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Ein Sommer in Schweden. In einem kleinen verschlafenen Dorf namens Kumla. Es sind die späten sechziger Jahre, und ein Hauch von freier Liebe und Rebellion hängt in der Luft. Der siebzehnjährige Mauritz träumt von der großen weiten Welt - und voneinem Leben mit der attraktiven Nachbarstochter Signhild. Heimlich beobachtet er ihr Haus, denn er will ihr näher kommen, ohne genau zu wissen, wie. Seine Gedanken kreisen nur um sie, so realisiert er erst spät, dass nebenan seltsame Dinge vor sich gehen, die mit der gutbürgerlichen Fassade wenig gemein haben. Wer etwa ist der schemenhafte Fremde, mit…mehr

Produktbeschreibung
Ein Sommer in Schweden. In einem kleinen verschlafenen Dorf namens Kumla. Es sind die späten sechziger Jahre, und ein Hauch von freier Liebe und Rebellion hängt in der Luft. Der siebzehnjährige Mauritz träumt von der großen weiten Welt - und voneinem Leben mit der attraktiven Nachbarstochter Signhild. Heimlich beobachtet er ihr Haus, denn er will ihr näher kommen, ohne genau zu wissen, wie. Seine Gedanken kreisen nur um sie, so realisiert er erst spät, dass nebenan seltsame Dinge vor sich gehen, die mit der gutbürgerlichen Fassade wenig gemein haben. Wer etwa ist der schemenhafte Fremde, mit dem sich Signhilds Mutter nachts im Auto so angestrengt unterhält? Keinesfalls ihr Ehemann! Und was ist von dem neuen, etwas sonderbaren Untermieter der Familie zu halten, einem angeblichen Dichter? Und dann geschieht etwas, was die dörfliche Idylle bis auf ihre Grundfesten erschüttert: Signhilds Vater, der Uhrmacher Kekkonen, ein mürrischer, wortkarger Mann, wird im elterlichen Schlafzimmer brutal ermordet aufgefunden. Wer war der Täter? Jemand vom Dorf? Eine Spurensuche beginnt, die erst Jahrzehnte später Erfolg haben wird - und Mauritz ganzes bisheriges Leben in Frage stellt ...
Autorenporträt
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der interessantesten und aufregendsten Krimiautoren Schwedens. Für seine Kriminalromane um Kommissar Van Veeteren erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in mehrere Sprachen übersetzt und wurden erfolgreich verfilmt. Daneben schreibt er Psychothriller. "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" oder "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" gelten inzwischen als Klassiker in Schweden, werden als Schullektüre eingesetzt, und haben seinen Ruf als großartiger Stilist nachhaltig begründet. Håkan Nesser lebt mit seiner Frau in London und auf Gotland. 2011 wurde er mit dem "Ripper Award", dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2004

Du magst morgen noch dasein, aber deine Träume nicht
Der Mord ist nur das Alibi: Håkan Nesser spiegelt in der schwedischen Provinz die Geschichte einer ganzen Epoche

Was zählt? In unserem offiziellen Gedächtnis sind es die herausragenden Erlebnisse - Schulbeginn, ein Ortswechsel, das erste Geld, das erste Mal, Heirat, Kinder, Krankheit, Tod, einschneidende politische Ereignisse, Katastrophen, ein Kunsterlebnis. In Wahrheit aber bestimmen uns andere, für jeden außer uns selbst unbedeutende Erinnerungen. So sagt es Håkan Nesser mit seinem Ich-Erzähler Mauritz Malnberg. Der ist vierundfünfzig Jahre alt und erinnert sich auf einer nächtlichen Zugfahrt an seine Jugend im Jahr 1967: "Eine kleine Packung John Silver kostete zwei zehn, die Satirezeitschrift Mad ungefähr das Doppelte."

Wer das selbst erlebt hat, ist sofort gefangen oder war es schon bei der einleitenden nächtlichen Selbstbetrachtung: "Es beginnt schon zu dämmern, ich werde älter aussehen als nötig." In seinen Fünfzigern und auf der Fahrt zu einer Frau, die dem Leser nur als anonyme "sie" vorgestellt wird, reagiert Mauritz Malnberg auf das, was Bob Dylan komponierte, als er die Mitte der Studentenrevolte verlassen hatte und deren kläglichen Abstieg zum Fluchtpunkt verklärter Erinnerungen voraussah: "May you stay forever young."

