Pierre Boulez zählt zweifellos zu den renommiertesten Komponisten unserer Zeit. Von außerordentlicher Bedeutung ist darüber hinaus seine Rolle als Intellektueller, Autor, Theoretiker, Dirigent und Interpret. Martin Zenck legt mit seinem Buch Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde die erste umfassende Studie über dessen vorläufiges Gesamtwerk in deutscher Sprache vor. Zenck verbindet es mit Boulez' theoretischen Schriften, seiner Praxis als Dirigent und 'Kulturmanager' vor dem Hintergrund der philosophischen Diskurse und dem Panorama der anderen Künste seiner Zeit.Im Mittelpunkt steht dabei der Musikdenker Boulez, der das Kompositorische selbst als eine genuine Denkpraxis begreift, die Martin Zenck auf völlig neue Weise als eine Praxis des 'Gestischen' versteht. Diese führt auf eine vierfache Signatur zurück: Die Textur der Schrift, ihre Bewegung einerseits, die zweitens den Leib und seine Gebärden einschließt, zum Dritten das synästhetische Spiel der Sinne und ihreverschiedenen Medien, und schließlich das performative Moment der Darbietung, der Präsentation, das auf seine Weise allererst Raum und Zeit entstehen lässt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2017Wo Pierre Boulez für Bayreuth lernte
Martin Zenck durchstreift das Werk des vor einem Jahr verstorbenen Komponisten
"Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen", schrieb der Kritiker und Musiktheoretiker Eduard Hanslick 1854. Damit formulierte er eine zentrale ästhetische Position des neunzehnten Jahrhunderts. Erwin Stein, ein Schüler Arnold Schönbergs, setzte dem 1927 entgegen, Musik bestehe aus "tönend bewegten Gedanken". Dass Musik nicht nur Gedanken darstellen, sondern eine Art des Denkens sein kann, bezeugt Martin Zencks Buch über Pierre Boulez: Es ist eine Abenteuerreise durch die Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und die bislang wohl umfangreichste Studie über den vor einem Jahr verstorbenen Komponisten.
Zenck durchstreift Boulez' Gesamtwerk, die überlieferten Kompositionen der Jugendzeit ausgenommen, bis zum letzten Klavierstück aus dem Jahr 2005. Dabei legt der emeritierte Professor für Musikwissenschaft, der zuletzt in Würzburg lehrte, ein inoffizielles OEuvre frei: Im Mittelpunkt steht der Theatermacher Boulez, der von 1946 bis 1955 als Hauskomponist und Kapellmeister des Ensembles von Jean-Louis Barrault tätig war. Hier stellte sich die Eignung des jungen Musikers für institutionelles Arbeiten ebenso heraus, wie sich die charakteristische Doppelrolle des dirigierenden Komponisten entwickelte.
Dem Bedauern, dass Boulez nie eine Oper geschrieben hat, kann Zenck dank detaillierter Archivstudien entgegenhalten, dass dessen Bühnenmusik zur "Orestie" des Aischylos von 1955 einem durchkomponierten Musiktheaterwerk sehr nahe kommt. Bislang ging man von diversen Querbezügen, Übermalungen und Neukompositionen innerhalb des offiziellen Schaffens von Boulez aus, der selbst von einer Wucherung des Materials sprach. Zenck weist nun nach, dass sich unter den bekannten Schichten das Riesenwerk der Theaterarbeiten verbirgt, das heute von der Paul-Sacher-Stiftung in Basel gehütet wird. Wie Boulez' Frühwerk ist es für Aufführungen nicht freigegeben.
Auch dem Dirigenten werden mit Blick auf Barraults Theater neue Facetten abgewonnen. Das Repertoire, das Boulez in dem winzigen Orchestergraben des Pariser Marigny-Theaters erarbeitete, reicht von Tschaikowsky bis zu den neoklassizistischen Komponisten der Groupe des Six, für die er sich engagierte, ohne deren Ästhetik zu befürworten.
