Picassos Verhältnis zur Photographie war noch bis vor kurzem ein gänzlich unbeachteter Aspekt seines künstlerischen Wirkens. Anne Baldassari, Kuratorin des Picasso-Museums in Paris, ist es zu verdanken, daß dieses Verhältnis in den letzten Jahren umfassend aufgearbeitet wurde und nun ein überraschendes und höchst erhellendes Licht auf das bekannte malerische Werk des Jahrhundertkünstlers wirft. Der reichbebilderte Band veröffentlicht die Ergebnisse jahrelanger systematischer Aufarbeitung des photographischen Nachlasses, der etwa 15 000 Photodokumente umfaßt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.1998Konkretisierung eines Traums: Picasso und die Fotografie
"Gestern", schrieb Pablo Picasso am Karfreitag des Jahres 1913 an seinen Galeristen Kahnweiler, "erhielt ich die Photos; sie sind gut und gefallen mir wie immer, weil sie mich überraschen. Ich sehe meine Bilder anders, als sie sind." Kahnweiler ließ gewöhnlich die Gemälde seiner Künstler fotografieren, und Picasso war immer sehr an dieser Form der Dokumentation interessiert. Gegenüber Christian Zervos hat er einmal davon gesprochen, wie spannend es für ihn wäre, alle Metamorphosen, die ein Bild während seiner Entstehung durchlaufe, fotografisch festzuhalten: "So ließe sich vielleicht feststellen, auf welchen Wegen man über das Gehirn zur Konkretisierung eines Traums gelangt."
Allerdings war Picassos tatsächliche, ohne den Umweg über die Fotografie gemachte Erfahrung eine andere: "Aber wirklich sehr merkwürdig ist, daß sich das Bild im Grunde nicht ändert, daß die ursprüngliche Vision entgegen dem äußeren Anschein beinahe unangetastet bleibt. Ich sehe oft ein Licht und einen Schatten. Wenn ich sie in mein Gemälde gesetzt habe, so mühe ich mich ab, sie wieder zu ,brechen , indem ich eine Farbe hinzufüge, die einen gegenteiligen Effekt erzeugt. Wenn ich ein Photo des Bildes habe, bemerke ich, wie das verschwindet, was ich, um meine erste innere Sicht des Bildes zu korrigieren, hinzugefügt hatte, und daß im Grunde das Bild, wie es die Photographie zeigt, wieder jener ursprünglichen Vision entspricht, die ich hatte, bevor ich darangegangen bin, es durch meinen Willen zu verändern."
Die Fotografie und die Möglichkeit, sie dem "Spiegelurteil" gleich anzuwenden, war für Picasso offenbar weit mehr als Medium der Dokumentation, Instrument der Inspiration oder zusätzliches Experimentierfeld. Indem sie es ihm erlaubte, den gestalterischen Willen zu umgehen oder zu neutralisieren, wurde sie gleichsam zur Hüterin der ursprünglichen Vision.
Nachdem sich in Picassos persönlichem Archiv etwa fünfzehntausend Fotodokumente, darunter etwa hundert von ihm selbst gemachte Aufnahmen, gefunden haben, hat man in den letzten Jahren begonnen, das Verhältnis des Jahrhundertmalers zur Fotografie zu untersuchen. Anne Baldassari, Kuratorin am Musée Picasso in Paris, hat den enormen Bestand aus "Visitkartenporträts" und Postkarten von Menschen fremder Völker, zahllosen Presse- und Familienfotos, im Atelier fotografierten Arrangements, Werbeanzeigen und Abbildungen aus wissenschaftlichen Publikationen in ausdauernder, jahrelanger Arbeit systematisch untersucht und in mehreren Ausstellungen präsentiert.
