In einer schlaflosen Nacht steht der junge Grafikdesigner Kawashima schweißgebadet an der Wiege seiner neugeborenen Tochter und wird von dem nahezu unkontrollierbaren Verlangen getrieben, mit dem Eispickel, den er fest umschlossen hält, ihren zarten weißen Hals entlangzustreichen. Es sind die alten Dämonen, die ihn heimsuchen. Vor Jahren hatte er ihnen schon einmal nachgegeben und seine damalige Geliebte niedergestochen. Um seine Familie vor sich zu schützen, zieht sich Kawashima in ein Hotel zurück und beschließt, eine junge Prostituierte anzuheuern und sie anstatt des Kindes zu töten. Doch die zierliche Chiaki mit ihrer makellos blassen Haut ist nur vermeintlich ein leichtes Opfer, denn auch sie hat ihre Dämonen, die sie quälen und bis zum Äußersten treiben ... In seiner kühlen, präzisen Sprache beschreibt Ryu Murakami, wie sich zwei Menschen in einem fatalen Pas de deux umkreisen, immer den Abgrund vor Augen, auf den sie zusteuern. »Piercing« ist ein eindringliches literarisches Kammerspiel: In der Schattenwelt des nächtlichen Tokyo verlieren sich Murakamis Figuren zwischen ihren Sehnsüchten und traumatischen Erinnerungen, und die Rollen von Täter und Opfer werden neu verteilt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2009Schmerztherapie
Im Horrorfilm wird das nächste Schrecknis immer von diesem unheilkündenden Akkord eingeleitet. Bei Ryu Murakami ist es umgekehrt: Sein großartig überdrehter Roman "Piercing" erzeugt die genretypischen Dissonanzen im Geiste des Lesers, so meisterlich spielt der japanische Filmemacher und Schriftsteller auf der Klaviatur des wohligen Schauderns. Der Familienvater Kawashima wird nachts von der Obsession geplagt, sein neugeborenes Kind ermorden zu müssen. "Hauchdünne Äderchen durchzogen die Pfirsichhaut seiner Wangen. Kawashima strich über die Oberfläche dieses zarten Flaums, zuerst mit der Fingerspitze und dann ebenso behutsam mit der Spitze des Eispickels." Wie bei jedem guten Psychotiker steckt ein ungestilltes Liebesbedürfnis dahinter: Kawashima wurde als Kind von seiner Mutter nach allen Regeln der Kunst gequält. Auf Anraten seines inneren Alter Egos beschließt er, alternativ eine junge Prostituierte zu töten. Doch er gerät an Chiaki, die von ihrem Vater missbraucht wurde und Kawashima an Wahnhaftigkeit in nichts nachsteht. Es entwickelt sich eine verstörende Romanze, in der die Sexphantasie des einen die Zerstörungslust des anderen beflügelt. Die beiden Seelenverwandten arbeiten ihre Leidensgeschichten in einer eigenartigen Paartherapie auf, indem sie einander mit allerhand zweckentfremdetem Gerät versehren. Der kathartische Effekt besteht in der am Ende gewonnenen Sicherheit: Für diesen Wahnsinn gibt es kein Heilmittel. (Ryu Murakami: "Piercing". Roman. Verlag Liebeskind, München 2009. 176 S., geb., 16,90 [Euro].) brey
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Horrorfilm wird das nächste Schrecknis immer von diesem unheilkündenden Akkord eingeleitet. Bei Ryu Murakami ist es umgekehrt: Sein großartig überdrehter Roman "Piercing" erzeugt die genretypischen Dissonanzen im Geiste des Lesers, so meisterlich spielt der japanische Filmemacher und Schriftsteller auf der Klaviatur des wohligen Schauderns. Der Familienvater Kawashima wird nachts von der Obsession geplagt, sein neugeborenes Kind ermorden zu müssen. "Hauchdünne Äderchen durchzogen die Pfirsichhaut seiner Wangen. Kawashima strich über die Oberfläche dieses zarten Flaums, zuerst mit der Fingerspitze und dann ebenso behutsam mit der Spitze des Eispickels." Wie bei jedem guten Psychotiker steckt ein ungestilltes Liebesbedürfnis dahinter: Kawashima wurde als Kind von seiner Mutter nach allen Regeln der Kunst gequält. Auf Anraten seines inneren Alter Egos beschließt er, alternativ eine junge Prostituierte zu töten. Doch er gerät an Chiaki, die von ihrem Vater missbraucht wurde und Kawashima an Wahnhaftigkeit in nichts nachsteht. Es entwickelt sich eine verstörende Romanze, in der die Sexphantasie des einen die Zerstörungslust des anderen beflügelt. Die beiden Seelenverwandten arbeiten ihre Leidensgeschichten in einer eigenartigen Paartherapie auf, indem sie einander mit allerhand zweckentfremdetem Gerät versehren. Der kathartische Effekt besteht in der am Ende gewonnenen Sicherheit: Für diesen Wahnsinn gibt es kein Heilmittel. (Ryu Murakami: "Piercing". Roman. Verlag Liebeskind, München 2009. 176 S., geb., 16,90 [Euro].) brey
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Sichtlich beeindruckt bespricht Rezensentin Katharina Granzin dieses "blutige Kammerspiel für zwei", das an Gewalt, wie man ihrer Beschreibung der im Roman verhandelten S/M-Beziehung entnehmen kann, nicht viel auslässt. Doch legt die Rezensentin auf die Feststellung wert, dass Ryu Murakami kein "Splatter-Autor" sei, sondern (wie in seinen Filmen) hier Bilder der Gewalt verwende, um Wunden des Lebens kenntlich zu machen. So ganz verrät sie aus Gründen der Rezensentinnendiskretion nicht, was sich genau bei der Begegnung zwischen einem, von seinen Obsessionen geplagten Werbegrafiker und einer jungen Prostituierten in einem Hotel abspielt - und auch nicht, wie die Begegnung ausgeht. Der Ton allerdings lässt Böses ahnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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