat - Heimat der Philosophie". Akademie Verlag, Berlin 2003. 371 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach Hause, nach Hause: Karen Joisten will sich Nähe und Ferne nur räumlich vorstellen und liebt deshalb den Bäcker um die Ecke
"Es ist grotesk, ja geradezu abwegig, sich einen Menschen vorzustellen, der sich mitten auf dem Bürgersteig niederläßt, ein Buch aus seiner Jacke herauszieht und zu lesen beginnt." Für Karen Joisten ist Philosophie anthropo-ontologische Deutung des menschlichen Seins mit ethischen Konsequenzen. Vor allem Merleau-Ponty folgend gibt sie eine Phänomenologie des Daseins als zwischen Heimat und Unterwegssein ausgespannt, und wie Bollnow nimmt sie dabei die Geborgenheit von Wohnung, Geburtsort, Familie als das Primärphänomen. Näher wird die ewige Reise nach Hause in die Aspekte von Raum, Zeit und Mitmenschen und in vier Entfernungsschichten zergliedert, für die eine Tageswanderung, das morgendliche Brötchenholen, die sonnabendliche Fahrt zum Baumarkt und das Surfen im Netz die Beispiele geben.
Je weiter wir wegkommen, um so anonymer und konventioneller werden unsere Wahrnehmung wie unser Verhalten; je näher wir dem Heim bleiben, um so mehr sind wir bei uns zu Hause. Doch die moderne Beschleunigung bringe die Gefahr mit sich, daß die Menschen sich in der Ferne verlieren, immer weniger sie selbst sind. Deshalb gelte es, die reale Gebundenheit an eine Heimat als ein bewußtes Sich-Binden zu übernehmen. Und deshalb ist, wer in der Öffentlichkeit liest, nicht nur komisch, sondern ethisch fragwürdig.
Man kann sich Neubaueigenheim-Siedlungen mit schnellwachsenden Koniferen in den gepflegten Vorgärten vorstellen, in denen ein müßiges Verweilen bald das Mißtrauen der Anwohner erregen würde. Aber schon in Mainz, wo Joistens Buch als Habilitationsschrift angenommen wurde, gibt es Straßencafés, und auf den Straßen gerade der dichtesten Städte kann man gute Einfälle haben. Das Problem ist nicht, daß Joisten eine partikulare Lebensform zur Norm aufpolstert. Es ist am Ende ja nur ein Beispiel. Nein, das einseitige Verständnis von Nähe und Ferne als räumlich führt in die Irre. Der Bibliothekar, mit dem ich in Iran über Hafis streite, kann mir näher sein als Wiglaf Droste, der mich in unserem Haus nicht grüßt. Die junge Jordanierin macht im chat-room unter der Maske einer reichen unbefriedigten Witwe mehr Erfahrungen mit sich selber als im heimischen Streit mit ihren Brüdern, die ihr den Besuch des Internetcafés verbieten wollen.
Und komplementär führt in die Irre, daß der Mensch erst in der Einsamkeit des Selbstgesprächs zu sich selbst finde, mit sich identisch werde. Man muß nicht Tugendhats Polemik gegen ein introspektives Modell von Selbstbewußtsein mitmachen, daß er überhaupt nichts sehe, wenn er tief in sich hineinblicke, um monologische Selbsterkenntnis zumindest für fehlbar zu halten. Daß ich geizig, dick, arrogant oder ressentimentgeladen bin, werde ich kaum in der Introspektion ermitteln. Die anderen müssen es mir sagen.
Joistens Ich ist ein schauendes. Es schaut aus dem Auto, und es schaut in sich hinein. Aus der Untersuchung ausdrücklich ausgeschlossen ist die Heimat als "Ort der Arbeit und des Handelns". Das gehöre in die Soziologie. Ist nicht das Gegenteil genauso richtig? Wandern und Chatten, Eigenheime und Baumärkte gehören in die Soziologie, Arbeit und Handeln in die Philosophie. Soziologie und Philosophie unterscheiden sich nicht durch die Gegenstände, sondern durch die Fragen. Was sich in Joistens Ausgrenzung vielmehr ausdrückt, ist ein Verständnis von Gesellschaft als zweiter, nämlich uneigentlicher Natur. In Wahrheit bin ich in meinem Beruf oder meinen Interessen mindestens ebenso zuhause wie in meiner Wohnung. Heimat ist da, wo ich mich auskenne. Da habe ich ein sicheres Urteil, da fühle ich mich verantwortlich. Indem Joisten Arbeit und Handeln ausgrenzt, kommt ihr die Möglichkeit sachlicher Nähe bei räumlicher Ferne nicht in den Blick. Und am Ende kann sie nicht einmal angeben, was an einer Heimat, in der ich mich nicht - etwa durch das Markieren von Wanderwegen - betätige, ethisch bedeutsam sein soll.
Joisten schätzt das vertraute Umfeld, weil sie ohne nachzudenken den Weg zum Bäcker findet und weil man sie im Baumarkt sofort versteht. "Ein intensives Miteianderreden läuft dem Charakter der Straße, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel ist, entgegen." Wirklich zu Hause ist sie erst, wenn sie sich in den Sessel fallenläßt oder beim Wandern ihren Gedanken nachhängt. Was aber unterscheidet das noch von dem perhorreszierten modernen Vagabunden, der seinen Aufenthaltsort bindungslos nach Arbeit und Einkommen wählt?
GUSTAV FALKE
Karen Joisten: "Philosophie der Heimat - Heimat der Philosophie". Akademie Verlag, Berlin 2003. 371 S., geb., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nicht sonderlich überzeugen konnte die Rezensentin Sonja Asal die Habilitationsschrift über den Heimatbegriff in der Philosophie von Karen Joisten. Punkt für Punkt kommentiert die Rezensentin die Argumente der Autorin, oft legt sie Widerspruch ein. So habe die Aussage, dass "Heimat das Grundproblem der Philosophie schlechthin" ist, rein gar nichts mit dem "traditionellen Heimatbegriff" zu tun, wie Joisten bemerkt. "Heimat" sei für Joisten zudem nur vordergründig eine "räumliche Bestimmung" und demnach als eine "Rückgewinnung der Lebenswelt" zu verstehen. Ein weiterer Kritikpunkt in dieser hochphilosophischen Besprechung einer Philosophie-Habilitation sei die Beschreibung des Menschen als heimatliches Wesen, die die Rezensentin zu "allgemein" und "unspezifisch" findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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