EIN LETZTER BESUCH IM KINDHEITSPARADIES
Es ist das letzte Mal, dass Richard Sparka mit seiner Gefährtin Klara und den Kindern Karl und Ricarda nach Schmogrow im Oderbruch fährt, denn das Haus, in dem er als Kind immer seine Ferien verbrachte, wird nach dem Tod der bezaubernd-eigenwilligen Besitzer verkauft. Aber Richard entdeckt, dass sein geliebtes, naturnahes Selbstversorger-Glück an diesem Ort auch dunkle Züge trägt. Komisch und ernst, geschichtsbewusst und aktuell, detailverliebt und mit dem Blick auf die großen Fragen erzählt Jochen Schmidt von der ewigen Suche nach dem guten Leben.
Es ist das letzte Mal, dass Richard Sparka, vertraut aus Jochen Schmidts Roman "Zuckersand", mit seiner eigenen Familie, der Gefährtin Klara und den Kindern Karl und Ricarda, ins geliebte Kindheitsparadies Schmogrow im Oderbruch fährt. Nach dem Tod der Tatziets, die jahrzehntelang das Haus und den Garten, das Dorf und die Umgebung zu einem Ferienidyll und Hort des richtigen Lebens gemacht haben, wird das Haus abgerissen und das Grundstück verkauft. Richard, verstrickt in die Erziehungskonflikte mit Klara und konfrontiert mit dem Eigensinn der Kinder, will im Gedenken an die "Wunder von Schmogrow" seinen ewigen Kampf gegen die Verhässlichung der Welt fortsetzen. In Erinnerungen und Erkundigungen, mit einer Art Archiv der Geschichte und der geistigen und praktischen Lebensweisheiten der Familie Tatziet, forscht Richard dem Glück Schmogrows nach und entdeckt, dass Vieles in dem naturnahen Selbstversorger-Paradies - mit seiner Liebe zur Dauer und dem Widerstand gegen jegliche Verschwendung - auch dunkle Züge trägt ... Komisch und ernst, geschichtsbewusst und sehr aktuell, detailverliebt und mit dem Blick auf die großen Fragen erzählt Jochen Schmidt von der ewigen Suche nach dem guten Leben.
Es ist das letzte Mal, dass Richard Sparka mit seiner Gefährtin Klara und den Kindern Karl und Ricarda nach Schmogrow im Oderbruch fährt, denn das Haus, in dem er als Kind immer seine Ferien verbrachte, wird nach dem Tod der bezaubernd-eigenwilligen Besitzer verkauft. Aber Richard entdeckt, dass sein geliebtes, naturnahes Selbstversorger-Glück an diesem Ort auch dunkle Züge trägt. Komisch und ernst, geschichtsbewusst und aktuell, detailverliebt und mit dem Blick auf die großen Fragen erzählt Jochen Schmidt von der ewigen Suche nach dem guten Leben.
Es ist das letzte Mal, dass Richard Sparka, vertraut aus Jochen Schmidts Roman "Zuckersand", mit seiner eigenen Familie, der Gefährtin Klara und den Kindern Karl und Ricarda, ins geliebte Kindheitsparadies Schmogrow im Oderbruch fährt. Nach dem Tod der Tatziets, die jahrzehntelang das Haus und den Garten, das Dorf und die Umgebung zu einem Ferienidyll und Hort des richtigen Lebens gemacht haben, wird das Haus abgerissen und das Grundstück verkauft. Richard, verstrickt in die Erziehungskonflikte mit Klara und konfrontiert mit dem Eigensinn der Kinder, will im Gedenken an die "Wunder von Schmogrow" seinen ewigen Kampf gegen die Verhässlichung der Welt fortsetzen. In Erinnerungen und Erkundigungen, mit einer Art Archiv der Geschichte und der geistigen und praktischen Lebensweisheiten der Familie Tatziet, forscht Richard dem Glück Schmogrows nach und entdeckt, dass Vieles in dem naturnahen Selbstversorger-Paradies - mit seiner Liebe zur Dauer und dem Widerstand gegen jegliche Verschwendung - auch dunkle Züge trägt ... Komisch und ernst, geschichtsbewusst und sehr aktuell, detailverliebt und mit dem Blick auf die großen Fragen erzählt Jochen Schmidt von der ewigen Suche nach dem guten Leben.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch freut sich über den für sie bisher besten Roman von Jochen Schmidt: "Phlox" spielt in dem fiktiven Ort Schmogrow in der DDR, an den sich der Erzähler sehnsüchtig, mit fast proust'schen Qualitäten erinnert, wie die Rezensentin bezeugt. Die ländliche Geschichte überzeugt sie dadurch, dass statt spannungsreicher Handlung Beobachtungen und Assoziationen Vorrang haben und sich entwickeln können. Daneben, so Teutsch, widmet sich der Autor auch der (Kriegs-)Vergangenheit des idyllischen Ortes, die weniger Schönes zum Vorschein bringt. Eine rundum gelungene poetische und reflektierende Erinnerungsreise, resümiert sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2023Der Duft von
gelagertem Obst
Immer am
Erinnerungsstrom entlang:
Jochen Schmidts Roman „Phlox“
Erinnerungen haben in ihren besten und ehrlichsten Momenten etwas von Expeditionen. Etwas Archäologisches haftet ihnen an, denn von Lebensalter zu Lebensalter wechselt der Umgang mit dem, was das Gedächtnis bereithält. Es muss immer wieder neu gesichtet und geordnet werden. Ans Ende gelangt man da nie, denn gerade in Erinnerungsarbeit gilt auch das Prinzip Plötzlichkeit: Etwas bis dahin Unbeachtetes taucht plötzlich aus dem Konvolut so frisch und neu auf wie nie zuvor gesehen und verwandelt damit den ganzen bisherigen scheinbar so sicher archivierten Erinnerungszusammenhang.
