Harald Fischer-Tiné zeigt in seinem Essay die Grenzen der in der Wissenschaftsgeschichte lange verbreiteten eurozentrischen Diffusionsmodelle auf und demonstriert, dass wissenschaftliches Wissen kein topographisch lokalisierbares Zentrum besaß - auch nicht im scheinbar so eindeutig von der Dominanz des Westens geprägten 'kolonialen' 19. Jahrhundert. Konkret wird das praktische Potenzial neuer historischer Perspektiven aus Globalgeschichte und new imperial history für eine Bereicherung der Wissensgeschichte anhand eines Beispiels aus der Geschichte der Medizin fruchtbar gemacht: der Genese der westlichen (Kolonial-)Medizin in Britisch-Indien sowie der gleichzeitig stattfindenden Transformation lokaler südasiatischer Heiltraditionen. Wie Fischer-Tiné argumentiert, entstand in beiden Fällen ein von Anleihen und Übersetzungen geprägtes 'Pidgin-Wissen', das sich einer eindeutigen geographischen, kulturellen oder ethnischen Verortung entzieht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2013Geteiltes Leid
Im Feld der Globalgeschichte gibt es Manifeste zuhauf. Der an der ETH Zürich lehrende Südasienhistoriker Harald Fischer-Tiné möchte das Regal der programmatischen Schriften nicht noch weiter auffüllen. In seinem vorzüglichen Essay unternimmt er stattdessen eine "Probebohrung" mit dem Ziel, die Wissenschafts- und Wissensgeschichte durch die Einbeziehung global- und imperialhistorischer Perspektiven neu zu justieren. Dafür untersucht er die Genese der westlichen Medizin in Indien unter britischer Kolonialherrschaft sowie die sich gleichzeitig vollziehende Transformation südasiatischer Heiltraditionen und kommt zu einem aufschlussreichen Ergebnis: In der kolonialen "Kontaktzone" entstand ein "Pidgin-Wissen", in das Wissensbestände und Praktiken unterschiedlicher Provenienz einflossen. Die Vorstellung von bipolaren Topographien des Wissens, wie sie immer noch die Forschung dominiert, muss demnach überdacht werden. Die klare Trennung in "westliche" und "indische" Medizin, argumentiert Fischer-Tiné, löse sich auf, wenn man die wechselseitigen Transfers und Anleihen in Rechnung stelle. Diese ergaben sich aus der lang andauernden Interaktion von Experten verschiedenen Hintergrunds und einer Reihe von nichtwissenschaftlichen Akteuren, Kolonialverwaltern etwa, einheimischen Übersetzern, Homöopathen und nationalistischen Agitatoren. Gerade in Situationen, in denen sich ihr Wissen als unzulänglich erwies, griffen westliche Kolonialmediziner gerne und großzügig auf lokale Kenntnisse zurück. (Harald Fischer-Tiné: "Pidgin-Knowledge". Wissen und Kolonialismus. Diaphanes, Zürich und Berlin 2013. 100 S., br., 10,- [Euro].)
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Feld der Globalgeschichte gibt es Manifeste zuhauf. Der an der ETH Zürich lehrende Südasienhistoriker Harald Fischer-Tiné möchte das Regal der programmatischen Schriften nicht noch weiter auffüllen. In seinem vorzüglichen Essay unternimmt er stattdessen eine "Probebohrung" mit dem Ziel, die Wissenschafts- und Wissensgeschichte durch die Einbeziehung global- und imperialhistorischer Perspektiven neu zu justieren. Dafür untersucht er die Genese der westlichen Medizin in Indien unter britischer Kolonialherrschaft sowie die sich gleichzeitig vollziehende Transformation südasiatischer Heiltraditionen und kommt zu einem aufschlussreichen Ergebnis: In der kolonialen "Kontaktzone" entstand ein "Pidgin-Wissen", in das Wissensbestände und Praktiken unterschiedlicher Provenienz einflossen. Die Vorstellung von bipolaren Topographien des Wissens, wie sie immer noch die Forschung dominiert, muss demnach überdacht werden. Die klare Trennung in "westliche" und "indische" Medizin, argumentiert Fischer-Tiné, löse sich auf, wenn man die wechselseitigen Transfers und Anleihen in Rechnung stelle. Diese ergaben sich aus der lang andauernden Interaktion von Experten verschiedenen Hintergrunds und einer Reihe von nichtwissenschaftlichen Akteuren, Kolonialverwaltern etwa, einheimischen Übersetzern, Homöopathen und nationalistischen Agitatoren. Gerade in Situationen, in denen sich ihr Wissen als unzulänglich erwies, griffen westliche Kolonialmediziner gerne und großzügig auf lokale Kenntnisse zurück. (Harald Fischer-Tiné: "Pidgin-Knowledge". Wissen und Kolonialismus. Diaphanes, Zürich und Berlin 2013. 100 S., br., 10,- [Euro].)
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»In seinem vorzüglichen Essay unternimmt Fischer-Tiné eine 'Probebohrung' mit dem Ziel, die Wissenschafts- und Wissensgeschichte durch die Einbeziehung global- und imperialhistorischer Perspektiven neu zu justieren.« Frankfurter Allgemeine Zeitung