Wenn wir die Natur und uns selbst begreifen wollen, müssen wir unsere ausgetretenen Pfade verlassen. Erst abseits von ihnen kommen wir der Tiefe und Vielfalt von Leben und Umwelt auf die Spur. Der Philosoph Baptiste Morizot hat sich immer wieder in die Wildnis gewagt, um die Perspektiven der Tiere und ihre Gewohnheiten kennenzulernen. Wer ihn dabei begleitet, trifft auf Wölfe und Bären, lernt ihre Geheimnisse kennen. Morizots Erkundungen eröffnen einen neuen Blick auf das Wesen des Menschen und die Frage, wie wir mit anderen Arten kommunizieren können. Die Kunst des Spurenlesens kann uns dabei helfen, das Verhältnis von Mensch und Natur neu zu erfahren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2020Onkel Wanjas Wälder
Wenn es um die Natur geht, sind Empfindung und Empirie Verbündete
Schriftsteller streifen durch die Wälder. Ihre Beschreibungen von Wind, Rauhreif, Fährten, Kronen und Borken, Temperaturen und Sternbildern sind seit langem von der Romantik inspiriert und von Henry Thoreaus berühmtem Buch "Walden" von 1854. Dessen Kapitel tragen Überschriften wie "Das Bohnenfeld", "Die Teiche" oder "Wintertiere". Einer seiner hervorragendsten literarischen Nachfahren ist der britische Historiker John Lewis-Stempel. 2010 veröffentlichte er die Erzählung seines Jahres als Selbstversorger an der Grenze von England und Wales. Darin erschien die Welt für den Wissenden als eine große, mit Poesie, jagbaren Tieren sowie wilden Beeren und Kräutern gefüllte Kammer. Nur im Winter-Kapitel konnte man Angst um den Autor bekommen, angesichts der knappen Einträge auf seinem Speisezettel: "Tauben, Kaninchen, Grauhörnchen, Löwenzahn, Feldsalat, Brennnesseln" listet Stempel im Februar auf.
"Mein Jahr als Jäger und Sammler. Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben" lautet der Titel des 2019 auf Deutsch erschienenen Buches, ganz neu auf Deutsch ist "Im Wald. Mein Jahr im Cockshutt Wood" (beide bei Dumont). Die Farben des Waldes, seine Lichtstimmungen und Laute, die Interaktionen seiner beweglichen Bewohner und anorganischen Interieurs beschreibt der Historiker hier. Wann noch Schweine frei durch den Wald strolchten, weiß er genau. Er denkt konkret und wortmächtig: "2. Mai: Ein neuer Klang im Wald: der von Regen auf ausgewachsenen Blättern - wie sächsische Krieger, die auf ihre Schilde schlagen."
Hinter dem verspielten Ansatz des Historikers Lewis-Stempel verbirgt sich ein kluges theoretisches Motiv. Wie sehr muss die Natur durch den Körper gehen, damit der Mensch spürt, ein Teil von ihr zu sein? Kann er auch durch Nachdenken darauf kommen, wie rasch er mit ihr untergehen wird, wenn er fortfährt, ihre Ressourcen zu zerstören? Der französische Schriftsteller Baptiste Morizot erweist sich in seiner in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen "Philosophie der Wildnis" (Reclam) als Spurensucher und schult sich und seine Leser in der Kunst der Naturkunde. Zauberhaft ist sein gleichermaßen versponnener wie konkreter, geisteswissenschaftlicher wie verträumter Ansatz, mit dem er den Pfaden der Wildschweine oder den Wildwechseln der Rehe folgt. Es geht darum, inspiriert von Gilles Havards 2016 erschienener "Geschichte der Waldläufer", den Möglichkeiten des Menschen nachzuhängen, "soziale Beziehungen zum Wald" aufzunehmen, wie Havard sie für das amerindianische Volk der Algonquin bezeugt.
Die Sehnsucht nach Wiederanbindung an die Natur
Diese anthropologisch geprägte und in die Metamorphosen der Natur verliebte Erzählung dringt mit äußerster Behutsamkeit in die Wildnis ein. Man mag Lewis-Stempels Ironie und Handfestigkeit bevorzugen, aber je länger man Morizot liest, umso weniger kann man sich seiner Belesenheit, Leidenschaft und Ernsthaftigkeit entziehen. Den Texten des englischen Exzentrikers wie des französischen Philosophen ist das Interesse am Naturzustand des Menschen zentral, aber wenn man ihre Wege aus der Entfernung betrachtet, erscheinen ihre Denkbewegungen wie späte Echos des Schmuck-Eremitentums des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Als sich die Gärten und Parks in zum Leben erwachte Landschaftsgemälde verwandelten, stellten manche ihrer Eigentümer Einsiedler an, die in schlichten Behausungen irgendwo auf dem Gelände lebten und sich auf Wunsch in ihren Kutten zeigten.
