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Der Erzähler von Georgi Gospodinovs zweitem Roman leidet an übergroßer Empathie: er kann und muss sich in alles und jeden einfühlen und erlebt dann, was diese anderen erleben - ob das nun sein Großvater am Beginn des 20. Jahrhunderts war, der kleine in ein Labyrinth weggesperrte Minotauros oder eine Schnecke, die gerade verschluckt wird. Aber auch, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, macht ihm zu schaffen; und er geht mit Zeitkapseln dagegen vor: Behälter, in die alles hineinkommt, was für die Gegenwart wichtig ist. Aber was ist wichtig? Zu diesem Zweck wiederum müssen Listen angelegt…mehr

Produktbeschreibung
Der Erzähler von Georgi Gospodinovs zweitem Roman leidet an übergroßer Empathie: er kann und muss sich in alles und jeden einfühlen und erlebt dann, was diese anderen erleben - ob das nun sein Großvater am Beginn des 20. Jahrhunderts war, der kleine in ein Labyrinth weggesperrte Minotauros oder eine Schnecke, die gerade verschluckt wird. Aber auch, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, macht ihm zu schaffen; und er geht mit Zeitkapseln dagegen vor: Behälter, in die alles hineinkommt, was für die Gegenwart wichtig ist. Aber was ist wichtig? Zu diesem Zweck wiederum müssen Listen angelegt werden, eine im alten Ostblock bei Kindern und Jugendlichen ohnehin beliebte Praxis ...Aus zahlreichen kurzen poetischen Kapiteln komponiert Gospodinov einen melancholischen Roman, der - wie oft bei Melancholikern - amüsiert und überrascht, und unterstreicht damit nachhaltig seinen weltliterarischen Rang. Seine Vergegenwärtigung altgriechischer Mythen ist ebenso denkwürdig wie seine Erinnerung an 40 Jahre bulgarischen Kommunismus. Und dass das Festhalten des gegenwärtigen Augenblicks eine vergebliche Aufgabe ist: es hindert ihn nicht daran, sich dieser Aufgabe von Seite zu Seite immer wieder neu zu stellen.
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Autorenporträt
Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol in Bulgarien geboren, studierte Bulgarische Philologie in Sofia, redigierte eine Literaturzeitung, war Kolumnist der Tageszeitung ¿Dnevnik¿ und arbeitet am Literaturinstitut der Bulgarischen Akademie der Künste. 1992 debütierte Gospodinov mit dem Lyrikband Lapidarium; eine Auswahl aus seinen Gedichtbänden ist 2010 auf deutsch erschienen, Kleines morgendliches Verbrechen. Von seinem Natürlichen Roman (1999) liegen mittlerweile Übersetzungen in dreizehn Sprachen vor (deutsch bei Droschl 2007). Sein Erzählband Und andere Geschichten war auf der Longlist für den Frank O'Connor Award. Auf deutsch außerdem: Gaustín oder Der Mensch mit den vielen Namen (Erzählungen, 2004).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Andreas Breitenstein ist dieser Autor ein Literatur- und Weltretter, da er sich tollkühn fabulierend über Kommerz und Konvention erhebt. Wie der Bulgare Georgi Gospodinow mit diesem Roman die literarische Landkarte nach Osten erweitert, indem er seinen Erzähler die Wahrheit der eigenen Jugend gegen den Verrat an der Geschichte in Schutz nehmen lässt, hat Breitenstein beeindruckt. Die Verwendung des Minotaurus-Mythos als Metapher für eine unwirkliche bulgarische Wirklichkeit scheint ihm genial gewählt, das Erzählen hier selbst wundersam labyrinthisch und den absurden Lebenswelten des Realsozialismus angemessen. Dafür, dass das Episodische und die Vielfalt der vorkommenden Textformen (vom Apercu bis zum Dokument) den Leser nicht überfordern, sorgen laut Rezensent Gospodinows Ironie und poetologische Selbstreflexion sowie die Fäden der Mythologie.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2014

Entdeckung aus dem unbekannten Land

Mitleid mit dem Minotaurus: Der Bulgare Georgi Gospodinov hat einen hinreißenden Roman geschrieben. Seine "Physik der Schwermut" erzählt vom Verlust der Kindheit, der Unschuld und des Kommunismus.

Der Große Krieg, wie sie ihn hier nennen, geht seinem Ende entgegen. Der bulgarische Herbst 1917 ist rauh, und während der Vater an der Front ist, ringen die Mutter und ihre Kinder um jedes Korn, das sie den Feldern der Thrakischen Ebene entreißen können. Die versteckten Münzen sind ausgegeben, und auch der Getreidespeicher ist längst leer. Die Kinder, erschöpft und hungrig, sind fast schon zu Hause, als die Tochter plötzlich ruft: "Mama, wir haben Georgi vergessen!" Was folgt, ist ein langes, undurchdringliches Schweigen. Stille Sekunden, in denen die Mutter überlegt, was jetzt zu tun ist.

