Die Ausgabe der 'Nachgelassenen Schriften' Herbert Marcuses bietet eine Auswahl aus dem umfangreichen Nachlass des bedeutenden Sozialphilosophen. Die wichtigsten bisher unpublizierten oder auf Deutsch nicht zugänglichen Schriften Marcuses werden thematisch gruppiert, vom Herausgeber erläutert und mit einer Einleitung versehen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2003Glück ohne Verwaltung
Selbständig denken: Herbert Marcuses nachgelassene Schriften
Horkheimer und Adorno an der Spitze des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und in den USA Herbert Marcuse, der Mann fürs Grobe, Held und väterlicher Freund der Studentenbewegung: Wer die polemischen Geschichten von 1968 nicht mehr hören will, entdeckt nun einen Marcuse jenseits der Klischees.
Gerade ist der dritte Band einer auf fünf Bände angelegten Edition der nachgelassenen Schriften erschienen. Derlei Editionen leben von Archivalien, von Fundstücken, anhand derer man den Zwischenschritten des Denkens auf die Spur kommt. Die gesammelten kleinen Texte der Jahre 1956 bis 1971 über Philosophie und Psychoanalyse enthalten nichts wesentlich Neues. Weitgehend sind sie Beiwerk zu den gleichzeitig entstandenen Büchern Marcuses, insbesondere zu „Triebstruktur und Gesellschaft”, im amerikanischen Original viel passender „Eros and Civilization” betitelt. Wer — ob Freund oder Feind Marcuses — nach dem Altbekannten sucht, wird es auch in diesen Vorträgen, Zeitschriftenartikeln und Interviews finden. Nur entgeht ihm dann das Bedeutsame.
Zuvor jedoch muss der Leser sich durch die einleitende Studie von Alfred Schmidt arbeiten, „Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse”. Achtzig Seiten stark und dennoch ein Glücksfall, denn Schmidt erörtert klar, worauf es ankommt: Das Problem einer marxistischen Psychologie, die zwischen gesellschaftlichem Sein und individuellem Bewusstsein vermittelt, hat die Frankfurter Schule am einfallsreichsten gelöst. Mit Freud beschrieb sie, wie sich über das Triebleben die ökonomische Situation in den Köpfen der Menschen festsetzt und zur Ideologie gerinnt. Die Natur des Menschen, seine Triebstruktur, so verbanden sie Freud und Marx, ist eine im doppelten Wortsinn historische Kraft. Sie formt die gesellschaftliche Umwelt und wird zugleich und ursprünglich von dieser geformt.
Marcuses eigener Ansatz beruhte auf seiner Prägung durch Heidegger und einem anthropologischen Interesse. Von hier aus war der Schritt zum biologischen Materialismus Freuds nicht mehr weit. Marcuses Leistung war es, Freud mit Freud zu widerlegen. Für Marcuse steht am Anfang aller Kultur nicht die Triebunterdrückung, sondern der Eros. Indem er Freuds Metapsychologie fortdenkt, versöhnt er Lustprinzip und Realitätsprinzip. Wenn der zivilisatorische Fortschritt genutzt wird, um die biologisch unnötige soziale und ökonomische Unterdrückung zu beenden, kann der Eros sich befreien, zu einem allgemeinen Lebenstrieb anwachsen und dem Todestrieb den historisch bedingten Stachel, die Destruktivität nehmen, weil dessen eigentlicher Wunsch — das Ende des Leidens — erfüllt wird.
Über diese bekannten Thesen hinaus eröffnen die kleinen Texte einige nicht völlig neue und doch erfrischende Perspektiven. Die biographische Motivation des Werks kommt wieder in den Blick. Wenn Marcuse gegen den Tod in Krankheit und Elend und für ein selbstbestimmtes Sterben am Ende eines erfüllten Lebens streitet, ist das nicht nur Sozialkritik und Utopie, sondern Ausdruck der Trauer. Seine Frau Sophie starb nach langem Kampf gegen den Krebs 1951. Kurz darauf begann Marcuse „Eros and Civilization”. Aus der Distanz rückt Marcuse dort näher zum einstigen Gegner Foucault, wo er seine Vorstellung der Lebenskunst entwirft. In der befreiten Gesellschaft führt die Triebbefreiung zu einer Ästhetik der Existenz. Sexualität wird frei zum Eros sublimiert und erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens. Im Hintergrund dieses Glücksbegriffes steht das Wiederfinden der verlorenen Paradiese aus Vorgeschichte und Kindheit. Wie wenig Marcuse die militanten Esoteriker und Erotiker verstand, zeigt ein Interview von 1971. Die „Verwaltung des Glücks” mit Händchenhalten und Drogenrausch „löst bei mir Übelkeit aus”, erwiderte er denen, die ihn für den Vordenker ihrer Bewegung hielten.