Der Schriftsteller Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, hat seinen Erinnerungsband „Phlox“ genannt, er erzählt von einer Fahrt in ein Dorf im Oderbruch namens Schmogrow. Zugleich ist es eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. Was zuerst idyllisch erscheint, sich als Traumreich alter Sitten und Gebräuche, bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet im gewissermaßen atemlos schwadronierenden Strom des Schmidt’schen Memorierens und Beschwörens von Dorf und Land, von Leuten und Nachbarn, von geliebten Menschen und entfernten Bekannten, von Flüchtlingen und Hängengebliebenen, färbt sich dunkler bis ins Schwarze und Böse hinein. Sobald Schmidt, ohne zu zögern, auch die Kriegs- und Fluchterlebnisse aufgräbt, die Überlebensumstände der Schmogrower und derer, die dort landeten, tauchen die Wirklichkeiten von Naziherrschaft und russischen Besatzungsgräueln auf, ohne dass je falsch moralisiert wird.
Dieses Nebeneinander von Erzählen und Erzähltem, von Erinnerung in die unterschiedlichsten Schichten hinein ist fast unmerklich, doch wirksam inszeniert. An keiner Stelle überhebt sich der Autor über die gemachten Erfahrungen, er benutzt sie nie zum Besserwissen. Schmidt bleibt ganz nah dran, ob er die Gärten und alten Obstbäume schildert, Erntevorgänge aus alter Zeit memoriert, das Haus und seine Räumlichkeiten beschreibt oder die Dialektfärbungen, wie sie in Schmogrow aufklingen, wenn die Alten aus ihren Leben erzählen, nachbildet.
So geraten auch die Lesenden tief ins Schmogrow-Universum, weil es nirgendwo Ausstiege zu geben scheint, umweht von der andauernden Suada des Autors auf seiner Forschungstour. Das kann ermüden, auch wird die Fülle der Details nicht so plastisch, dass sie im eigenen Gedächtnis haften bliebe. Ein ungeahnter Effekt aber stellt sich ein: Man ertappt sich en passant dabei, in die eigene Erinnerungswelt abzudriften.
Die Schmidt-Erfahrungen im Oderbruch verleiten dazu, Parallelen zu ziehen, lassen Gesichter und Stimmen der eigenen Vergangenheit aufleuchten. Es riecht nach gelagertem Obst, die Erzählung einer Pflaumenmusernte taucht auf, von der einst Onkel W. erzählt hat. Gut möglich, dass Schmidt mit der gleichsam ungefilterten Dichte seines Herbeierzählens auf dergleichen Gedächtnisanimation bei seinen Lesern aus sein könnte. Jedenfalls blüht der Phlox in Schmogrow so intensiv, dass die Stauden in den eigenen Vorgärten zu duften beginnen. Wenn man sich richtig erinnert.
HARALD EGGEBRECHT
Jochen Schmidt: Phlox. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2022.
479 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
gelagertem Obst
Immer am
Erinnerungsstrom entlang:
Jochen Schmidts Roman „Phlox“
Erinnerungen haben in ihren besten und ehrlichsten Momenten etwas von Expeditionen. Etwas Archäologisches haftet ihnen an, denn von Lebensalter zu Lebensalter wechselt der Umgang mit dem, was das Gedächtnis bereithält. Es muss immer wieder neu gesichtet und geordnet werden. Ans Ende gelangt man da nie, denn gerade in Erinnerungsarbeit gilt auch das Prinzip Plötzlichkeit: Etwas bis dahin Unbeachtetes taucht plötzlich aus dem Konvolut so frisch und neu auf wie nie zuvor gesehen und verwandelt damit den ganzen bisherigen scheinbar so sicher archivierten Erinnerungszusammenhang.
Der Schriftsteller Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, hat seinen Erinnerungsband „Phlox“ genannt, er erzählt von einer Fahrt in ein Dorf im Oderbruch namens Schmogrow. Zugleich ist es eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. Was zuerst idyllisch erscheint, sich als Traumreich alter Sitten und Gebräuche, bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet im gewissermaßen atemlos schwadronierenden Strom des Schmidt’schen Memorierens und Beschwörens von Dorf und Land, von Leuten und Nachbarn, von geliebten Menschen und entfernten Bekannten, von Flüchtlingen und Hängengebliebenen, färbt sich dunkler bis ins Schwarze und Böse hinein. Sobald Schmidt, ohne zu zögern, auch die Kriegs- und Fluchterlebnisse aufgräbt, die Überlebensumstände der Schmogrower und derer, die dort landeten, tauchen die Wirklichkeiten von Naziherrschaft und russischen Besatzungsgräueln auf, ohne dass je falsch moralisiert wird.