Die Bücher Stempels und Morizots beantworten die Sehnsucht nach einer Wiederanbindung an die Natur auf ähnliche Weise stellvertretend. Was aber gibt uns den entscheidenden Stoß, der aus der stockenden, viel zu langsamen Reaktion auf die umweltpolitischen Erfordernisse der Gegenwart herausführt? Angesichts der ungenügenden Klimaschutzmaßnahmen und besonders der wissenschaftlich ungeklärten Frage, mit welchen resilienteren Bäumen die Wiederaufforstung von 285 000 Hektar deutschen Waldes vonstatten gehen soll, müssen schwierige Antworten gefunden werden. Während die Erzählungen so konkret und anschaulich sind, ist die Wirklichkeit ungleich abstrakter und verwickelter. Sie erfordert eine mühselige Auseinandersetzung mit Fakten und Statistiken und umfasst in der Konsequenz unangenehme oder erfolgsungewisse Entscheidungen. Dass wir unser wirtschaftliches Handeln endlich in Balance mit dem Naturschutz bringen müssen, dafür treten Schriftsteller nicht erst seit ein paar Jahren ein. Wenn man das von Horst Stern vor vierzig Jahren mitherausgegebene Buch "Rettet die Wälder" aufschlägt, kommen einem die Tränen - oder es packt einen die Wut, je nach Temperament. Zwar war die Sorge um den Wald damals durch dessen Leiden unter dem sauren Regen entstanden, aber die dringliche Frage danach, was die beste Weise ist, einen Wald zu bewirtschaften, wurde in der Öffentlichkeit über Jahrzehnte wieder vergessen.
Im Erscheinungsjahr des Bandes, 1979, wurden die ersten Landesverbände der Grünen gegründet. Aber es war das Jahr 1898, in dem Anton Tschechow in seinem Drama "Onkel Wanja" der Figur des Arztes Astrow diese Zeilen in den Mund legte: "Menschen sind mit Klugheit und Talent gesegnet, um zu vermehren, was ihnen geschenkt wurde, aber statt etwas hervorzu- bringen, zerstören sie nur. Die Wälder werden immer weniger, die Flüsse trocknen aus, die Tiere sterben, das Klima verschlechtert sich, und mit jedem Tag wird die Erde ärmer und hässlicher."
Als wäre es heute geschrieben. Knapp ein Drittel der Fläche Deutschlands ist mit Wald bedeckt, das macht 11,4 Millionen Hektar aus. In den letzten zehn Jahren war diese Fläche um 50 000 Hektar gewachsen. Nun aber, im dritten Dürrejahr und unter dem massiven Borkenkäferbefall, der die trockenheitsgeschädigte Fichte vielerorts erledigte, sind es 285 000 Hektar Wald, die wiederaufgeforstet werden müssen. Die "Familienbetriebe Land und Forst" stellen für ihre Kampagne ministerinnenhohe Achten her, aus Holz natürlich, an die eine lächelnde Julia Klöckner sich anlehnt, 8 steht für 8 Tonnen CO2, die ein Hektar Wald pro Jahr bindet. Forstwirtschaftliche Betriebe, Waldeigentümer, Landbesitzer, sie alle fragen sich, wie die Klimaschutzleistungen des Waldes und die Förderung der Biodiversität auf ihren Flächen honoriert werden können. In den Preisen für Holz sind solche gemeinnützigen Effekte nicht enthalten. Anders gesagt: Man muss vielleicht die Betriebe dafür, dass sie Flächen naturschonender bewirtschaften, kompensieren.
Achthundert Millionen Euro hatte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zusammen mit den Ländern für die geschädigten Waldbauern bereitgestellt. Wenn man weiß, dass es zwischen 1,5 und 3,5 Millionen Euro kostet, eine Fläche von 180 Hektar wiederaufzuforsten, relativiert sich diese Summe. Zum Vergleich: Der Autoindustrie fließen 55 Milliarden zu. Natürlich kann man im Moment achtzig Prozent der Investition in Waldbau gefördert bekommen, aber dazu muss man erst einmal genug auf dem Konto haben, um in Vorleistung zu treten. Angesichts der an die Förderung geknüpften Bedingungen schwanken manche kleinen und großen Waldeigentümer.