Jenseits des Schlachtrufs "Sprengt die Opernhäuser in die Luft!", den ihm der "Spiegel" 1967 in den Mund legte, war Boulez tatsächlich ein Neuerer des Musiktheaters. Das Image des Traditionszerstörers pflegt Zenck bereitwillig und kommt dabei selbst in Fahrt, wenn er etwa den Bayreuther Festspielen noch für die Nachkriegsjahre "nazimäßig aufgedonnerte Verhaltensweisen" unterstellt, mit denen der französische Musiker aufgeräumt habe - nota bene im Auftrag Wieland Wagners, dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht problematisiert wird.
Neben der Theaterpraxis spürt Zenck möglichen Verbindungen zur Philosophie nach. Symbolisch steht dafür ein im Buch nicht reproduzierter Schnappschuss, der 1978 in Paris auf der Baustelle des Musikforschungszentrums IRCAM einige Herren zwischen Kabelrollen und Mörteleimern zeigte: Boulez begegnete hier der Crème des französischen Geistes, nämlich Roland Barthes, Gilles Deleuze und Michel Foucault. Fasziniert vom Zusammentreffen dieser Koryphäen folgt Zenck den Spuren eines Gedankenaustauschs. Es bleibt offen, ob es sich da um eine substantielle Zusammenarbeit handelte.
Ob auf Barraults Bühne, auf dem Podium der Philosophie oder in der Dachkammer des Komponisten: Boulez erscheint in diesem Buch nie als der kühle Technokrat, den manche in ihm sehen wollen: Die "disziplinierende Ordnung und Anordnung musikalischer Materialien", so Zenck, "ist nur eine Seite, gegen die der Komponist schon frühzeitig das Muskuläre, die Intuition und den Instinkt stellt."
Das Buch würde man allerdings gern in einer überarbeiteten, auch gekürzten Neuauflage sehen. Denn nicht nur Preis und Umfang werden potentielle Interessenten abhalten, auch unnötig komplizierte Formulierungen, inhaltliche Unstimmigkeiten, Redundanzen und zahlreiche Flüchtigkeitsfehler. Dass das Gemälde "Las Meninas" nicht von Poussin stammt, hätte einem Lektor schon auffallen können.
Verwunderlich genug, dass dieses Gemälde überhaupt erwähnt wird. Doch gibt die berühmte Interpretation, die Foucault ihm angedeihen lässt, Zenck die Gelegenheit, auf Boulez' musikalischen Raumbegriff einzugehen. Nicht zuletzt in solchen Assoziationen erweist sich das Buch selbst als Phänomen einer Wucherung im Boulezschen Sinne. Mit Blick auf die stets überarbeiteten und präzisierten Partituren des großen Komponisten, lässt das auf Künftiges hoffen.
OLAF WILHELMER
Martin Zenck: "Pierre Boulez". Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016. 831 S., Abb., geb., 89,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Zenck durchstreift das Werk des vor einem Jahr verstorbenen Komponisten
"Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen", schrieb der Kritiker und Musiktheoretiker Eduard Hanslick 1854. Damit formulierte er eine zentrale ästhetische Position des neunzehnten Jahrhunderts. Erwin Stein, ein Schüler Arnold Schönbergs, setzte dem 1927 entgegen, Musik bestehe aus "tönend bewegten Gedanken". Dass Musik nicht nur Gedanken darstellen, sondern eine Art des Denkens sein kann, bezeugt Martin Zencks Buch über Pierre Boulez: Es ist eine Abenteuerreise durch die Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und die bislang wohl umfangreichste Studie über den vor einem Jahr verstorbenen Komponisten.
Zenck durchstreift Boulez' Gesamtwerk, die überlieferten Kompositionen der Jugendzeit ausgenommen, bis zum letzten Klavierstück aus dem Jahr 2005. Dabei legt der emeritierte Professor für Musikwissenschaft, der zuletzt in Würzburg lehrte, ein inoffizielles OEuvre frei: Im Mittelpunkt steht der Theatermacher Boulez, der von 1946 bis 1955 als Hauskomponist und Kapellmeister des Ensembles von Jean-Louis Barrault tätig war. Hier stellte sich die Eignung des jungen Musikers für institutionelles Arbeiten ebenso heraus, wie sich die charakteristische Doppelrolle des dirigierenden Komponisten entwickelte.