Dass sie nicht augenblicklich zurückkehrt, um den Dreijährigen vor dem sicheren Tod zu retten, sondern regungslos verharrt, erzählt man sich heute noch in der Familie. Die Pointe aber, dass diese Mutter, die fast hundert wurde, in ihren letzten Lebensjahren ausgerechnet von jenem Sohn gepflegt und umsorgt worden ist, den sie einst auf dem Feld vergaß, das ist eine dieser Volten, wie sie typisch sind für die Texte von Georgi Gospodinov. Das scheinbar Einfache, das unbedingt Absurde hat den bulgarischen Autor schon immer fasziniert.

"Physik der Schwermut" heißt sein neuer Roman, wobei der Begriff Roman hier sehr weit gefasst ist. Denn das Buch besteht aus neun Kapiteln, die in sehr viele kleine und größere Geschichten und Szenen unterteilt sind, in Miniaturen, Bilder, Listen und Dokumente. Die Epigraphik gibt schon die Richtung vor, in der es mit Augustinus heißt, welch "Schätze unzähliger Vorstellungen" sich in den weiten Palästen des Gedächtnisses finden lassen. Und Flauberts Sehnsucht danach, fliegen, schwimmen, bellen zu können, ja, "in jedes Atom einzudringen", bis man selbst Materie werde, das beschreibt ziemlich genau, was Gospodinovs melancholischen Erzähler umtreibt. Seine Gabe jedenfalls, sich in alles und jeden hineinversetzen zu können, macht sein Leben nicht unbedingt einfacher. Denn er verwandelt sich nicht etwa nur in jenen kleinen Jungen, den seine Mutter einst vergaß. Der Erzähler, auf dem das Gewicht fremder Schwermut lastet wie eine Krankheit, fühlt mit einer Schnecke, die auf dem Boden vor sich hin kriecht ebenso wie mit einem der berüchtigsten Monster der griechischen Sagenwelt, dem Minotaurus.

Dessen Halbschwester Ariadne hat der Erzähler niemals verziehen, dass sie ihren Bruder verriet. "Das Knäuel jenem in die Hand zu drücken, der deinen unglücklichen, verlassenen, in der Dunkelheit zur Bestie gewordenen Bruder töten wird. Da kommt der Schönling aus Athen, verdreht ihr den Kopf", empört sich der Erzähler und kritzelt in seiner alten Kinderausgabe mit den griechischen Mythen Ariadne Hörner auf den Kopf.

Es bereitet ungeheure Lust, sich in den Gängen und Fluchten der Erinnerung von Georgi Gospodinov zu bewegen, um nicht zu sagen zu verlieren. Nicht immer behält man bei der Lektüre die Orientierung. Dem Leser wird dadurch selbst so etwas wie eine labyrinthische Erfahrung zuteil. Aber welche Geschichte ist in Wahrheit schon so linear, wie sie in den klassischen Erzählungen dargelegt wird? Bei Gospodinov jedenfalls springen wir hin und her zwischen den zeitlichen und räumlichen Ebenen. Gerade noch auf dem Feld des Jahres 1917, geraten wir auf einen Jahrmarkt im Jahr 1925, wir erleben die Agonie der achtziger Jahre mit, in denen die bulgarische Jugend mit dem Kommunismus gequält wird, um wie in einer Rolle rückwärts in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs zu stolpern, als in einem ungarischen Dorf ein Deserteur von einer jungen Witwe versteckt wird. Dass der Krieg irgendwann vorbei ist, die Frau aber, aus Angst, den Geliebten in ihrem Keller zu verlieren, ihm den Krieg weiterhin vorspielt, ist schon atemberaubend genug. Vollends absurd aber wird die Lage des Soldaten, als er endlich doch nach Hause in sein bulgarisches Dorf kommt und sich dort aufs Neue verstecken muss, weil er bereits als Kriegsopfer geehrt wurde - der kommunistischen Führung ist jetzt nicht mehr klarzumachen, dass er ohne Erklärung einen Monat nach Kriegsende ohne Alibi und Uniform zurückgekehrt ist.