Dieses Nebeneinander von Erzählen und Erzähltem, von Erinnerung in die unterschiedlichsten Schichten hinein ist fast unmerklich, doch wirksam inszeniert. An keiner Stelle überhebt sich der Autor über die gemachten Erfahrungen, er benutzt sie nie zum Besserwissen. Schmidt bleibt ganz nah dran, ob er die Gärten und alten Obstbäume schildert, Erntevorgänge aus alter Zeit memoriert, das Haus und seine Räumlichkeiten beschreibt oder die Dialektfärbungen, wie sie in Schmogrow aufklingen, wenn die Alten aus ihren Leben erzählen, nachbildet.
So geraten auch die Lesenden tief ins Schmogrow-Universum, weil es nirgendwo Ausstiege zu geben scheint, umweht von der andauernden Suada des Autors auf seiner Forschungstour. Das kann ermüden, auch wird die Fülle der Details nicht so plastisch, dass sie im eigenen Gedächtnis haften bliebe. Ein ungeahnter Effekt aber stellt sich ein: Man ertappt sich en passant dabei, in die eigene Erinnerungswelt abzudriften.
Die Schmidt-Erfahrungen im Oderbruch verleiten dazu, Parallelen zu ziehen, lassen Gesichter und Stimmen der eigenen Vergangenheit aufleuchten. Es riecht nach gelagertem Obst, die Erzählung einer Pflaumenmusernte taucht auf, von der einst Onkel W. erzählt hat. Gut möglich, dass Schmidt mit der gleichsam ungefilterten Dichte seines Herbeierzählens auf dergleichen Gedächtnisanimation bei seinen Lesern aus sein könnte. Jedenfalls blüht der Phlox in Schmogrow so intensiv, dass die Stauden in den eigenen Vorgärten zu duften beginnen. Wenn man sich richtig erinnert.
HARALD EGGEBRECHT
Jochen Schmidt: Phlox. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2022.
479 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2023Im Combray der späten DDR
Jochen Schmidts Roman "Phlox" ist ein stilistisch herausragendes Kaleidoskop einer ostdeutschen Kindheit und gesamtdeutschen Gegenwart
Schon die Namen in Jochen Schmidts neuem Roman bergen das innere Rätsel der Handlung, in die sie vom Autor auf fast fünfhundert Seiten behutsam eingebettet wurden. "Phlox" ist der Titel des Romans, wobei es sich um eine ebenso wohlriechende wie wohlklingende Pflanze aus der Familie der Sperrkrautgewächse handelt. Man findet sie in "Schmogrow", einem fiktiven Ort im Oderbruch. Hier verbringen die Familie des Erzählers zu Ostzeiten und derselbe Erzähler als junger Familienvater zu Westzeiten endlos dahinschlendernde Sommertage. Gastgeber und Phloxpfleger im Sinne Karl Foersters ("Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum") ist das Ehepaar "Tatziet", das Jahr für Jahr Feriengäste von diesseits und jenseits der Mauer wiederum in den Mauern eines Gutshauses willkommen heißt. Diese Worttrias aus "Schmogrow", "Tatziet" und "Phlox" erzeugt, auch ohne die Handlung zu kennen, einen satten Akkord - harmonisch genug, um dem Ohr zu schmeicheln, ausreichend dissonant, um sich interessant zu machen. "Schmogrow" ist der Schmelz. "Tatziet" ist die ausgefahrene Kralle. Der "Phlox" schließlich vereint beides, das Weiche und das Widerspenstige.
Und wo wir schon bei den lyrischen Qualitäten des Titels sind. "Juchhe! Juchhe! Juchheisa! Heisa! He!", schrieb einst Johann Wolfgang von Goethe. Und mit diesem Weckruf aus berufenem Dichtermund nimmt die Schmogrower Saga ihren Lauf: "Das Zentrum des Gartens bildete der 'Kompositorium' genannte Komposthaufen, zu dem alle Wege führten, man ging gern dorthin, es war immer ein Spaziergang ins Herz der Natur, hier landete alles, was selbst die Hühner verschmähten (einschließlich einer Boccia-Kugel und einer verrosteten Handgranate, die einmal beim Sieben des Komposts gefunden worden waren). Unter dem geheimnisvollen Beistand von allerhand Kleinlebewesen wurde hier aus Küchen- und Gartenabfällen wertvolle Nahrung für die verschiedenen Kulturen. Auf den drei Feldern wurden in Fruchtfolge Kartoffeln, Mais, Sonnenblumen, Bohnen oder 'Wrunken' genannte Rüben angebaut. Manche Gäste schätzten besonders den Spargel, sie spekulierten bei Überraschungsbesuchen, die sie wie zufällig in der Spargelzeit herführten, darauf, zum Mittagessen etwas von diesem etwas anrüchigen Gemüse vorgesetzt zu bekommen. (Frau Tatziet sagte: 'Zum Spargelstechen braucht man junge Augen' und schickte uns Kinder morgens mit Spankörben zu den aufgehäufelten Reihen, Ausschau nach den violetten Spitzen zu halten, die die Krume keck durchstießen und mit einem langen, scharf geschliffenen Buttermesser tief, aber nicht zu tief den Spargel zu schneiden. Später im Jahr würde hier ein Wald zartgrüner Spargelbäumchen mit giftigen Früchten wachsen.)"
