In seiner letzten Vorlesung am Collège de France im März 2001 erprobte Pierre Bourdieu seine reflexive Sozialwissenschaft am eigenen Lebenslauf und lieferte mit dieser Selbstanalyse zugleich ein prägnantes Beispiel für seine wissenschaftliche Methodik. »Ich weiß sehr genau, daß mir erst nach und nach die Grundsätze klar geworden sind, die meine Arbeit bestimmt haben.« Pierre Bourdieu
In seiner letzten Vorlesung am Collège de France im März 2001 erprobte Pierre Bourdieu seine reflexive Sozialwissenschaft am eigenen Lebenslauf und lieferte mit dieser Selbstanalyse zugleich ein prägnantes Beispiel für seine wissenschaftliche Methodik.
»Ich weiß sehr genau, daß mir erst nach und nach die Grundsätze klar geworden sind, die meine Arbeit bestimmt haben.« Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu, am 1. August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques) geboren, besuchte dort das Lycée de Pau und wechselte 1948 an das berühmte Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nachdem er die Eliteschule der École Normale Supérieure durchlaufen hatte, folgte eine außergewöhnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er Assistent an der Faculté des lettres in Algier, wechselte dann nach Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der École Pratique des Hautes Études en Sciences Sociales. Im selben Jahr begann er, die Reihe Le sens commun beim Verlag Éditions de Minuit herauszugeben und erhielt einen Lehrauftrag an der Ècole Normale Supérieure. Es folgten Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seit 1975 gibt er die Forschungsreihe Actes de la recherche en sciences sociales heraus. 1982 folgte schließlich die Berufung an das Collège de France. 1993 erhielt er die höchste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben wird, die Médaille d'or des Centre National de Recherche Scientifique. 1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen. In seinen ersten ethnologischen Arbeiten untersuchte Bourdieu die Gesellschaft der Kabylen in Algerien. Die in der empirischen ethnologischen Forschung gemachten Erfahrungen bildeten die Grundlage für seine 1972 vorgelegte Esquisse d'une théorie de la pratique (dt. Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979). In seinem wohl bekanntesten Buch La distinction (1979, dt. Die feinen Unterschiede, 1982) analysiert Bourdieu wie Gewohnheiten, Freizeitbeschäftigungen, und Schönheitsideale dazu benutzt werden, das Klassenbewußtsein auszudrücken und zu reproduzieren. An zahlreichen Beispielen zeigt Bourdieu, wie sich Gruppen auf subtile Weise durch die feinen Unterschiede in Konsum und Gestus von der jeweils niedrigeren Klasse abgrenzen. Mit Le sens pratique (dt. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 1987) folgte 1980 eine ausführliche Reflexion über die konkreten Bedingungen der Wissenschaft, in der Bourdieu das Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu denken versucht. Ziel dieser Analysen ist es, die »Objektivierung zu objektivieren« und einen Fortschritt der Erkenntnis in der Sozialwissenschaft dadurch zu ermöglichen, daß sie ihre praktischen Bedingungen kritisch hinterfragt. Seit dem Beginn der 90er Jahre engagiert sich Bourdieu für eine demokratische Kontrolle ökonomischer Prozesse. 1993 rief er zur Gründung einer »Internationalen der Intellektuellen« auf, deren Ziel darin besteht, das Prestige und die Kompetenz im Kampf gegen Globalisierung und die Macht der Finanzmärkte in die Waagschale zu werfen. Die im selben Jahr gegründete Zeitschrift Liber soll dazu ein unabhängiges Forum bieten. Seine politischen Aktivitäten zielen darauf ab, eine Versammlung der "Sozialstände in Europa" einzuberufen, die den europäischen Einigungsprozeß kontrollieren und begleiten soll. Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris. Stephan Egger war Research Fellow am Soziologischen Seminar der Universität St. Gallen und Mitherausgeber von Pierre Bourdieus Schriften. Franz Schultheis ist Präsident der Fondation Bourdieu und Professor für Soziologie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.
Rezensionen
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Obwohl Bourdieus "Selbstversuch" ausdrücklich keine Autobiografie sein will, sind, befindet Hans Berhnard Schmid, die vielleicht am stärksten autobiografischen Teile des Buches - über Bourdieus Kindheit auf einem kleinen Bauernhof und die von Auflehnung geprägte Schulzeit - "wohl die eindringlichsten des Buches". Trotz einer deutlichen Wertschätzung für Bourdieus Werk spart der Rezensent außerdem nicht mit Kritik an dem Versuch, mit diesem Buch, wie Schmid es sieht, der möglichen Wendung von Bourdieus soziologischem Instrumentarium - das nicht zuletzt die "intellektuelle Welt in Frage" stellte - gegen ihn selbst und sein Wirken zuvorzukommen. Bourdieu spreche demgegenüber zwar ausdrücklich davon, dass er die intellektuelle Selbstkritik als "ein kollektives Unternehmen" begreife, der "Vorzeigeintellektuelle" habe dann jedoch in seinen Kritikern "kaum je Mitarbeiter zu sehen vermocht". Vor allem Bourdieus Behandlung seiner Rolle innerhalb seiner eigenen Forschergruppe ruft für Schmid nach einer unabhängigen Untersuchung durch andere: In Bourdieus Darstellung erscheine diese Gruppe einmal wie eine "intellektuelle Guerilla", und Bourdieu als deren charismatischer Führer, ein andermal berufe sich Bourdieu zur Beschreibung der Gruppe auf Husserls "Beamte der Humanität".