Ihre in drei Katalogen vorliegenden Ergebnisse hat sie nun in einem aufs schönste bebilderten und klug kommentierten Band zusammengefaßt. Was man darin entdecken kann, ist mehr als "Licht und Schatten". Unsere Abbildungen zeigen eine Fotografie von Pierre-Auguste Renoir aus dem Jahr 1913 und eine Porträtzeichnung des Malers, die Picasso 1919 /20 anfertigte. (Anne Baldassari: "Picasso und die Fotografie. Der Schwarze Spiegel". Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Wollermann. Verlag Schirmer / Mosel, München 1997. 264 S., 272 zum Teil farbige Abb., geb., 128,- DM.)
tw
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Gestern", schrieb Pablo Picasso am Karfreitag des Jahres 1913 an seinen Galeristen Kahnweiler, "erhielt ich die Photos; sie sind gut und gefallen mir wie immer, weil sie mich überraschen. Ich sehe meine Bilder anders, als sie sind." Kahnweiler ließ gewöhnlich die Gemälde seiner Künstler fotografieren, und Picasso war immer sehr an dieser Form der Dokumentation interessiert. Gegenüber Christian Zervos hat er einmal davon gesprochen, wie spannend es für ihn wäre, alle Metamorphosen, die ein Bild während seiner Entstehung durchlaufe, fotografisch festzuhalten: "So ließe sich vielleicht feststellen, auf welchen Wegen man über das Gehirn zur Konkretisierung eines Traums gelangt."
Allerdings war Picassos tatsächliche, ohne den Umweg über die Fotografie gemachte Erfahrung eine andere: "Aber wirklich sehr merkwürdig ist, daß sich das Bild im Grunde nicht ändert, daß die ursprüngliche Vision entgegen dem äußeren Anschein beinahe unangetastet bleibt. Ich sehe oft ein Licht und einen Schatten. Wenn ich sie in mein Gemälde gesetzt habe, so mühe ich mich ab, sie wieder zu ,brechen , indem ich eine Farbe hinzufüge, die einen gegenteiligen Effekt erzeugt. Wenn ich ein Photo des Bildes habe, bemerke ich, wie das verschwindet, was ich, um meine erste innere Sicht des Bildes zu korrigieren, hinzugefügt hatte, und daß im Grunde das Bild, wie es die Photographie zeigt, wieder jener ursprünglichen Vision entspricht, die ich hatte, bevor ich darangegangen bin, es durch meinen Willen zu verändern."
Die Fotografie und die Möglichkeit, sie dem "Spiegelurteil" gleich anzuwenden, war für Picasso offenbar weit mehr als Medium der Dokumentation, Instrument der Inspiration oder zusätzliches Experimentierfeld. Indem sie es ihm erlaubte, den gestalterischen Willen zu umgehen oder zu neutralisieren, wurde sie gleichsam zur Hüterin der ursprünglichen Vision.
Nachdem sich in Picassos persönlichem Archiv etwa fünfzehntausend Fotodokumente, darunter etwa hundert von ihm selbst gemachte Aufnahmen, gefunden haben, hat man in den letzten Jahren begonnen, das Verhältnis des Jahrhundertmalers zur Fotografie zu untersuchen. Anne Baldassari, Kuratorin am Musée Picasso in Paris, hat den enormen Bestand aus "Visitkartenporträts" und Postkarten von Menschen fremder Völker, zahllosen Presse- und Familienfotos, im Atelier fotografierten Arrangements, Werbeanzeigen und Abbildungen aus wissenschaftlichen Publikationen in ausdauernder, jahrelanger Arbeit systematisch untersucht und in mehreren Ausstellungen präsentiert.
Ihre in drei Katalogen vorliegenden Ergebnisse hat sie nun in einem aufs schönste bebilderten und klug kommentierten Band zusammengefaßt. Was man darin entdecken kann, ist mehr als "Licht und Schatten". Unsere Abbildungen zeigen eine Fotografie von Pierre-Auguste Renoir aus dem Jahr 1913 und eine Porträtzeichnung des Malers, die Picasso 1919 /20 anfertigte. (Anne Baldassari: "Picasso und die Fotografie. Der Schwarze Spiegel". Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Wollermann. Verlag Schirmer / Mosel, München 1997. 264 S., 272 zum Teil farbige Abb., geb., 128,- DM.)
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