Welche Baumarten gepflanzt werden dürfen, wird vorgeschrieben, und nach fünf und zehn Jahren erfolgen Kontrollen. Im Misserfolgsfall sind Fördersummen zurückzuzahlen. Landwirte beklagen auch, dass, wenn sie Naturschutzmaßnahmen öffentlich machen und fördern lassen, unter Umständen so hohe Auflagen damit einhergehen, dass sie sich in ihrem wirtschaftlichen Handeln auf eigenem Grund eingeschränkt sehen. Das gilt auch für die zwei Millionen Waldeigentümer, die fünfzig Prozent der deutschen Waldflächen besitzen. Peter Wohllebens Attacken gegen die sogenannten Plantagenbesitzer führen darum nicht weiter. Die Vorwürfe gegen die Harvester im Wald klingen wie bei Tschechow: "Die russischen Wälder brechen zusammen unter den Hieben der Axt, Milliarden von Bäumen sterben, die Höhlen der Tiere, ihre Nester, alles wird verwüstet, Flüsse versanden und trocknen aus, wunderschöne Landschaften verschwinden für immer, und alles, weil der Mensch zu faul und zu blöd ist, sich zu bücken und was er zum Heizen braucht von der Erde aufzuheben . . . Nur ein Barbar ohne Sinn und Verstand verfeuert in seinem Ofen, was er nicht wieder erschaffen kann."
Tschechows Plädoyer für nachhaltige Forstwirtschaft
Kaum zu glauben, dass dieses Plädoyer für nachhaltige Forstwirtschaft älter als 120 Jahre ist. Bemerkenswert ist an Tschechows Figur des Arztes und Waldschützers Astrow nicht zuletzt, dass er Tiere mit einschließt. Heute werden im Zuge des Klimaschutzes Forderungen lauter, die Wildbestände stärker zu dezimieren, weil sonst die Wiederaufforstung an Verbiss- und Schälschäden scheitern würde. Auch hierin mag man das späte Echo eines alten Kampfes erkennen. So haben Förster mit der Akademisierung ihres Fachs im neunzehnten Jahrhundert begonnen, auf die Jäger herabzuschauen und ihnen zu unterstellen, Waldwirtschaft nur unter dem Aspekt möglichst großen Wildreichtums zu betrachten. Auch in der aktuellen Diskussion ist dieser Antagonismus mächtig und wirksam.
Es ist mühsamer, den Wald wachsen zu lassen, ohne das Wild aus ihm herauszuschießen. Die kleinen Terminaltriebe der Setzlinge müssen einzeln mit Schafwolle geschützt werden, Zäune gezogen werden, wo nötig. Kräuterwiesen sollten fern der Aufforstungsflächen gesät werden, damit das Wild fern der kleinen Bäume ungestört satt wird. Das heißt aber: Der Waldbauer kann nicht jeden Quadratzentimeter mit Bäumen bepflanzen. Alle am Konflikt Beteiligten, wir alle, sollten unsere Schutz- und Abwehrhaltung ein Stück aufgeben. Denn wie sagt Astrow zu dem skeptischen Wojnizkij: "Du schaust mich so ironisch an, und alles, was ich sage, findest du läppisch und..., und vielleicht mach' ich mir auch was vor, aber wenn ich an den Wäldern vorbeifahre, die ich vor dem Abholzen bewahrt habe, oder wenn ich den Wind in den Bäumen höre, die ich selbst gepflanzt habe, dann glaube ich, dass das Klima auch zum Teil in meinen Händen liegt, und sollten Menschen in tausend Jahren noch glücklich sein, dann liegt das auch ein wenig an mir."
John Lewis-Stempel ahmt den Ruf des Käuzchens im Cockshutt Wood nach, Morizot heult in der kanadischen Wildnis, bis die Wölfe antworten. Eichenwein anzusetzen und Enten zu jagen ist nicht jedermanns Sache, sich in Kälte und Dunkelheit durch die Abgeschiedenheit zu kämpfen, auch nicht. Um so verantwortungsbewusst zu handeln, dass die Menschen auch in tausend Jahren noch glücklich sein können, muss unsere Bindung zur Natur wieder enger werden. Am besten würde sie zugleich inniger und realistischer.
