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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2001

Nun wissen wir, wie er dachte
Der Werkstattbericht: Ludwig Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen", genetisch ediert

"In dem Folgenden will ich eine Auswahl von philosophischen Bemerkungen veröffentlichen, die ich im Laufe der letzten neun Jahre niedergeschrieben habe ... Ich habe alle diese Gedanken ursprünglich als Bemerkungen, kurze Absätze, niedergeschrieben. Manchmal in längeren Ketten über denselben Gegenstand, manchmal sprungweise vom einen zum andern übergehend. Meine Absicht war es, all dies einmal in einem Buche zusammenzufassen, von dessen Form ich mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Vorstellungen machte."

So beginnt das "Vorwort", das Ludwig Wittgenstein im August 1938 in Cambridge zu einem Buch verfaßte, das ihm zu dieser Zeit vorschwebte. Erschienen ist diese Auswahl von Bemerkungen ebensowenig wie andere, die Wittgenstein zwischen seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1929 und seinem Tod 1951 zusammenstellte. Der Schüler und spätere Nachlaßverwalter Rush Rees machte sich damals zwar an die Übersetzung in Hinblick auf die geplante zweisprachige Ausgabe, doch dann nahm die Sache den bei Wittgenstein üblichen Verlauf: Eine Überarbeitung folgte der nächsten - und schließlich blieb die frühe "Logisch-philosophische Abhandlung" das einzige zu Lebzeiten publizierte Buch Wittgensteins.

Erst zwei Jahre nach seinem Tod erschienen als erste Veröffentlichung aus dem Nachlaß die "Philosophischen Untersuchungen". Sie können, sieht man von ihrem schmäleren zweiten Teil einmal ab, als die zuletzt vorliegende Fassung des "Buches" gelten, von dem Wittgenstein im eingangs zitierten Vorwort spricht. Und doch muß man etwas vorsichtiger formulieren: Sie sind die zuletzt, aber immerhin schon Anfang 1946 vorliegende Version einer im Nachlaß verfolgbaren Filiation von Umarbeitungen, Streichungen, Erweiterungen und Umgruppierungen, die ihren Ausgang von etwa zweihundert Bemerkungen nehmen, von denen es die meisten bis in die späte, posthum gedruckte Sammlung von insgesamt fast siebenhundert durchnumerierten Bemerkungen schaffen.

Diese erste Zusammenstellung von knapp zweihundert Bemerkungen entsteht 1936/37, die zuletzt vorliegende Fassung datiert neun Jahre später. Sie enthält jedoch nicht wenige Bemerkungen, die sich wiederum bis in jene Manuskriptbände zurückverfolgen lassen, die Wittgenstein bereits kurz nach der Rückkehr nach Cambridge, also sechzehn Jahre früher, zu füllen begann. Sich in in diesen Textschichten zurechtzufinden, ist nicht gerade einfach, auf jeden Fall zeitaufwendig. Solche Bemühung hat allerdings im Fall Wittgensteins nichts mit selbstvergessener Philologie zu tun, sondern entspringt der unabweisbaren Einsicht, daß sich diese Textformationen nicht in durchgängige Verlaufsgeschichten distinkter "Werk"-Projekte zerlegen lassen. Man kommt deshalb kaum umhin, den gesamten Nachlaß als jenes Werk aufzufassen, das die entsprechenden Bände der Werkedition in hervorgehobenen Verzweigungen oder auch (nicht unbedingt definitiven) Endpunkten der Textfiliationen abbilden. Wobei sich die Herausgeber öfters auch erstaunliche Freiheiten nahmen und manche nicht recht glückliche Entscheidung trafen.