Ein ausführliches Zitat an dieser Stelle, denn das Verfahren dieses von der Kritik gerne als Nostalgiker verharmlosten Autors ist der mäandrierende Gedankenstrom à la Proust. Schmogrow, das ist das Combray der späten DDR. Ein Ort, der mit der Kindheit des Erzählers sowie seines Autors verknüpft ist und in ihre ganz eigenen Elysien führt.
Doch wie auch bei Proust, dem Jochen Schmidt vor mehr als zehn Jahren ein hervorragendes Lesetagebuch gewidmet hat, ist das Herumschweifen in den Echoräumen der Kindheit mehr als bloße Reminiszenz. Im Akt des Erinnerns begegnen sich verschiedene Ebenen des Daseins wie im Traum. Einerseits gibt es den Rhythmus der Natur (Fruchtfolge!), andererseits die individuelle Lebensweise der Tatziets (Spargelstechen mit jungen Gästen!). Einerseits wird aus dem Alten die Zukunft gewonnen (Kompost!), andererseits in ihm eine Vergangenheit geborgen, die nicht vergehen will (Boccia-Kugel und Handgranate!).
Mit "Phlox" hat Jochen Schmidt seinen bisher besten Roman geschrieben, weil dieser zwar das Schmidt'sche Prinzip der anteilnehmenden Beobachtung fortsetzt, aber durch den Verzicht auf eine Handlung das Prinzip selbst zur Handlung macht. So liest man "Phlox" als vielschichtige Erzählung über ein Dorf und seine Bewohner, über einen Landstrich und dessen Geschichte, auch über einen Vater im Alter des Autors, der zurückkehrt ins zeitlose Glück seiner Kindheit und dort lernen muss loszulassen.
Ohne Handlung heißt aber keineswegs handlungsarm. Denn der Erzähler chauffiert uns per Assoziationstaxi in eine Vergangenheit mit vielen Zimmern. Hausherr in Schmogrow ist der Lehrer Tatziet, ein gebildeter Generaldilettant, der sich aufs Tüfteln versteht. Die Ferienkinder, die er für seine Konstruktionsvorhaben regelmäßig einspannt, müssen nicht erst von der "Poesie des Provisorischen" überzeugt werden. "Herr Tatziet", heißt es einmal, "zog tiefen Trost aus seinen technischen Tagträumereien. Als er in der letzten Kriegswoche in der Nähe von Mariahilf angeschossen zwei Tage in einem Schützengraben gesteckt hatte, bis ihm eine jüdische Militärärztin der Roten Armee namens 'Katzenellenbogen' das Leben rettete, indem sie seinen linken Arm amputierte, plante er Monate später im ersten Brief aus dem Lazarett an seine Frau (in dem er sich vergnügt als 'Venus von Milo' bezeichnete) die Konstruktion eines 'mit Electricität und Preßluft' ausgestatteten künstlichen Arms, der mit den Füßen zu steuern wäre, und motorisierte Gartengeräte, die er einhändig würde bedienen können ('Nahm die Kugel dir ein Bein / greife rüstig nach der Krücke!')."
Kein Idyll ohne benachbarten locus terribilis. Nicht nur die Seidenraupen, die im Selbstversorger-Garten-Eden schon zu Kriegszeiten gezüchtet wurden, erinnern an die Wehrmachtsoldaten - in dem Fall an ihre Fallschirmseide. Immer mehr nimmt Schmidts Erzähler, der aus früheren Romanen schon bekannte Richard Sparka, auch das Dorfensemble in den Blick. Die Oder, der Grenzfluss als Kriegslinie, ist im Roman Planschbecken und Gefahrenstelle in sich überlagernden Erinnerungsbildern. Herrn Tatziet versetzt das kleinste Stückchen aus dem Uferschlick ragenden Drahts in Angst und Schrecken, war doch in der Nachkriegszeit noch eine Granate explodiert, die von einem Mädchen nur "die Kopfhaut mit roten Haaren" übrig gelassen hatte. "Der Krieg war weit genug entfernt, um mich selbst nicht zu bedrohen", räsoniert der Erzähler einmal. Dennoch sei er so präsent gewesen, "dass er auch auf mein Leben eine Art schmückenden Schicksalsschatten warf".
Doch nicht nur die entfernte Vergangenheit rückt der jüngeren Vergangenheit auf den Leib - was haben die Schmogrower eigentlich im Krieg gemacht? Auch die allerjüngste Vergangenheit drängelt sich ins Bild, und zwar in Gestalt liebloser Fertighäuser, deren Balkonbrüstungen "wie die Wände von Bushaltestellen" aus Glas sind. "Repräsentative Bedürfnisse werden von viel zu großen überflüssigen Freitreppen erfüllt, mit ungeschickt dimensionierten Säulen, die ein protziges Vordach tragen. Die alten, aus Leichtmetall geschweißten und buntlackierten Zäune, die oft ein Sonnenmotiv hatten und sicher aus Resten bestanden, die der Besitzer auf seiner Arbeitsstelle abgestaubt hatte, nehmen sich daneben filigran und verspielt aus." Nichts ist mehr so, wie es war, in Schmogrow. Und vielleicht war alles wie das seltsam meditative Recycling-Paradies der nun abdankenden Tatziet sowieso nur Zwischennutzung. Zwischennutzung im Hinterland der Weltgeschichte.