WIEBKE HÜSTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn es um die Natur geht, sind Empfindung und Empirie Verbündete
Schriftsteller streifen durch die Wälder. Ihre Beschreibungen von Wind, Rauhreif, Fährten, Kronen und Borken, Temperaturen und Sternbildern sind seit langem von der Romantik inspiriert und von Henry Thoreaus berühmtem Buch "Walden" von 1854. Dessen Kapitel tragen Überschriften wie "Das Bohnenfeld", "Die Teiche" oder "Wintertiere". Einer seiner hervorragendsten literarischen Nachfahren ist der britische Historiker John Lewis-Stempel. 2010 veröffentlichte er die Erzählung seines Jahres als Selbstversorger an der Grenze von England und Wales. Darin erschien die Welt für den Wissenden als eine große, mit Poesie, jagbaren Tieren sowie wilden Beeren und Kräutern gefüllte Kammer. Nur im Winter-Kapitel konnte man Angst um den Autor bekommen, angesichts der knappen Einträge auf seinem Speisezettel: "Tauben, Kaninchen, Grauhörnchen, Löwenzahn, Feldsalat, Brennnesseln" listet Stempel im Februar auf.
"Mein Jahr als Jäger und Sammler. Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben" lautet der Titel des 2019 auf Deutsch erschienenen Buches, ganz neu auf Deutsch ist "Im Wald. Mein Jahr im Cockshutt Wood" (beide bei Dumont). Die Farben des Waldes, seine Lichtstimmungen und Laute, die Interaktionen seiner beweglichen Bewohner und anorganischen Interieurs beschreibt der Historiker hier. Wann noch Schweine frei durch den Wald strolchten, weiß er genau. Er denkt konkret und wortmächtig: "2. Mai: Ein neuer Klang im Wald: der von Regen auf ausgewachsenen Blättern - wie sächsische Krieger, die auf ihre Schilde schlagen."
Hinter dem verspielten Ansatz des Historikers Lewis-Stempel verbirgt sich ein kluges theoretisches Motiv. Wie sehr muss die Natur durch den Körper gehen, damit der Mensch spürt, ein Teil von ihr zu sein? Kann er auch durch Nachdenken darauf kommen, wie rasch er mit ihr untergehen wird, wenn er fortfährt, ihre Ressourcen zu zerstören? Der französische Schriftsteller Baptiste Morizot erweist sich in seiner in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen "Philosophie der Wildnis" (Reclam) als Spurensucher und schult sich und seine Leser in der Kunst der Naturkunde. Zauberhaft ist sein gleichermaßen versponnener wie konkreter, geisteswissenschaftlicher wie verträumter Ansatz, mit dem er den Pfaden der Wildschweine oder den Wildwechseln der Rehe folgt. Es geht darum, inspiriert von Gilles Havards 2016 erschienener "Geschichte der Waldläufer", den Möglichkeiten des Menschen nachzuhängen, "soziale Beziehungen zum Wald" aufzunehmen, wie Havard sie für das amerindianische Volk der Algonquin bezeugt.
Die Sehnsucht nach Wiederanbindung an die Natur
Diese anthropologisch geprägte und in die Metamorphosen der Natur verliebte Erzählung dringt mit äußerster Behutsamkeit in die Wildnis ein. Man mag Lewis-Stempels Ironie und Handfestigkeit bevorzugen, aber je länger man Morizot liest, umso weniger kann man sich seiner Belesenheit, Leidenschaft und Ernsthaftigkeit entziehen. Den Texten des englischen Exzentrikers wie des französischen Philosophen ist das Interesse am Naturzustand des Menschen zentral, aber wenn man ihre Wege aus der Entfernung betrachtet, erscheinen ihre Denkbewegungen wie späte Echos des Schmuck-Eremitentums des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Als sich die Gärten und Parks in zum Leben erwachte Landschaftsgemälde verwandelten, stellten manche ihrer Eigentümer Einsiedler an, die in schlichten Behausungen irgendwo auf dem Gelände lebten und sich auf Wunsch in ihren Kutten zeigten.
