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Cassirers Symbolphilosophie denkt die Theorie der symbolischen Formen von Beginn an im Dialog mit Goethe. Lange Zeit hat man in Cassirers Werk hautpsächlich einen historischen Kommentar zur Philosophie sehen wollen. Gerade aber sein Blick auf die Literatur hat Entscheidendes zur Konstitution der Symbolphilosophie beigetragen, aufgezeigt z. B. an den Goetheschen "Wanderjahren" im Kontext der Symbolphilosophie.

Produktbeschreibung
Cassirers Symbolphilosophie denkt die Theorie der symbolischen Formen von Beginn an im Dialog mit Goethe. Lange Zeit hat man in Cassirers Werk hautpsächlich einen historischen Kommentar zur Philosophie sehen wollen. Gerade aber sein Blick auf die Literatur hat Entscheidendes zur Konstitution der Symbolphilosophie beigetragen, aufgezeigt z. B. an den Goetheschen "Wanderjahren" im Kontext der Symbolphilosophie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Wolken ziehn dahin
Barbara Naumanns Salto mortale von Cassirer zu Goethe

Ernst Cassirer (1874 bis 1945) war ein bedeutender Kenner Kants, ein belesener Philosophiehistoriker und der Verfasser einer "Philosophie der symbolitischen Formen" (1923 bis 1929). In der Philosophiegeschichte hat man ihn der "logizistischen" Richtung des Neukantianismus zugeordnet. Die Eigenständigkeit seines Denkens wird im Rückblick überstrahlt vom logischen Positivismus des Wiener Kreises und der Existenzialontologie Martin Heideggers; als man in den sechziger Jahren das Symbolische als eigenständigen Bereich zwischen oder neben dem Imaginären und dem Realen entdeckte, war man in der Epoche des Strukturalismus. Von der Philosophie Ernst Cassirers trennt uns heute der Antihumanismus und Materialismus dieses großen geistigen Abenteuers.

Die literaturwissenschaftliche Habilitationsschrift von Barbara Naumann über Philosophie und Poetik des Symbolischen überspringt diesen Abgrund. Das "weitgefächerte Potential der Symbolphilosophie" Cassirers blendet die Autorin aus. Sie versucht uns diesen Denker über Goethe und dessen Altersroman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" wieder näherzubringen.

Typisch für Goethes Symbolbegriff sei nicht eine unmittelbare, metaphorische Beziehung von Zeichen und Objekt (zum Beispiel der Lilienstengel als Symbol der Reinheit). Das Symbol sei vielmehr etwas Mittelbares: Der Sinn, die Bedeutung eines Symbols werde bestimmt durch den "relationalen", "funktionalen" Stellenwert, den das Symbol im Symbolsystem innehabe; auf den kleinsten (strukturalen) Nenner gebracht: durch Wiederholung und Entgegensetzung.

Frau Naumann nennt als ein Beispiel die Figur der Makarie, die "sinnfällig und anschaulich in Form einer Vision" demonstriere, "wie sich am differentiellen Ursprung der symbolischen Form Wiederholung und Ähnlichkeit zueinander verhalten": "Oft sah sie zwei Sonnen", heißt es bei Goethe, "eine innere nämlich und eine außen am Himmel, zwei Monde, wovon der äußere in seiner Größe bei allen Phasen sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr verminderte." Naumanns symboltheoretische Deutung dieser Passage lautet: "In diesem Fall bildet die Wiederholung beziehungsweise Doppelung eine symbolische Relation zwischen Innen und Außen, zwischen Seele und Welt."

Dieses Zitat ist durchaus repräsentativ für den Gehalt dieser Habiltationsschrift und das Niveau ihrer Reflexionen. Die These von der symbolischen Relation zwischen Seele und Welt wäre übrigens wohl nie in die Welt getreten, wenn der Betreuer des Habilitationsprojekts, der renommierte Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert, seine Schülerin aufmerksamer begleitet hätte. Ein Hinweis auf ein Buch in der von ihm herausgegebenen Reihe "LiteraturForschung" hätte genügt. Wir wissen nämlich durch die "Papiermaschinen" von Bernhard Dotzler, daß Makariens Doppelblick eine symbolische Überhöhung der "Astronomischen Maschine" Philipp Matthäus Hahns ist, den Goethe 1779 besucht hat. Makarie ist eine personifizierte Armillarsphäre, die wie bei Hahn einerseits das Kopernikanische System darstellt, gleichzeitig aber dasselbe Weltgebäude "wie es in die äußerliche Sinnen fällt". Makarie, so Dotzlers wohlbegründete Deutung, "verkörpert noch einmal die Einheit von Poesie und Wissen, steht aber für das Zerbrechen dieses einheitlichen Wissensraumes" im neunzehnten Jahrhundert. Daß erst bei Goethe das Mittelalter endet, wie der Mediävist Friedrich Ohly über die "Wanderjahre" geschrieben hat, wird auch hier noch einmal bestätigt: 1821, als der Roman zuerst erschien, hob die katholische Kirche das Verbot der Kopernikanischen Lehre auf.