Seit knapp zwei Jahren ist der Nachlaß auf CD-ROM verfügbar, samt Faksimileversion. Der Rückgriff auf die Texte in Wittgensteins Anordnungen ist damit bequem möglich geworden. In absehbarer Zeit werden hoffentlich auch die Bände der sogenannten "Wiener Ausgabe" komplett vorliegen, die die Textschichten bis 1935 in gedruckter Fassung präsentieren, ergänzt vor allem um Konkordanzbände, die die Zusammenhänge innerhalb des Textgeflechts durchsichtig machen. Wer in den ersten Bänden dieser Edition blättert oder die entsprechenden Manuskriptbände auf der CD-ROM aufruft, der stößt zwar bereits auf manche Eintragung, die er aus den "Philosophischen Untersuchungen" so oder zumindest so ähnlich kennt. Indes liegt der deutlich erkennbare Auftakt einer innerhalb des Nachlasses herauspräparierbaren Textgeschichte der "Untersuchungen" eben erst später, das heißt nachdem Wittgenstein das sogenannte "Big Typescript" und die Bearbeitung seiner Vorlesungsdiktate zugunsten eines neuen Anlaufs beiseitelegt.

Von dieser "Urfassung", die erst 1993 entdeckt wurde, nimmt die nun erschienene kritisch-genetische Edition der "Untersuchungen" ihren Ausgang, um auf sie vier weitere Fassungen folgen zu lassen, deren letzte nur noch in wenigen Varianten von dem 1953 erschienenen Buch abweicht. Mit diesen vier Fassungen hat man jetzt die wesentlichen Entwicklungsstufen einer Textgeschichte vor sich, die zu den "Untersuchungen" in der bekannten Gestalt führt. Das Verweissystem zwischen diesen Fassungen, samt Hinweisen auf andere Nachlaßteile, verfolgt dabei nicht den Anspruch größtmöglicher Dichte: Es ist der Versuch, mit relativ sparsamen Mitteln auszukommen, um die Texte nicht vom Apparat überwuchern zu lassen.

Daß der Vergleich der Fassungen unmittelbar erkennen lasse, worin sich die verschiedenen Vorstellungen unterscheiden, die Wittgenstein von seinem "philosophischen Buch" über die Jahre hegte, wäre wahrscheinlich zuviel gesagt. Aber man sieht, wie sich Themenkomplexe und argumentative Verkettungen aufbauen, wie sie erweitert oder auch - etwa die anfangs noch zahlreichen Bemerkungen zur Philosophie der Mathematik - ausgegliedert werden; und aufschlußreich ist es dabei immer, wo Wittgenstein die Schnitte setzt, wie von ihm aufgetrennt und zusammengeführt wird. Die Kenntnis dieser Operationen, darauf haben kluge Interpreten schon früh hingewiesen, gibt einige Winke für die Lektüre der Endfassung der "Untersuchungen".

Bedenkt man Wittgensteins Arbeitsweise, erstaunt es fast, daß die ersten knapp zweihundert Bemerkungen ziemlich stabil bleiben. Obwohl man auch dort gleich auf Bearbeitungen und Umstellungen stößt, insbesondere in den Bemerkungen über den Charakter der Philosophie und der philosophischen Tätigkeit: Da wird zusammengestrichen, werden Bemerkungen aufgesplittert, neue Dramaturgien entworfen. Gleichzeitig führt der Blick auf die am Fuß der Seiten verzeichneten Varianten vor Augen, wie hartnäckig und akribisch Wittgenstein um seine Formulierungen ringt.

"Es zeigte sich mir", schrieb Wittgenstein im ersten Entwurf zu einem Vorwort, "daß das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; daß meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, einem Gleise entlang weiterzuzwingen. Dies hing allerdings mit der Natur des Gegenstands selbst zusammen. Dieser Gegenstand zwingt uns, das Gedankengebiet kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen." Aber erst die spätere Fassung setzt dafür das bekannte Bild ein: "Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind." Skizzen, die auch noch aussortiert, angeordnet und beschnitten werden mußten, so daß sie erst ein Bild der durchstreiften Landschaft geben können, weshalb der Leser "eigentlich nur ein Album" vor sich habe.

Dieses Album wurde in seiner bekannten Form einer der wichtigsten philosophischen Texte des letzten Jahrhunderts. Das Sortieren, Beschneiden und Korrigieren seiner Blätter kann man dank der übersichtlichen Darstellung der neuen Edition näher ins Auge fassen, ohne dabei gleich in den Texttiefen des Nachlasses unterzugehen.

HELMUT MAYER

Ludwig Wittgenstein: "Philosophische Untersuchungen". Kritisch-genetische Edition. Herausgegeben von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman, Eike von Savigny und Georg Henrik von Wright. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1068 S., geb., 198,- DM.

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