Die Bücher Stempels und Morizots beantworten die Sehnsucht nach einer Wiederanbindung an die Natur auf ähnliche Weise stellvertretend. Was aber gibt uns den entscheidenden Stoß, der aus der stockenden, viel zu langsamen Reaktion auf die umweltpolitischen Erfordernisse der Gegenwart herausführt? Angesichts der ungenügenden Klimaschutzmaßnahmen und besonders der wissenschaftlich ungeklärten Frage, mit welchen resilienteren Bäumen die Wiederaufforstung von 285 000 Hektar deutschen Waldes vonstatten gehen soll, müssen schwierige Antworten gefunden werden. Während die Erzählungen so konkret und anschaulich sind, ist die Wirklichkeit ungleich abstrakter und verwickelter. Sie erfordert eine mühselige Auseinandersetzung mit Fakten und Statistiken und umfasst in der Konsequenz unangenehme oder erfolgsungewisse Entscheidungen. Dass wir unser wirtschaftliches Handeln endlich in Balance mit dem Naturschutz bringen müssen, dafür treten Schriftsteller nicht erst seit ein paar Jahren ein. Wenn man das von Horst Stern vor vierzig Jahren mitherausgegebene Buch "Rettet die Wälder" aufschlägt, kommen einem die Tränen - oder es packt einen die Wut, je nach Temperament. Zwar war die Sorge um den Wald damals durch dessen Leiden unter dem sauren Regen entstanden, aber die dringliche Frage danach, was die beste Weise ist, einen Wald zu bewirtschaften, wurde in der Öffentlichkeit über Jahrzehnte wieder vergessen.
Im Erscheinungsjahr des Bandes, 1979, wurden die ersten Landesverbände der Grünen gegründet. Aber es war das Jahr 1898, in dem Anton Tschechow in seinem Drama "Onkel Wanja" der Figur des Arztes Astrow diese Zeilen in den Mund legte: "Menschen sind mit Klugheit und Talent gesegnet, um zu vermehren, was ihnen geschenkt wurde, aber statt etwas hervorzu- bringen, zerstören sie nur. Die Wälder werden immer weniger, die Flüsse trocknen aus, die Tiere sterben, das Klima verschlechtert sich, und mit jedem Tag wird die Erde ärmer und hässlicher."
Als wäre es heute geschrieben. Knapp ein Drittel der Fläche Deutschlands ist mit Wald bedeckt, das macht 11,4 Millionen Hektar aus. In den letzten zehn Jahren war diese Fläche um 50 000 Hektar gewachsen. Nun aber, im dritten Dürrejahr und unter dem massiven Borkenkäferbefall, der die trockenheitsgeschädigte Fichte vielerorts erledigte, sind es 285 000 Hektar Wald, die wiederaufgeforstet werden müssen. Die "Familienbetriebe Land und Forst" stellen für ihre Kampagne ministerinnenhohe Achten her, aus Holz natürlich, an die eine lächelnde Julia Klöckner sich anlehnt, 8 steht für 8 Tonnen CO2, die ein Hektar Wald pro Jahr bindet. Forstwirtschaftliche Betriebe, Waldeigentümer, Landbesitzer, sie alle fragen sich, wie die Klimaschutzleistungen des Waldes und die Förderung der Biodiversität auf ihren Flächen honoriert werden können. In den Preisen für Holz sind solche gemeinnützigen Effekte nicht enthalten. Anders gesagt: Man muss vielleicht die Betriebe dafür, dass sie Flächen naturschonender bewirtschaften, kompensieren.
Achthundert Millionen Euro hatte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zusammen mit den Ländern für die geschädigten Waldbauern bereitgestellt. Wenn man weiß, dass es zwischen 1,5 und 3,5 Millionen Euro kostet, eine Fläche von 180 Hektar wiederaufzuforsten, relativiert sich diese Summe. Zum Vergleich: Der Autoindustrie fließen 55 Milliarden zu. Natürlich kann man im Moment achtzig Prozent der Investition in Waldbau gefördert bekommen, aber dazu muss man erst einmal genug auf dem Konto haben, um in Vorleistung zu treten. Angesichts der an die Förderung geknüpften Bedingungen schwanken manche kleinen und großen Waldeigentümer.