Sparkas notorische Bedrücktheit, sagt dessen Lebenspartnerin, ermüde sie. Den Kinderbuchtitel "Wer macht Regen und Sonnenschein" liest er selbstverständlich als "Wehrmacht Regen und Sonnenschein". In "Phlox", dieser stilistisch herausragenden "Recherche" im Oderbruch, ist beides auf jeder Seite enthalten. KATHARINA TEUTSCH
Jochen Schmidt: "Phlox". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2022.
479 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jochen Schmidts Roman "Phlox" ist ein stilistisch herausragendes Kaleidoskop einer ostdeutschen Kindheit und gesamtdeutschen Gegenwart
Schon die Namen in Jochen Schmidts neuem Roman bergen das innere Rätsel der Handlung, in die sie vom Autor auf fast fünfhundert Seiten behutsam eingebettet wurden. "Phlox" ist der Titel des Romans, wobei es sich um eine ebenso wohlriechende wie wohlklingende Pflanze aus der Familie der Sperrkrautgewächse handelt. Man findet sie in "Schmogrow", einem fiktiven Ort im Oderbruch. Hier verbringen die Familie des Erzählers zu Ostzeiten und derselbe Erzähler als junger Familienvater zu Westzeiten endlos dahinschlendernde Sommertage. Gastgeber und Phloxpfleger im Sinne Karl Foersters ("Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum") ist das Ehepaar "Tatziet", das Jahr für Jahr Feriengäste von diesseits und jenseits der Mauer wiederum in den Mauern eines Gutshauses willkommen heißt. Diese Worttrias aus "Schmogrow", "Tatziet" und "Phlox" erzeugt, auch ohne die Handlung zu kennen, einen satten Akkord - harmonisch genug, um dem Ohr zu schmeicheln, ausreichend dissonant, um sich interessant zu machen. "Schmogrow" ist der Schmelz. "Tatziet" ist die ausgefahrene Kralle. Der "Phlox" schließlich vereint beides, das Weiche und das Widerspenstige.
Und wo wir schon bei den lyrischen Qualitäten des Titels sind. "Juchhe! Juchhe! Juchheisa! Heisa! He!", schrieb einst Johann Wolfgang von Goethe. Und mit diesem Weckruf aus berufenem Dichtermund nimmt die Schmogrower Saga ihren Lauf: "Das Zentrum des Gartens bildete der 'Kompositorium' genannte Komposthaufen, zu dem alle Wege führten, man ging gern dorthin, es war immer ein Spaziergang ins Herz der Natur, hier landete alles, was selbst die Hühner verschmähten (einschließlich einer Boccia-Kugel und einer verrosteten Handgranate, die einmal beim Sieben des Komposts gefunden worden waren). Unter dem geheimnisvollen Beistand von allerhand Kleinlebewesen wurde hier aus Küchen- und Gartenabfällen wertvolle Nahrung für die verschiedenen Kulturen. Auf den drei Feldern wurden in Fruchtfolge Kartoffeln, Mais, Sonnenblumen, Bohnen oder 'Wrunken' genannte Rüben angebaut. Manche Gäste schätzten besonders den Spargel, sie spekulierten bei Überraschungsbesuchen, die sie wie zufällig in der Spargelzeit herführten, darauf, zum Mittagessen etwas von diesem etwas anrüchigen Gemüse vorgesetzt zu bekommen. (Frau Tatziet sagte: 'Zum Spargelstechen braucht man junge Augen' und schickte uns Kinder morgens mit Spankörben zu den aufgehäufelten Reihen, Ausschau nach den violetten Spitzen zu halten, die die Krume keck durchstießen und mit einem langen, scharf geschliffenen Buttermesser tief, aber nicht zu tief den Spargel zu schneiden. Später im Jahr würde hier ein Wald zartgrüner Spargelbäumchen mit giftigen Früchten wachsen.)"
Ein ausführliches Zitat an dieser Stelle, denn das Verfahren dieses von der Kritik gerne als Nostalgiker verharmlosten Autors ist der mäandrierende Gedankenstrom à la Proust. Schmogrow, das ist das Combray der späten DDR. Ein Ort, der mit der Kindheit des Erzählers sowie seines Autors verknüpft ist und in ihre ganz eigenen Elysien führt.
Doch wie auch bei Proust, dem Jochen Schmidt vor mehr als zehn Jahren ein hervorragendes Lesetagebuch gewidmet hat, ist das Herumschweifen in den Echoräumen der Kindheit mehr als bloße Reminiszenz. Im Akt des Erinnerns begegnen sich verschiedene Ebenen des Daseins wie im Traum. Einerseits gibt es den Rhythmus der Natur (Fruchtfolge!), andererseits die individuelle Lebensweise der Tatziets (Spargelstechen mit jungen Gästen!). Einerseits wird aus dem Alten die Zukunft gewonnen (Kompost!), andererseits in ihm eine Vergangenheit geborgen, die nicht vergehen will (Boccia-Kugel und Handgranate!).
Mit "Phlox" hat Jochen Schmidt seinen bisher besten Roman geschrieben, weil dieser zwar das Schmidt'sche Prinzip der anteilnehmenden Beobachtung fortsetzt, aber durch den Verzicht auf eine Handlung das Prinzip selbst zur Handlung macht. So liest man "Phlox" als vielschichtige Erzählung über ein Dorf und seine Bewohner, über einen Landstrich und dessen Geschichte, auch über einen Vater im Alter des Autors, der zurückkehrt ins zeitlose Glück seiner Kindheit und dort lernen muss loszulassen.