Der sechzehnjährige Mauritz stand nie im Brennpunkt, die Rebellion der Jungen war draußen, dort, wohin er irgendwann einmal gehen würde. Aber die Botschaften des Aufstands und seine Attribute werden in dem schwedischen Provinznest Kumla, wo Mauritz lebt, gierig aufgenommen. Liedzeilen von Bob Dylan, Eric Burdon, von "Fleetwood Mac", John Mayal und den "Doors" fungieren als "Sesam, öffne dich!" in die vermeintliche innere Freiheit, Salinger, Joyce und Mad zeigen die Welt, wie sie ist, Zigaretten und Bier schieben Polsterwände vor den erdrückenden Alltag.

Manchmal schreibt Mauritz Liebesgedichte im Dylan-Stil, die er seiner ersten Liebe Signhild so verheimlicht wie seine Gefühle, oder schnörkellose Prosa, die seinen Lehrer verblüfft und die er vor seinem Vater, einem Journalisten, verbirgt - vielleicht, weil der sich mit dem Provinzdasein abgefunden hat. Die Mutter muß sich nicht abfinden, sie scheint zur Zufriedenheit geboren. Nur ihre quälende Angewohnheit, Sätze unvollendet zu lassen, deutet auf mehr. Was würde sie sagen, blieben ihre Worte nicht in der Luft hängen? Welche Person käme zum Vorschein? Das fragt Mauritz sich, plötzlich bestürzt, zwischen seinen Phantasien von künftigem eigenem Familienglück oder einsamem Schriftstellerdasein "in suizidalen Bars".

Ganz genau erinnert der erwachsene Mann sich an alles, auch an die Sonntagsessen mit den ewiggleichen Gerichten, den Floskeln und Ritualen, die die tatsächliche Stummheit leugnen. Aber Nesser verwendet kein kempowskisches Echolot. Er wählt aus und komponiert aus Stichwortprotokollen eine ganze Provinzwelt mit ihren tausend Verschrobenheiten und Zwängen. Was aber Raum braucht, erhält ihn: Mauritz, wie er vor der ersten Nacht mit Signhild im Spiegel die angemessene Erscheinung sucht, sich wechselnd im Slip, nackt und im Pyjama betrachtet, um endlich, mit "Alfred E. Neumann-T-Shirt" und Pyjamahose, eine "extra dicke Schicht Mumm unter den Achseln", bebend hinüberzuschleichen ins Gästezimmer, wo das aufgeregte Mädchen wartet, das dann mit einer wundervollen Aufrichtigkeit alle Verkrampfungen löst: "Ich fühle mich ein bißchen unsicher. Mir ist heiß. Komm, laß uns die Sachen ausziehen."

Um seine frische Männerehre zu wahren, hat Mauritz zuvor ihre Frage, ob er schon einmal mit einem Mädchen geschlafen habe, mit einem gewundenen, rührend lächerlichen "Ich glaube nicht" beantwortet. In seinem Kopf aber ist er ganz geradlinig. Mitten noch im Übergefühl der erfüllten ersten Liebe gesteht er sich bald darauf ein, daß ihn die Trauer des Mädchens, das ein Familiendrama durchlebt, zunehmend Geduld kostet, ihn sogar für Sekunden langweilt. Er ist auch fähig, ohne Gewissensbisse gleichzeitig an den Sechstagekrieg, die tödlichen Schüsse auf Che Guevara, an den scheuernden Kragen seines Hemds und an die Möglichkeit zu denken, daß von seiner ersten Liebe nichts zurückbleiben könnte als die Erinnerung von Haut an Haut.

Träume? "Die meisten bleiben auf der Innenseite unseres Unterbewußtseins, und wir kommen ihnen nie wirklich nahe." So dachte der junge Mauritz, so erinnert sich der reife, der selbstmißtrauisch träumend wurde, wie er ist, und so werden konnte, weil die Rebellen in London, Paris, Berlin und San Francisco dem Sechzehnjährigen Gedankenfreiheit schenkten. "Die Zeit ist ein Dieb. Zuerst gibt sie uns alles, aber dann müssen wir alles wieder abliefern. Menschen, Begegnungen, Momente. So einfach ist das. So grausam ist das." An einem feuchtkalten Februartag 1968 geht das Mauritz durch den Kopf, im selben Jahr, in dem der zwanzigjährige Cat Stevens "Father and Son" sang: "For you might still be here tomorrow, but your dreams may not." Das war vielleicht das Schönste und die größte Schwäche der Jugendrevolte zugleich - die Ahnung ihrer Vergeblichkeit.