Im Herzen blieb er ein in der abendländischen Tradition verwurzelter Humanist. „Ich mag mich irren, aber ich glaube, daß ein Mensch ein paar Dinge selbst lernen muß”, rät er den jungen Wilden. Dass sein Bildungsideal elitär war, dessen war er sich bewusst. So blieb er bis zum Ende ein Philosoph, der eine „Werkstatt für intellektuelle Waffen” betrieb, weil er daran glaubte, dass die Begriffe gegenüber der Realität eine Widerstandskraft besitzen. Wie ein Philosoph der Antike wollte er seine Schüler lehren, selbständig denkend die Welt zu durchschauen. Erst dann konnte der Kampf beginnen für eine Gesellschaft, in der jedes Individuum sich frei entfaltet.
TIM B. MÜLLER
HERBERT MARCUSE: Nachgelassene Schriften, Band 3: Philosophie und Psychoanalyse. Hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Deutsch von Cornelia Lösch. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2002. 233 Seiten, 24 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Selbständig denken: Herbert Marcuses nachgelassene Schriften
Horkheimer und Adorno an der Spitze des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und in den USA Herbert Marcuse, der Mann fürs Grobe, Held und väterlicher Freund der Studentenbewegung: Wer die polemischen Geschichten von 1968 nicht mehr hören will, entdeckt nun einen Marcuse jenseits der Klischees.
Gerade ist der dritte Band einer auf fünf Bände angelegten Edition der nachgelassenen Schriften erschienen. Derlei Editionen leben von Archivalien, von Fundstücken, anhand derer man den Zwischenschritten des Denkens auf die Spur kommt. Die gesammelten kleinen Texte der Jahre 1956 bis 1971 über Philosophie und Psychoanalyse enthalten nichts wesentlich Neues. Weitgehend sind sie Beiwerk zu den gleichzeitig entstandenen Büchern Marcuses, insbesondere zu „Triebstruktur und Gesellschaft”, im amerikanischen Original viel passender „Eros and Civilization” betitelt. Wer — ob Freund oder Feind Marcuses — nach dem Altbekannten sucht, wird es auch in diesen Vorträgen, Zeitschriftenartikeln und Interviews finden. Nur entgeht ihm dann das Bedeutsame.
Zuvor jedoch muss der Leser sich durch die einleitende Studie von Alfred Schmidt arbeiten, „Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse”. Achtzig Seiten stark und dennoch ein Glücksfall, denn Schmidt erörtert klar, worauf es ankommt: Das Problem einer marxistischen Psychologie, die zwischen gesellschaftlichem Sein und individuellem Bewusstsein vermittelt, hat die Frankfurter Schule am einfallsreichsten gelöst. Mit Freud beschrieb sie, wie sich über das Triebleben die ökonomische Situation in den Köpfen der Menschen festsetzt und zur Ideologie gerinnt. Die Natur des Menschen, seine Triebstruktur, so verbanden sie Freud und Marx, ist eine im doppelten Wortsinn historische Kraft. Sie formt die gesellschaftliche Umwelt und wird zugleich und ursprünglich von dieser geformt.
Marcuses eigener Ansatz beruhte auf seiner Prägung durch Heidegger und einem anthropologischen Interesse. Von hier aus war der Schritt zum biologischen Materialismus Freuds nicht mehr weit. Marcuses Leistung war es, Freud mit Freud zu widerlegen. Für Marcuse steht am Anfang aller Kultur nicht die Triebunterdrückung, sondern der Eros. Indem er Freuds Metapsychologie fortdenkt, versöhnt er Lustprinzip und Realitätsprinzip. Wenn der zivilisatorische Fortschritt genutzt wird, um die biologisch unnötige soziale und ökonomische Unterdrückung zu beenden, kann der Eros sich befreien, zu einem allgemeinen Lebenstrieb anwachsen und dem Todestrieb den historisch bedingten Stachel, die Destruktivität nehmen, weil dessen eigentlicher Wunsch — das Ende des Leidens — erfüllt wird.
Über diese bekannten Thesen hinaus eröffnen die kleinen Texte einige nicht völlig neue und doch erfrischende Perspektiven. Die biographische Motivation des Werks kommt wieder in den Blick. Wenn Marcuse gegen den Tod in Krankheit und Elend und für ein selbstbestimmtes Sterben am Ende eines erfüllten Lebens streitet, ist das nicht nur Sozialkritik und Utopie, sondern Ausdruck der Trauer. Seine Frau Sophie starb nach langem Kampf gegen den Krebs 1951. Kurz darauf begann Marcuse „Eros and Civilization”. Aus der Distanz rückt Marcuse dort näher zum einstigen Gegner Foucault, wo er seine Vorstellung der Lebenskunst entwirft. In der befreiten Gesellschaft führt die Triebbefreiung zu einer Ästhetik der Existenz. Sexualität wird frei zum Eros sublimiert und erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens. Im Hintergrund dieses Glücksbegriffes steht das Wiederfinden der verlorenen Paradiese aus Vorgeschichte und Kindheit. Wie wenig Marcuse die militanten Esoteriker und Erotiker verstand, zeigt ein Interview von 1971. Die „Verwaltung des Glücks” mit Händchenhalten und Drogenrausch „löst bei mir Übelkeit aus”, erwiderte er denen, die ihn für den Vordenker ihrer Bewegung hielten.
Im Herzen blieb er ein in der abendländischen Tradition verwurzelter Humanist. „Ich mag mich irren, aber ich glaube, daß ein Mensch ein paar Dinge selbst lernen muß”, rät er den jungen Wilden. Dass sein Bildungsideal elitär war, dessen war er sich bewusst. So blieb er bis zum Ende ein Philosoph, der eine „Werkstatt für intellektuelle Waffen” betrieb, weil er daran glaubte, dass die Begriffe gegenüber der Realität eine Widerstandskraft besitzen. Wie ein Philosoph der Antike wollte er seine Schüler lehren, selbständig denkend die Welt zu durchschauen. Erst dann konnte der Kampf beginnen für eine Gesellschaft, in der jedes Individuum sich frei entfaltet.
TIM B. MÜLLER
HERBERT MARCUSE: Nachgelassene Schriften, Band 3: Philosophie und Psychoanalyse. Hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Deutsch von Cornelia Lösch. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2002. 233 Seiten, 24 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.1999Ein Marcuse ist nicht genug
Schafft ein, zwei, viele Vietnams, so lautet ein bekannter Slogan der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Einer ihrer Mentoren aber, Herbert Marcuse, scheint die Parole auf sich selbst bezogen und sich darangemacht zu haben, ein, zwei, viele Marcuses zu schaffen. Und dieses Unternehmen war erfolgreich. Der erste Band, seine nachgelassenen Schriften, der sechs Texte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren vereint, zeigt eine solche Fülle von Marcuses, dass man Mühe hat, sie alle unter einen Hut zu bekommen (Herbert Marcuse: "Nachgelassene Schriften". Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999. 176 S., geb., 38,- DM). Da ist ein Jefferson-Marcuse, der mit beredten Worten beklagt, was aus life, liberty, and the pursuit of happiness in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft geworden ist. Ein William-Morris-Marcuse, der von einer Vervollkommnung der verschandelten Objektwelt nach den Maßgaben der Schönheit träumt. Ein André-Breton-Marcuse, der die kulturrevolutionäre Entsublimierung auf die Tagesordnung setzt. Und ein Malraux-Marcuse, der um die Bestände seines imaginären Museums fürchtet. Ferner treten auf: ein Erbe Husserls und Heideggers, der den wissenschaftlich-technischen "Entwurf" politisch zu deuten versucht. Ein Berater des State Department, der die Chancen für antidemokratische Volksbewegungen im Nachkriegsdeutschland auslotet. Ein erklärter Feind derselben Einrichtung, der die Vereinigten Staaten auf dem geraden Weg in den Faschismus sieht. Ein Prediger des erotischen und des moralischen Fundamentalismus. Ein Platon redivivus, der die Menschheit in die harte Zucht der Philosophen-Könige nehmen möchte. Ein Trittbrettfahrer der Roll-over-Beethoven-Bewegung. Ein idealistischer Ästhetiker Schillerscher Provenienz . . . Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen? Mit psychologischen Kategorien wird man dieser wundersamen Vervielfältigung nicht gerecht. Weiter kommt man, wenn man die genannten Figuren als Masken deutet, in die ein Ritualsubjekt schlüpft. Aus der Religionsethnologie kennt man vergleichbare Vorgänge: Bei den Irokesen beispielsweise gibt es den Bund der "False Faces", dessen Mitglieder in zahlreichen, nach Traum-Vorbildern und Modellen mythischer Geistwesen hergestellten Masken auftreten und allerlei Rituale durchführen. Sobald sie die Masken anziehen, gleichen sie sich dem von ihr dargestellten Geistwesen an, verkörpern es und gehen auf diese Weise eine temporäre Beziehung zu ihm ein, ohne dauerhaft mit ihm zu verschmelzen. Eine Verbindung zu den "False Faces" ist im Fall Marcuses nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht die große Entfernung, die zwischen den Jagdgründen der Irokesen und der kalifornischen Küste liegt. Dagegen spricht auch, dass Marcuse seinen Geist schon aus der Alten Welt mitgebracht hat, genauer: aus Berlin-Reinickendorf. Um 1918 muss er ihm dort zum erstenmal erschienen sein und hat ihn von da an nicht mehr losgelassen: der Geist der Revolution. Ihm folgte er in seiner Zeit als Linksheideggerianer, anschließend als Linkshegelianer im Institut für Sozialforschung und endlich als eine Art intellektueller Hobo, der auf jeden Zug aufsprang, sofern er nur nach links fuhr. Und die Vielheit der Masken? Sie ist vielleicht damit zu erklären, dass sich der Geist der Revolution vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt sieht. Die Jefferson-Maske eignet sich gut zur Stimulierung des moralischen Fundamentalismus und anschließende Trennungsriten, die eine Herauslösung von Novizen aus der Alltagsordnung bewirken. Die Breton-Maske ist hilfreich bei Schwellen- und Umwandlungsriten. Die Platon-Maske bewährt sich bei Angliederungsriten, die die Initianden des revolutionären Geistes in die Gemeinschaft der "neuen Menschen" inkorporieren. Für jede Aufgabe eine spezielle Maske: Das erinnert nun doch wieder sehr an die False Faces. Die Kritische Theorie, hat kürzlich ein Philosoph behauptet, sei tot. Wenn er damit den Geist der Revolution gemeint haben sollte, so hat er sich geirrt. Geister sterben nie. Sie mögen zwar mit der Zeit ihre Kraft einbüßen und, wie in diesem Fall, zur political correctness abmagern, doch wirklich totzukriegen sind sie nicht. Und so werden wohl auch Marcuses nachgelassene Schriften, von denen noch fünf weitere Bände ins Haus stehen, ihre Leserinnen und Leser finden, auch wenn es immer die gleichen Rituale sind, die in ihnen zelebriert werden.
STEFAN BREUER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schafft ein, zwei, viele Vietnams, so lautet ein bekannter Slogan der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Einer ihrer Mentoren aber, Herbert Marcuse, scheint die Parole auf sich selbst bezogen und sich darangemacht zu haben, ein, zwei, viele Marcuses zu schaffen. Und dieses Unternehmen war erfolgreich. Der erste Band, seine nachgelassenen Schriften, der sechs Texte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren vereint, zeigt eine solche Fülle von Marcuses, dass man Mühe hat, sie alle unter einen Hut zu bekommen (Herbert Marcuse: "Nachgelassene Schriften". Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999. 176 S., geb., 38,- DM). Da ist ein Jefferson-Marcuse, der mit beredten Worten beklagt, was aus life, liberty, and the pursuit of happiness in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft geworden ist. Ein William-Morris-Marcuse, der von einer Vervollkommnung der verschandelten Objektwelt nach den Maßgaben der Schönheit träumt. Ein André-Breton-Marcuse, der die kulturrevolutionäre Entsublimierung auf die Tagesordnung setzt. Und ein Malraux-Marcuse, der um die Bestände seines imaginären Museums fürchtet. Ferner treten auf: ein Erbe Husserls und Heideggers, der den wissenschaftlich-technischen "Entwurf" politisch zu deuten versucht. Ein Berater des State Department, der die Chancen für antidemokratische Volksbewegungen im Nachkriegsdeutschland auslotet. Ein erklärter Feind derselben Einrichtung, der die Vereinigten Staaten auf dem geraden Weg in den Faschismus sieht. Ein Prediger des erotischen und des moralischen Fundamentalismus. Ein Platon redivivus, der die Menschheit in die harte Zucht der Philosophen-Könige nehmen möchte. Ein Trittbrettfahrer der Roll-over-Beethoven-Bewegung. Ein idealistischer Ästhetiker Schillerscher Provenienz . . . Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen? Mit psychologischen Kategorien wird man dieser wundersamen Vervielfältigung nicht gerecht. Weiter kommt man, wenn man die genannten Figuren als Masken deutet, in die ein Ritualsubjekt schlüpft. Aus der Religionsethnologie kennt man vergleichbare Vorgänge: Bei den Irokesen beispielsweise gibt es den Bund der "False Faces", dessen Mitglieder in zahlreichen, nach Traum-Vorbildern und Modellen mythischer Geistwesen hergestellten Masken auftreten und allerlei Rituale durchführen. Sobald sie die Masken anziehen, gleichen sie sich dem von ihr dargestellten Geistwesen an, verkörpern es und gehen auf diese Weise eine temporäre Beziehung zu ihm ein, ohne dauerhaft mit ihm zu verschmelzen. Eine Verbindung zu den "False Faces" ist im Fall Marcuses nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht die große Entfernung, die zwischen den Jagdgründen der Irokesen und der kalifornischen Küste liegt. Dagegen spricht auch, dass Marcuse seinen Geist schon aus der Alten Welt mitgebracht hat, genauer: aus Berlin-Reinickendorf. Um 1918 muss er ihm dort zum erstenmal erschienen sein und hat ihn von da an nicht mehr losgelassen: der Geist der Revolution. Ihm folgte er in seiner Zeit als Linksheideggerianer, anschließend als Linkshegelianer im Institut für Sozialforschung und endlich als eine Art intellektueller Hobo, der auf jeden Zug aufsprang, sofern er nur nach links fuhr. Und die Vielheit der Masken? Sie ist vielleicht damit zu erklären, dass sich der Geist der Revolution vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt sieht. Die Jefferson-Maske eignet sich gut zur Stimulierung des moralischen Fundamentalismus und anschließende Trennungsriten, die eine Herauslösung von Novizen aus der Alltagsordnung bewirken. Die Breton-Maske ist hilfreich bei Schwellen- und Umwandlungsriten. Die Platon-Maske bewährt sich bei Angliederungsriten, die die Initianden des revolutionären Geistes in die Gemeinschaft der "neuen Menschen" inkorporieren. Für jede Aufgabe eine spezielle Maske: Das erinnert nun doch wieder sehr an die False Faces. Die Kritische Theorie, hat kürzlich ein Philosoph behauptet, sei tot. Wenn er damit den Geist der Revolution gemeint haben sollte, so hat er sich geirrt. Geister sterben nie. Sie mögen zwar mit der Zeit ihre Kraft einbüßen und, wie in diesem Fall, zur political correctness abmagern, doch wirklich totzukriegen sind sie nicht. Und so werden wohl auch Marcuses nachgelassene Schriften, von denen noch fünf weitere Bände ins Haus stehen, ihre Leserinnen und Leser finden, auch wenn es immer die gleichen Rituale sind, die in ihnen zelebriert werden.
STEFAN BREUER
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kleinere Texte des Philosophen sind es, die in diesem Nachlassband kennenzulernen sind, entstanden meist am Rande der Großwerke, das heißt in den Jahren 1956 bis 1971, vor allem von "Triebstruktur und Gesellschaft". Darin hatte Marcuse Freud auf den Kopf gestellt, indem er Eros und nicht den Todestrieb als Grundlegung der Zivilisation postulierte und dadurch sowohl Kritik an der Gegenwartsgesellschaft als auch eine in den sechziger Jahren ungemein folgenreiche (erotische) Utopie der Befreiung postulieren konnte. Die hier versammelten Interviews, Aufsätze, Artikel eröffnen keinen völlig neuen Blick auf den Philosophen, aber doch, so der Rezensent Tim B. Müller, "erfrischende Perspektiven". Sehr lesenswert, ja sogar ein "Glücksfall" scheint Müller - dem Umfang von 80 Seiten zum Trotz - auch die Einleitung Alfred Schmidts.
© Perlentaucher Medien GmbH
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