Ohne Handlung heißt aber keineswegs handlungsarm. Denn der Erzähler chauffiert uns per Assoziationstaxi in eine Vergangenheit mit vielen Zimmern. Hausherr in Schmogrow ist der Lehrer Tatziet, ein gebildeter Generaldilettant, der sich aufs Tüfteln versteht. Die Ferienkinder, die er für seine Konstruktionsvorhaben regelmäßig einspannt, müssen nicht erst von der "Poesie des Provisorischen" überzeugt werden. "Herr Tatziet", heißt es einmal, "zog tiefen Trost aus seinen technischen Tagträumereien. Als er in der letzten Kriegswoche in der Nähe von Mariahilf angeschossen zwei Tage in einem Schützengraben gesteckt hatte, bis ihm eine jüdische Militärärztin der Roten Armee namens 'Katzenellenbogen' das Leben rettete, indem sie seinen linken Arm amputierte, plante er Monate später im ersten Brief aus dem Lazarett an seine Frau (in dem er sich vergnügt als 'Venus von Milo' bezeichnete) die Konstruktion eines 'mit Electricität und Preßluft' ausgestatteten künstlichen Arms, der mit den Füßen zu steuern wäre, und motorisierte Gartengeräte, die er einhändig würde bedienen können ('Nahm die Kugel dir ein Bein / greife rüstig nach der Krücke!')."
Kein Idyll ohne benachbarten locus terribilis. Nicht nur die Seidenraupen, die im Selbstversorger-Garten-Eden schon zu Kriegszeiten gezüchtet wurden, erinnern an die Wehrmachtsoldaten - in dem Fall an ihre Fallschirmseide. Immer mehr nimmt Schmidts Erzähler, der aus früheren Romanen schon bekannte Richard Sparka, auch das Dorfensemble in den Blick. Die Oder, der Grenzfluss als Kriegslinie, ist im Roman Planschbecken und Gefahrenstelle in sich überlagernden Erinnerungsbildern. Herrn Tatziet versetzt das kleinste Stückchen aus dem Uferschlick ragenden Drahts in Angst und Schrecken, war doch in der Nachkriegszeit noch eine Granate explodiert, die von einem Mädchen nur "die Kopfhaut mit roten Haaren" übrig gelassen hatte. "Der Krieg war weit genug entfernt, um mich selbst nicht zu bedrohen", räsoniert der Erzähler einmal. Dennoch sei er so präsent gewesen, "dass er auch auf mein Leben eine Art schmückenden Schicksalsschatten warf".
Doch nicht nur die entfernte Vergangenheit rückt der jüngeren Vergangenheit auf den Leib - was haben die Schmogrower eigentlich im Krieg gemacht? Auch die allerjüngste Vergangenheit drängelt sich ins Bild, und zwar in Gestalt liebloser Fertighäuser, deren Balkonbrüstungen "wie die Wände von Bushaltestellen" aus Glas sind. "Repräsentative Bedürfnisse werden von viel zu großen überflüssigen Freitreppen erfüllt, mit ungeschickt dimensionierten Säulen, die ein protziges Vordach tragen. Die alten, aus Leichtmetall geschweißten und buntlackierten Zäune, die oft ein Sonnenmotiv hatten und sicher aus Resten bestanden, die der Besitzer auf seiner Arbeitsstelle abgestaubt hatte, nehmen sich daneben filigran und verspielt aus." Nichts ist mehr so, wie es war, in Schmogrow. Und vielleicht war alles wie das seltsam meditative Recycling-Paradies der nun abdankenden Tatziet sowieso nur Zwischennutzung. Zwischennutzung im Hinterland der Weltgeschichte.
Sparkas notorische Bedrücktheit, sagt dessen Lebenspartnerin, ermüde sie. Den Kinderbuchtitel "Wer macht Regen und Sonnenschein" liest er selbstverständlich als "Wehrmacht Regen und Sonnenschein". In "Phlox", dieser stilistisch herausragenden "Recherche" im Oderbruch, ist beides auf jeder Seite enthalten. KATHARINA TEUTSCH
Jochen Schmidt: "Phlox". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2022.
479 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wer der Welt abhanden kommen will, für den hat Jochen Schmidt die schönsten Fluchtrouten. ... Schmidt erprobt den Kindheitsblick, der Welt zum ersten Mal sieht, in langen, metaphernseligen Sätzen. Zugleich schreibt er doch Geschichte, von Krieg und Diktatur, aber überwuchert vom Alltag, und er stellt die große Frage, was Schönheit ist. Eine riesenlange Meditation, die auch die Leser verwandelt."
Süddeutsche Zeitung, Gustav Seibt
"Die grünste Aue fürs autobiografische Erzählen ist seit je die Kindheit. In Jochen Schmidt hat dieses Genre einen deutschen Meister gefunden."
Die ZEIT, Elke Schmitter
"Stilistisch herausragendes Kaleidoskop einer ostdeutschen Kindheit und gesamtdeutschen Gegenwart... Mit 'Phlox' hat Jochen Schmidt seinen bisher besten Roman geschrieben"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Katharina Teutsch
"Ein Erinnerungsmeister, der seinesgleichen in der deutschen Gegenwartsliteratur sucht."
Deutschlandfunk, Elke Schlinsog
"Eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. ... bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet."
