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Produktdetails
  • Wissenschaft im 20. Jahrhundert
  • Verlag: WBG Academic
  • Seitenzahl: 356
  • Abmessung: 18mm x 145mm x 219mm
  • Gewicht: 484g
  • ISBN-13: 9783534138876
  • Artikelnr.: 26490101
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.1998

Er ist so froh und aufgedreht
Drum schreibt er schon wie ein Poet: Dirk Hartmann bringt die Gefühle auf den Begriff

"Für unsere Liebe, die unbeschreiblich ist und alles verzaubert hat", bedankt sich Dirk Hartmann im Vorwort zu seiner Habilitationsschrift. Hartmann gehört zum methodischen Kulturalismus. In Anlehnung an Peter Janichs Protophysik bemüht er sich um eine Protopsychologie. Der Kulturalismus geht davon aus, daß die Wirklichkeit sprachlich und damit kulturell konstituiert ist. Zugleich soll die Gefahr des Relativismus vermieden werden durch eine Fundierung des Sprechens im Handeln. Auch Wissenschaft bestehe nicht in einer Abbildung der Welt, sondern in der Unterstützung und Verbesserung lebensweltlicher Praxis. Wahrheit bemesse sich nicht an einer obskuren Korrespondenz zur Realität. "Wahrheit ist Erfolg im Handeln." Und da verwundert dann die Danksagung.

Eher unproblematisch ist, daß die Liebe alles verzaubert habe. Eingerahmt durch eine Abgrenzung des Handelns vom Verhalten und einen Abriß der Diskussion des Leib-Seele-Problems, gibt Hartmanns Arbeit im Kern eine philosophische Rekonstruktion der Grundbegriffe der kognitiven und der emotiven Psychologie. "Ein Gefühl, welches kurzfristig mit so hoher Intensität auftritt, daß die Fähigkeit zu besonnenem Handeln eingeschränkt wird, nennt man einen Affekt." Von aktuellen Gefühlen ist die Stimmung zu unterscheiden, eine temporäre Neigung, auf alle Vorkommnisse mit einem bestimmten Gefühl zu reagieren. Auch die Leidenschaft ist eine solche Disposition. Allerdings ist sie "zeitlich stabil auf spezifische Situationen oder Personen bezogen" - auch wenn "bekanntlich weder Haß noch Liebe ewig währen". "Der entscheidende Unterschied aber ist der, daß Stimmungen das gesamte Denken und Handeln gefühlsmäßig beeinflussen (,tönen'), während die Aktualisierung von Leidenschaften immer auf spezifische Situationstypen bezogen ist."

Daran befremdet nun zwar, begriffliche Konsistenz unterstellt, daß es sich bei Hartmanns Liebe, die ja alles verzaubert ("tönt"), nicht mehr um Leidenschaft, sondern nur noch um eine Stimmung handeln müßte. Wir erfahren jedoch wenig später bei der Rekonstruktion der Triebe, daß mit Unlustgefühlen die Erhöhung von Antrieben, mit Lustgefühlen eine Antriebsreduktion einhergeht. Oder, wie Hartmann mit dem Volksmund verdeutlicht: "Wenn die Maus satt ist, ist das Mehl bitter." Es geht also alles mit natürlichen Dingen zu. Und praktisch, wie Hartmanns Vernunft ist, findet sie auch ein Gegenmittel. Am Beispiel des Geschlechtsaktes wird vorgeführt, wie die Natur der Dinge überlistet werden kann: Temporäre Deprivation wirke lust- und das heißt wohl auch leidenschaftssteigernd.