Welche Baumarten gepflanzt werden dürfen, wird vorgeschrieben, und nach fünf und zehn Jahren erfolgen Kontrollen. Im Misserfolgsfall sind Fördersummen zurückzuzahlen. Landwirte beklagen auch, dass, wenn sie Naturschutzmaßnahmen öffentlich machen und fördern lassen, unter Umständen so hohe Auflagen damit einhergehen, dass sie sich in ihrem wirtschaftlichen Handeln auf eigenem Grund eingeschränkt sehen. Das gilt auch für die zwei Millionen Waldeigentümer, die fünfzig Prozent der deutschen Waldflächen besitzen. Peter Wohllebens Attacken gegen die sogenannten Plantagenbesitzer führen darum nicht weiter. Die Vorwürfe gegen die Harvester im Wald klingen wie bei Tschechow: "Die russischen Wälder brechen zusammen unter den Hieben der Axt, Milliarden von Bäumen sterben, die Höhlen der Tiere, ihre Nester, alles wird verwüstet, Flüsse versanden und trocknen aus, wunderschöne Landschaften verschwinden für immer, und alles, weil der Mensch zu faul und zu blöd ist, sich zu bücken und was er zum Heizen braucht von der Erde aufzuheben . . . Nur ein Barbar ohne Sinn und Verstand verfeuert in seinem Ofen, was er nicht wieder erschaffen kann."
Tschechows Plädoyer für nachhaltige Forstwirtschaft
Kaum zu glauben, dass dieses Plädoyer für nachhaltige Forstwirtschaft älter als 120 Jahre ist. Bemerkenswert ist an Tschechows Figur des Arztes und Waldschützers Astrow nicht zuletzt, dass er Tiere mit einschließt. Heute werden im Zuge des Klimaschutzes Forderungen lauter, die Wildbestände stärker zu dezimieren, weil sonst die Wiederaufforstung an Verbiss- und Schälschäden scheitern würde. Auch hierin mag man das späte Echo eines alten Kampfes erkennen. So haben Förster mit der Akademisierung ihres Fachs im neunzehnten Jahrhundert begonnen, auf die Jäger herabzuschauen und ihnen zu unterstellen, Waldwirtschaft nur unter dem Aspekt möglichst großen Wildreichtums zu betrachten. Auch in der aktuellen Diskussion ist dieser Antagonismus mächtig und wirksam.
Es ist mühsamer, den Wald wachsen zu lassen, ohne das Wild aus ihm herauszuschießen. Die kleinen Terminaltriebe der Setzlinge müssen einzeln mit Schafwolle geschützt werden, Zäune gezogen werden, wo nötig. Kräuterwiesen sollten fern der Aufforstungsflächen gesät werden, damit das Wild fern der kleinen Bäume ungestört satt wird. Das heißt aber: Der Waldbauer kann nicht jeden Quadratzentimeter mit Bäumen bepflanzen. Alle am Konflikt Beteiligten, wir alle, sollten unsere Schutz- und Abwehrhaltung ein Stück aufgeben. Denn wie sagt Astrow zu dem skeptischen Wojnizkij: "Du schaust mich so ironisch an, und alles, was ich sage, findest du läppisch und..., und vielleicht mach' ich mir auch was vor, aber wenn ich an den Wäldern vorbeifahre, die ich vor dem Abholzen bewahrt habe, oder wenn ich den Wind in den Bäumen höre, die ich selbst gepflanzt habe, dann glaube ich, dass das Klima auch zum Teil in meinen Händen liegt, und sollten Menschen in tausend Jahren noch glücklich sein, dann liegt das auch ein wenig an mir."
John Lewis-Stempel ahmt den Ruf des Käuzchens im Cockshutt Wood nach, Morizot heult in der kanadischen Wildnis, bis die Wölfe antworten. Eichenwein anzusetzen und Enten zu jagen ist nicht jedermanns Sache, sich in Kälte und Dunkelheit durch die Abgeschiedenheit zu kämpfen, auch nicht. Um so verantwortungsbewusst zu handeln, dass die Menschen auch in tausend Jahren noch glücklich sein können, muss unsere Bindung zur Natur wieder enger werden. Am besten würde sie zugleich inniger und realistischer.
WIEBKE HÜSTER
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»Morizot erzählt in großen naturhistorischen Bögen auf die emotionalen Momente hin, in die er seine Leserinnen und Leser versetzt. [...] Er macht das mit einem hehren Ziel. Er will uns erreichen. Denn: 'Die Philosophie der Wildnis macht uns menschlicher.'« Deutschlandfunk Kultur, 04.06.2020 »Zauberhaft ist sein versponnener, konkreter, geisteswissenschaftlicher wie verträumter Ansatz. [...] Je länger man Morizot liest, umso weniger kann man sich seiner Belesenheit, Leidenschaft und Ernsthaftigkeit entziehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2020