Süddeutsche Zeitung, Harald Eggebrecht
"Jochen Schmidt ist ein Meister feiner Beobachtungen und scharf umschriebener Erkenntnisse.
WDR5, Claudia Cosmo
"total gern gelesen, einerseits mit viel Humor geschrieben, andererseits an die eigene Kindheit erinnert ... hätte einen Shortlistplatz verdient" NDR, Jan Ehlert
"Steht mit seinem neuen Roman 'Phlox' auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. ... Sparkas Selbstversorger-Glück an diesem Ort trägt auch dunkle Züge. Schmidts Buchpreis-Glück hoffentlich nicht!"
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Jochen Schmidt bereichert die Landlebenliteratur mit seinem klugen und sehnsüchtigen Roman 'Phlox'."
Berliner Zeitung, Sabine Rohlf
"Führt zurück in jene aufregende Zeit, in der man sein eigenes Land ganz neu entdecken konnte"
Deutschlandfunk Büchermarkt, Carsten Hueck
"Wunderbar. ... Der Autor versteht es virtuos, mit seiner komplexen Sprachkunst Brücken zu schlagen von der Vergangenheit in die Gegenwart, von Schrecken und Schuld zu Kaffee und Kuchen. Hervorragend"
Münchner Merkur
Süddeutsche Zeitung, Gustav Seibt
"Die grünste Aue fürs autobiografische Erzählen ist seit je die Kindheit. In Jochen Schmidt hat dieses Genre einen deutschen Meister gefunden."
Die ZEIT, Elke Schmitter
"Stilistisch herausragendes Kaleidoskop einer ostdeutschen Kindheit und gesamtdeutschen Gegenwart... Mit 'Phlox' hat Jochen Schmidt seinen bisher besten Roman geschrieben"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Katharina Teutsch
"Ein Erinnerungsmeister, der seinesgleichen in der deutschen Gegenwartsliteratur sucht."
Deutschlandfunk, Elke Schlinsog
"Eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. ... bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet."
Süddeutsche Zeitung, Harald Eggebrecht
"Jochen Schmidt ist ein Meister feiner Beobachtungen und scharf umschriebener Erkenntnisse.
WDR5, Claudia Cosmo
"total gern gelesen, einerseits mit viel Humor geschrieben, andererseits an die eigene Kindheit erinnert ... hätte einen Shortlistplatz verdient" NDR, Jan Ehlert
"Steht mit seinem neuen Roman 'Phlox' auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. ... Sparkas Selbstversorger-Glück an diesem Ort trägt auch dunkle Züge. Schmidts Buchpreis-Glück hoffentlich nicht!"
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Jochen Schmidt bereichert die Landlebenliteratur mit seinem klugen und sehnsüchtigen Roman 'Phlox'."
Berliner Zeitung, Sabine Rohlf
"Führt zurück in jene aufregende Zeit, in der man sein eigenes Land ganz neu entdecken konnte"
Deutschlandfunk Büchermarkt, Carsten Hueck
"Wunderbar. ... Der Autor versteht es virtuos, mit seiner komplexen Sprachkunst Brücken zu schlagen von der Vergangenheit in die Gegenwart, von Schrecken und Schuld zu Kaffee und Kuchen. Hervorragend"
Münchner Merkur
Der Duft von
gelagertem Obst
Immer am
Erinnerungsstrom entlang:
Jochen Schmidts Roman „Phlox“
Erinnerungen haben in ihren besten und ehrlichsten Momenten etwas von Expeditionen. Etwas Archäologisches haftet ihnen an, denn von Lebensalter zu Lebensalter wechselt der Umgang mit dem, was das Gedächtnis bereithält. Es muss immer wieder neu gesichtet und geordnet werden. Ans Ende gelangt man da nie, denn gerade in Erinnerungsarbeit gilt auch das Prinzip Plötzlichkeit: Etwas bis dahin Unbeachtetes taucht plötzlich aus dem Konvolut so frisch und neu auf wie nie zuvor gesehen und verwandelt damit den ganzen bisherigen scheinbar so sicher archivierten Erinnerungszusammenhang.
Der Schriftsteller Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, hat seinen Erinnerungsband „Phlox“ genannt, er erzählt von einer Fahrt in ein Dorf im Oderbruch namens Schmogrow. Zugleich ist es eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. Was zuerst idyllisch erscheint, sich als Traumreich alter Sitten und Gebräuche, bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet im gewissermaßen atemlos schwadronierenden Strom des Schmidt’schen Memorierens und Beschwörens von Dorf und Land, von Leuten und Nachbarn, von geliebten Menschen und entfernten Bekannten, von Flüchtlingen und Hängengebliebenen, färbt sich dunkler bis ins Schwarze und Böse hinein. Sobald Schmidt, ohne zu zögern, auch die Kriegs- und Fluchterlebnisse aufgräbt, die Überlebensumstände der Schmogrower und derer, die dort landeten, tauchen die Wirklichkeiten von Naziherrschaft und russischen Besatzungsgräueln auf, ohne dass je falsch moralisiert wird.