Wirklich seltsam ist erst, wie Hartmanns Liebe unbeschreiblich sein kann. Zumal sie als unbeschreibliche geradezu unerkennbar sein müßte. "Nur von jemandem, der einen wahrgenommenen Unterschied auch beschreiben kann, wollen wir sagen, daß er den betreffenden Unterschied erkennt." Grundlage der kognitiven Psychologie ist die Wahrnehmung. Und das Wahrnehmen rekonstruiert Hartmann als Unterscheiden. Die Sprache ist ein Thesaurus von fixierten Unterscheidungen. Da könnte es denn sein, daß beispielsweise die Sprache im technischen Zeitalter keine Worte für die Liebe hätte. Andererseits tritt Hartmann gerade dem Relativismus der Sapir-Whorf-Hypothese entgegen. Eben an den vielen Eskimoworten für Schnee sehe man: "Nicht die Sprache bestimmt die Wahrnehmung, sondern die Zwecke bestimmen, welche Unterscheidungen handelnd getroffen und damit, welche Unterschiede wahrgenommen und sprachlich fixiert werden." So finde sich denn auch in der Sprache europäischer Skifahrer doch noch eine differenzierte Schneeterminologie. Es gibt also für Hartmann kein grundsätzliches Problem, einen wahrgenommenen Unterschied auch zu beschreiben.

Das Wahrnehmen eines Unterschieds ist an der Wurzel die Vergegenständlichung eines unterschiedlichen Tuns. "So unterscheiden wir Brennesseln von Tomaten, wenn wir die Hände von ersteren zurückziehen, und wir unterscheiden rote von grünen Tomaten, wenn wir die ersteren ernten und die letzteren (noch) stehenlassen." "Was das Unaussprechliche genannt wird", so hatte Hegel das individuum ineffabile zurückgewiesen, "ist nichts anderes als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte", kurz: eine Partikularität ohne jede praktische Bedeutung. So daß denn die Liebe als unbeschreibliche sich von einer anderen nicht einmal wie Tomaten von Brennesseln oder grüne von roten Tomaten unterschiede.

In Wahrheit wird gleich neben der Liebe auch gedankt "für viele fruchtbare Hinweise darauf, wie ein Autor seinen Lesern das Leben etwas leichter machen kann". Tatsächlich schreibt Hartmann klar, sympathisch unprätentiös, mit vielen bei der Lektüre haltenden Beispielen. Und vermutlich ließe sich das Unbeschreibliche in einer Beschreibung der gemeinsamen Praxis sehr wohl einholen. Bestimmte Erkenntnisse, Haltungen verdanken wir bestimmten Menschen. Bestimmte Sachen kann man mit bestimmten Menschen besonders gut zusammen machen. Daran ist nichts Mystisches. Wenn Hartmann dennoch den Unsagbarkeitstopos bemüht (was nebenbei die Frage aufwirft, wie sich Topoi innerhalb eines pragmatischen Wahrheitsverständnisses erklären lassen), so mag das aus intellektueller Redlichkeit geschehen. Er sieht, daß der Begriff der Praxis andernfalls so ausgedehnt würde, daß es keinen Gegenbegriff mehr gäbe, daß mit ihm nichts mehr zu unterscheiden wäre.

Nur führt der Ausweg in viel größere Gefahren. Mit der Verzauberung durch die unbeschreibliche Liebe beziehungsweise mit den Stimmungen, dann mit den ästhetischen Reaktionen, mit der Kunst (Barlachs "Schwebender" und Mahlers "Lied von der Erde" werden genannt) füllt Hartmann eine große Ablage. Sie trägt die Aufschrift "menschliche Natur" - die nun einmal, so endet das Buch, ist, wie sie ist -, und versammelt alles, was für die lebensweltliche Praxis keinen erkennbaren Sinn hat. Indes strebt der Mensch auch von Natur aus nach Wissen. Oder um es mit Simmel vorsichtiger zu sagen: Es ist dem Menschen eigen, daß ihm die Mittel zu Zwecken werden können. Wenn aber schon Liebe, Kunst und dann der Wissensdrang in Hartmanns Kulturalismus keinen rechten Platz haben, wird die Rekonstruktion psychologischer Grundbegriffe aus dem Prinzip sprachlich gelenkter Praxis schnell zu einer wie auch immer klugen und unterhaltsamen Ausbreitung dessen, was einem Philosophen so bei seinen psychologischen Studien aufgefallen ist. GUSTAV FALKE

Dirk Hartmann: "Philosophische Grundlagen der Psychologie". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. 356 S., br., 68,- DM.

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