Ein anderer berühmter Stevens-Song heißt: "The first cut is the deepest". Mauritz hat zeitlebens unter dem ersten Schnitt, dem plötzlichen Verschwinden Signhilds, gelitten. Ist sie die Unbekannte, zu der er unterwegs ist? Wird sich am Ende der Fahrt - schließlich wird der Roman als Krimi verkauft - herausstellen, daß sie in jenen Mord verwickelt war, der damals das Nest Kumla monatelang in Atem hielt, bis "die Kirche brannte und die Leute das Drama um die Familie Kekkonen-Bolego vergessen ließ"?

Damit und mit dem einleitenden Hinweis, daß das Drama um einen äußerst brutalen Mord kreiste - Signhilds Vater, der Uhrmacher Kekkonen, lag geköpft in seinem Bett -, ist der Köder für alle Leser gelegt, die Spannung erwarten. Ein ambitionierter Krimi also? Nein, Nesser hat eine Erzählung von den Dingen des Lebens geschrieben, einen ausgefeilten kurzen Roman, dem der Mord nur Vorwand ist. Skurrile Gestalten leben in Kumla: Mauritz' blinde Großtante Ida zum Beispiel, die ihm einen Daumen schenkt, das in Spiritus aufbewahrte und, wie sie fest glaubt, glücksbringende einzige Andenken an ihren einzigen Geliebten, einen gefallenen deutschen Fähnrich. Ein junger Dichter taucht auf, der aussieht wie ein Frank Zappa, der Nosferatu spielt und den sprachlos verwunderten Provinzlern auf dem Marktplatz von Kumla in einem "Lesung" genannten Happening symbolistische Reime zuschreit.

Der Duft von Großtante Idas Zimttörtchen und geronnenes Blut, eine Kastanie vorm Fenster, auf deren Blättern nachts ein Sommerregen trommelt, und eine Axt, die Halswirbel durchteilt wie Butter, ein Junge, der in den Sommerferien Torf sticht, um das Geld für Platten der "Stones" zu verdienen, und die große Hoffnung der Jugend auf eine neue Welt: eine kleine Geschichte aus der Provinz erzählt ganz sacht eine ganze umwälzende Ära. Da wird sogar die Krimilösung der letzten Sätze auf der letzten Seite zum Gleichnis jener Kerker, aus der eine Generation vergebens ausbrechen wollte: Der Mord war die Konsequenz eines Eifersuchtsdramas, der Täter tötete, um den Anschein heiler Welt aufrechtzuerhalten. Eine Affäre, von der jeder im Ort erfahren hätte? "Das ging ja nicht an."

Håkan Nesser: "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb, München 2004. 334 S., geb., 21,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Schon nach wenigen Sätzen war Rezensent Dieter Bartezko gefangen von diesem ausgefeilten schwedischen Roman, der seinen Informationen zufolge nur vordergründig als Krimi daher kommt. In Wahrheit handele er von den "Dingen des Lebens", von Liebe, und der Art, wie wir uns erinnern. Der äußerst brutale Mord an einem Uhrmacher, um den das geschilderte Drama kreise, ist für den Rezensenten nur Köder und Vorwand. Bartetzko skizziert kurz, aber äußerst engagiert Handlungsstränge und Figuren des Romans, wie den Ich-Erzähler Mauritz, der sich vierundfünfzigjährig an eine fast vierzig Jahre zurückliegende Zug-Fahrt erinnert. Es sind besonders die Selbstbetrachtungen dieses Protagonisten, die den Rezensenten faszinieren. Aber auch die Art und Weise, wie Autor Hakan Nesser aus Stichwortprotokollen eine ganze Provinzwelt "mit ihren tausend Verschrobenheiten und Zwängen" und die Erinnerung an eine ganze Epoche komponiert, beeindrucken ihn sehr.

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