Dieses Nebeneinander von Erzählen und Erzähltem, von Erinnerung in die unterschiedlichsten Schichten hinein ist fast unmerklich, doch wirksam inszeniert. An keiner Stelle überhebt sich der Autor über die gemachten Erfahrungen, er benutzt sie nie zum Besserwissen. Schmidt bleibt ganz nah dran, ob er die Gärten und alten Obstbäume schildert, Erntevorgänge aus alter Zeit memoriert, das Haus und seine Räumlichkeiten beschreibt oder die Dialektfärbungen, wie sie in Schmogrow aufklingen, wenn die Alten aus ihren Leben erzählen, nachbildet.
So geraten auch die Lesenden tief ins Schmogrow-Universum, weil es nirgendwo Ausstiege zu geben scheint, umweht von der andauernden Suada des Autors auf seiner Forschungstour. Das kann ermüden, auch wird die Fülle der Details nicht so plastisch, dass sie im eigenen Gedächtnis haften bliebe. Ein ungeahnter Effekt aber stellt sich ein: Man ertappt sich en passant dabei, in die eigene Erinnerungswelt abzudriften.
Die Schmidt-Erfahrungen im Oderbruch verleiten dazu, Parallelen zu ziehen, lassen Gesichter und Stimmen der eigenen Vergangenheit aufleuchten. Es riecht nach gelagertem Obst, die Erzählung einer Pflaumenmusernte taucht auf, von der einst Onkel W. erzählt hat. Gut möglich, dass Schmidt mit der gleichsam ungefilterten Dichte seines Herbeierzählens auf dergleichen Gedächtnisanimation bei seinen Lesern aus sein könnte. Jedenfalls blüht der Phlox in Schmogrow so intensiv, dass die Stauden in den eigenen Vorgärten zu duften beginnen. Wenn man sich richtig erinnert.
HARALD EGGEBRECHT
Jochen Schmidt: Phlox. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2022.
479 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
gelagertem Obst
Immer am
Erinnerungsstrom entlang:
Jochen Schmidts Roman „Phlox“
Erinnerungen haben in ihren besten und ehrlichsten Momenten etwas von Expeditionen. Etwas Archäologisches haftet ihnen an, denn von Lebensalter zu Lebensalter wechselt der Umgang mit dem, was das Gedächtnis bereithält. Es muss immer wieder neu gesichtet und geordnet werden. Ans Ende gelangt man da nie, denn gerade in Erinnerungsarbeit gilt auch das Prinzip Plötzlichkeit: Etwas bis dahin Unbeachtetes taucht plötzlich aus dem Konvolut so frisch und neu auf wie nie zuvor gesehen und verwandelt damit den ganzen bisherigen scheinbar so sicher archivierten Erinnerungszusammenhang.
Der Schriftsteller Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, hat seinen Erinnerungsband „Phlox“ genannt, er erzählt von einer Fahrt in ein Dorf im Oderbruch namens Schmogrow. Zugleich ist es eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. Was zuerst idyllisch erscheint, sich als Traumreich alter Sitten und Gebräuche, bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet im gewissermaßen atemlos schwadronierenden Strom des Schmidt’schen Memorierens und Beschwörens von Dorf und Land, von Leuten und Nachbarn, von geliebten Menschen und entfernten Bekannten, von Flüchtlingen und Hängengebliebenen, färbt sich dunkler bis ins Schwarze und Böse hinein. Sobald Schmidt, ohne zu zögern, auch die Kriegs- und Fluchterlebnisse aufgräbt, die Überlebensumstände der Schmogrower und derer, die dort landeten, tauchen die Wirklichkeiten von Naziherrschaft und russischen Besatzungsgräueln auf, ohne dass je falsch moralisiert wird.
Dieses Nebeneinander von Erzählen und Erzähltem, von Erinnerung in die unterschiedlichsten Schichten hinein ist fast unmerklich, doch wirksam inszeniert. An keiner Stelle überhebt sich der Autor über die gemachten Erfahrungen, er benutzt sie nie zum Besserwissen. Schmidt bleibt ganz nah dran, ob er die Gärten und alten Obstbäume schildert, Erntevorgänge aus alter Zeit memoriert, das Haus und seine Räumlichkeiten beschreibt oder die Dialektfärbungen, wie sie in Schmogrow aufklingen, wenn die Alten aus ihren Leben erzählen, nachbildet.
So geraten auch die Lesenden tief ins Schmogrow-Universum, weil es nirgendwo Ausstiege zu geben scheint, umweht von der andauernden Suada des Autors auf seiner Forschungstour. Das kann ermüden, auch wird die Fülle der Details nicht so plastisch, dass sie im eigenen Gedächtnis haften bliebe. Ein ungeahnter Effekt aber stellt sich ein: Man ertappt sich en passant dabei, in die eigene Erinnerungswelt abzudriften.
Die Schmidt-Erfahrungen im Oderbruch verleiten dazu, Parallelen zu ziehen, lassen Gesichter und Stimmen der eigenen Vergangenheit aufleuchten. Es riecht nach gelagertem Obst, die Erzählung einer Pflaumenmusernte taucht auf, von der einst Onkel W. erzählt hat. Gut möglich, dass Schmidt mit der gleichsam ungefilterten Dichte seines Herbeierzählens auf dergleichen Gedächtnisanimation bei seinen Lesern aus sein könnte. Jedenfalls blüht der Phlox in Schmogrow so intensiv, dass die Stauden in den eigenen Vorgärten zu duften beginnen. Wenn man sich richtig erinnert.
HARALD EGGEBRECHT
Jochen Schmidt: Phlox. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2022.
479 Seiten, 25 Euro.
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