Dem Bedauern, dass Boulez nie eine Oper geschrieben hat, kann Zenck dank detaillierter Archivstudien entgegenhalten, dass dessen Bühnenmusik zur "Orestie" des Aischylos von 1955 einem durchkomponierten Musiktheaterwerk sehr nahe kommt. Bislang ging man von diversen Querbezügen, Übermalungen und Neukompositionen innerhalb des offiziellen Schaffens von Boulez aus, der selbst von einer Wucherung des Materials sprach. Zenck weist nun nach, dass sich unter den bekannten Schichten das Riesenwerk der Theaterarbeiten verbirgt, das heute von der Paul-Sacher-Stiftung in Basel gehütet wird. Wie Boulez' Frühwerk ist es für Aufführungen nicht freigegeben.
Auch dem Dirigenten werden mit Blick auf Barraults Theater neue Facetten abgewonnen. Das Repertoire, das Boulez in dem winzigen Orchestergraben des Pariser Marigny-Theaters erarbeitete, reicht von Tschaikowsky bis zu den neoklassizistischen Komponisten der Groupe des Six, für die er sich engagierte, ohne deren Ästhetik zu befürworten.
Jenseits des Schlachtrufs "Sprengt die Opernhäuser in die Luft!", den ihm der "Spiegel" 1967 in den Mund legte, war Boulez tatsächlich ein Neuerer des Musiktheaters. Das Image des Traditionszerstörers pflegt Zenck bereitwillig und kommt dabei selbst in Fahrt, wenn er etwa den Bayreuther Festspielen noch für die Nachkriegsjahre "nazimäßig aufgedonnerte Verhaltensweisen" unterstellt, mit denen der französische Musiker aufgeräumt habe - nota bene im Auftrag Wieland Wagners, dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht problematisiert wird.
Neben der Theaterpraxis spürt Zenck möglichen Verbindungen zur Philosophie nach. Symbolisch steht dafür ein im Buch nicht reproduzierter Schnappschuss, der 1978 in Paris auf der Baustelle des Musikforschungszentrums IRCAM einige Herren zwischen Kabelrollen und Mörteleimern zeigte: Boulez begegnete hier der Crème des französischen Geistes, nämlich Roland Barthes, Gilles Deleuze und Michel Foucault. Fasziniert vom Zusammentreffen dieser Koryphäen folgt Zenck den Spuren eines Gedankenaustauschs. Es bleibt offen, ob es sich da um eine substantielle Zusammenarbeit handelte.
Ob auf Barraults Bühne, auf dem Podium der Philosophie oder in der Dachkammer des Komponisten: Boulez erscheint in diesem Buch nie als der kühle Technokrat, den manche in ihm sehen wollen: Die "disziplinierende Ordnung und Anordnung musikalischer Materialien", so Zenck, "ist nur eine Seite, gegen die der Komponist schon frühzeitig das Muskuläre, die Intuition und den Instinkt stellt."
Das Buch würde man allerdings gern in einer überarbeiteten, auch gekürzten Neuauflage sehen. Denn nicht nur Preis und Umfang werden potentielle Interessenten abhalten, auch unnötig komplizierte Formulierungen, inhaltliche Unstimmigkeiten, Redundanzen und zahlreiche Flüchtigkeitsfehler. Dass das Gemälde "Las Meninas" nicht von Poussin stammt, hätte einem Lektor schon auffallen können.
Verwunderlich genug, dass dieses Gemälde überhaupt erwähnt wird. Doch gibt die berühmte Interpretation, die Foucault ihm angedeihen lässt, Zenck die Gelegenheit, auf Boulez' musikalischen Raumbegriff einzugehen. Nicht zuletzt in solchen Assoziationen erweist sich das Buch selbst als Phänomen einer Wucherung im Boulezschen Sinne. Mit Blick auf die stets überarbeiteten und präzisierten Partituren des großen Komponisten, lässt das auf Künftiges hoffen.
OLAF WILHELMER
Martin Zenck: "Pierre Boulez". Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016. 831 S., Abb., geb., 89,- [Euro].
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