Interdisziplinär betriebene Kulturwissenschaft gilt heute als modern. Cassirers Nachdenken über "symbolische Formen" wie Mythos, Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft, Technik, Recht könnte hier Impulse geben. Seine allgemeine Symbolphilosophie, wonach der menschliche Zeichenbildungsprozeß eigengesetzliche Wirklichkeiten schafft, könnte man sogar verbinden mit aktuellen neurobiologischen, systemtheoretischen oder konstruktivistischen Kommunikationstheorien. Wäre da nur nicht das Wörtchen "könnte". Frau Naumann begnügt sich damit, einige Spuren auszulegen und ihre Thesen ansonsten in einem konjunktivischen Nebel wolkiger Formulierungen aufgehen zu lassen. Sie läßt die Namen der Ideenhistoriker Hans Blumenberg und Michel Foucault fallen. Es hätte sich gelohnt, deren Begriffe von Epochen und "historischen Aprioris" im Licht der Geschichtsauffassung Cassirers zu spiegeln, um letzten interessanten Schwundstufen des Kantianismus nachzuspüren. Aber worauf Frau Naumann letztlich hinauswill, ist so erkennbar wie Kants "Ding an sich". Die Thesen dieses Buches lauten ungefähr so: Von Goethes Literatur lerne Cassirer die "welterschließende" Funktion des Symbolischen; er erweitere damit die Einschränkung des (Neo-)Kantianismus auf Erkenntnistheorie in Richtung auf eine "Kulturphilosophie symbolischer Formen". Cassirer sehe nicht einen Gegensatz zwischen dem transzendentalen Denken Kants und dem gegenständlichen Denken Goethes, sondern ein Nebeneinander verschiedener Erfahrungsbegriffe.

Kommen wir zum Ausgang des Buches: "Leben, Handeln, Tun - mit diesen Begriffen könnte man in der Tat den weiten Horizont der ,Wanderjahre' wie den der ,Philosophie der symbolischen Formen' beschreiben." Diese Erkenntnis wird selbst durch die Präzisierung nur wenig gehaltvoller, daß Goethe anders als Cassirer "den Blick auch auf die Grenze dieser Begriffe, auf die Zone der Sinnlosigkeit und des A-Relationalen" lenkt.

Das Titelbild des Bandes zeigt meteorologische Zustände vom Nebligen über das Geblähte bis zum Ausgefransten. Es handelt sich offenbar um eine Zeichnung Goethes mit den Wolkengestalten Stratus, Kumulus und Cirrus, die Luke Howard in seinem "Versuch einer Naturgeschichte und Physik der Wolken" unterschieden hatte. Der Verlag läßt die Herkunft des Bildes im dunkeln. Für den Rezensenten liegt im Nebulösen des Sujets eine tiefere Ironie, wenn er an den unklaren, seltsamen und oft einfach sprachlich falschen "Wissenschafts"-Jargon der Autorin denkt.

Ein Lektorat, das auch nur über typographische und orthographische Richtigkeit wacht, gibt es praktisch nicht mehr, seitdem die Autoren die Druckvorlagen mit ihren Textverarbeitungssystemen selbst erstellen. Das verstärkt gerade bei einem Beitrag zur Germanistik den Eindruck der Oberflächlichkeit. Aber in Wirklichkeit steckt hinter dieser Ungenauigkeit und Lieblosigkeit eine höhere Professionalität. Denken unsere Geisteswissenschaftler auch nicht an mögliche Leser, für die sie einen interessanten Gegenstand aufbereiten, so legen sie es doch auf einen schnell vorzeigbaren Publikations-Leporello an, den Gegenstand an und für sich. Barbara Naumanns Buch ist ein gelungenes Plädoyer für die Abschaffung des zeitraubenden Habilitationsverfahrens.

CHRISTOPH ALBRECHT

Barbara Naumann: "Philosophie und Poetik des Symbols" Cassirer und Goethe. Fink Verlag, München 1998. 218 S., br., 58,- DM.

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