Wer spricht hier, fragt man sich ein ums andere Mal? Wer ist dieser Erzähler, der uns in der ersten, manchmal aber auch in der dritten Person von skurrilen Ereignissen der großen Geschichte und des kleinen Alltags berichtet? Er kommt, so viel steht fest, Gospodinov selbst sehr nah, der 1968 im bulgarischen Städtchen Jambol geboren wurde und der nach seinem Philosophiestudium in Sofia 1992 mit dem Gedichtband "Lapidarium" debütierte. International bekannt wurde er mit seinem "Natürlichen Roman", der 2007 auf Deutsch erschien und von einer Ehekrise berichtet, die der Erzähler alle siebzehn Seiten wieder von vorn beginnt. Bei aller postmodernen Experimentierfreudigkeit, die selbst das Magazin "New Yorker" für den Bulgaren begeisterte, ist das Erstaunliche, mit welch großer Leichtigkeit Gospodinov erzählt. Wie selbstverständlich fließen bei ihm die politische Vergangenheit Bulgariens, die griechische Mythologie und das Seelenleben eines Heranwachsenden ineinander. Gospodinov gelingt es dabei, noch aus den kleinsten Details, etwa dem Impfabdruck auf dem Oberarm einer Geliebten, eine ganze Generationengeschichte heraufzubeschwören. Die Begeisterung fürs scheinbar Nebensächliche durchzieht den gesamten Text.

Immer tiefer schraubt sich der Roman anhand von geöffneten Zeitkapseln in Bedeutungsschichten von Sprache und Historie. Dabei kommen die wundersamsten Fabeln heraus, bei denen Alltag und Abenteuer ganz nah beieinanderstehen. Hier liest man nicht, was sich in den Zeitungen nachlesen lässt über den Kollaps des bulgarischen Kommunismus etwa, aber die Auswirkungen auf die Bulgaren, die bis 1989 zu achtzig Prozent das Land nicht verlassen hatten. Ausland war für sie damals wie eine Reise ins Weltall, heißt es an einer Stelle. In Gospodinovs Erzähler wohnen Verzweiflung und leichtfüßiger Humor eng beieinander. Gewiss hat sich der Autor, der auch Theaterstücke schreibt, dazu unter anderem von einer Ausstellung inspirieren lassen, die er vor ein paar Jahren selbst kuratiert hat. Weil Bulgarien das einzige Land Osteuropas ist, in dem es kein eigenes Museum zum Sozialismus gibt, hat Gospodinov eine Internetseite geschaffen, auf der Menschen ihre persönlichen Geschichten aus der Zeit vor 1989 erzählen konnten. Daraus entstand später ein Buch und eben die Ausstellung in Sofia.

Das Kind, das der Erzähler einst war, hat nicht nur Mitleid mit dem Minotaurus in dessen dunkler Höhle. Er, der Junge aus dem Tiefparterre, dessen Eltern tagsüber arbeiten gehen, fühlt sich dem Minotaurus verwandt. So erteilt er, nun, da er erwachsen und auch noch Autor ist, dem Angeklagten huldvoll das Wort. Denn nirgends, weder bei Homer noch bei Ovid oder Vergil, sei die Stimme des Minotaurus überliefert. Der Grund liegt für ihn auf der Hand. Denn während es kinderleicht sei, Ikarus zu bemitleiden und zu Theseus zu halten oder natürlich auch zur betrogenen Ariadne, sei der Kinder verspeisende Minotaurus gänzlich ungeeignet für jegliche Art der Anteilnahme.

Nutzt das Monster seine Chance? Als Gospodinov ihm schließlich das Wort erteilt, gibt der Minotaurus nur einen Laut von sich: "Muuuuuh".

SANDRA KEGEL

Die ersten Kapitel aus Georgi Gospodinovs Roman finden sich unter www.faz.net/lesezeichen.

Georgi Gospodinov: "Physik der Schwermut".

Roman.

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl Verlag, Graz 2014. 336 S., geb., 23,- [Euro].

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'Es bereitet ungeheure Lust, sich in den Gängen und Fluchten der Erinnerung von Gospodinov zu bewegen, um nicht zu sagen zu verlieren. Ein hinreißender Roman.' (Sandra Kegel, FAZ) 'Eine Liebeserklärung an die Fantasie. eine literarische Wundertüte.' (Carmen Eller, Cicero) 'Ein außerordentliches literarisches Erlebnis, mehr noch, ein unentbehrliches Buch für das restliche Leben.' (Werner Krause, Kleine Zeitung) 'Ein Labyrinth, aus dem man nie wieder herausfinden will: weil diese Irrwege zu Herzklopfen und märchenhaften Erkenntnissen führen.' (Ingrid Mylo, Badische Zeitung, Tipp des Monats) 'Gospodinov gelingt mit Physik der Schwermut Seltenes: Er ist unterhaltsam mit seiner melancholisch-humorvollen Alltagsplauderei und tief- und abgründig mit seiner mythologischen Fantasie.' (Konstantin Ulmer, Der Freitag) 'Georgi Gospodinvos Roman ist ganz große europäische Telepathie-Literatur.' (Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung)