Produktdetails
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Arnim Adam zeigt sich recht erfreut vom neuen Tumult-Heft, das den hierzulande noch kaum bekannten Historiker, Psychoanalytiker, Juristen Pierre Legendre vorstellt. Legendre hat sich laut Rezensent in Frankreich mit seinen historischen Forschungen zur Verwaltung einen Namen gemacht. Sein Denken kreist nach Ansicht des Rezensenten um die anthropologischen Grundlagen der westlichen Kultur. Wie Adam ausführt, steht dabei die Frage im Mittelpunkt, was den Menschen am Leben erhält. Nach Legendre sind es die Institutionen - sie erst ermöglichen die menschliche Existenz, erklärt der Rezensent. Die Verleugnung der Institutionen seitens des aufgeklärten, liberalen Bewusstseins sei der harte Kern der modernen westlichen Kultur, denn erst die verleugnete Institution arbeite wirklich effizient. Neben vier Texten von Legendre - darunter ein Text zur Goldhagen-Debatte und ein ausführliches Interview mit Legendre, in dem Legendre selbst die wesentlichen Topoi seines "sonst nicht immer ganz verständlichen Denkens" erläutert - bietet das Tumult-Heft nach Auskunft des Rezensenten einige kleinere Texte zur Einführung in das Werk und zu speziellen Problemen. In diesem Zusammenhang hebt der Rezensent insbesondere Manfred Schneiders "sehr klare" Einführung in die Grundpositionen von Legendres Werk hervor.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2002

Von der lebensrettenden Macht der Institutionen
Die französischen Poststrukturalisten werden zu Unrecht geschmäht: Die Zeitschrift „Tumult” stellt den Rechtshistoriker und Religionswissenschaftler Pierre Legendre vor
Die Rezeption des französischen Denkens ist seit den mittleren neunziger Jahren in ein seltsames Stadium eingetreten, in dem sich Adaption und vorsätzliche Missachtung vermischen. Die Verknüpfung der französischen Autoren, die einst unter den Begriff des Poststrukturalismus zusammengefasst wurden, mit der Postmoderne hat die Stärken dieses Denkens kleiner aussehen lassen, als sie sind. Denn die Postmoderne erscheint heute als ein skurriles Intermezzo in der Geschichte der Moderne wegen ihres angeblich vernunftfeindlichen Gestus. Dabei hatte das französische Denken zwischen den sechziger und den achtziger Jahren großes kreatives Potenzial, davon sprechen einige Namen: Foucault, Lacan, Barthes, Derrida, Lyotard, Virilio, Baudrillard.
Mit Pierre Legendre wird nun von jungen deutschen und Schweizer Intellektuellen ein neuer Name ins Spiel gebracht. Legendre, Jahrgang 1930, war Professor für öffentliches Recht an der Sorbonne und lehrte an der École Pratique des Hautes Études Religionswissenschaften. Sein erstes Buch handelte vom Eindringen des römischen Rechts in das klassische kanonische Recht (1964). Seine Studie über die französische Verwaltung seit dem 18. Jahrhundert (1969) gehört zu den Standardwerken der französischen Rechtslehre. Mit diesen beiden Büchern ist auch der Rahmen umrissen, in dem sich Legendres spätere Werke bewegen: Religion, Recht und Verwaltung. Allerdings verlassen diese Bücher das Feld klassischer historischer Gelehrsamkeit, welches die ersten beiden Bücher auszeichnet, um unter Verwendung des historischen Materials die anthropologischen Grundlagen der westlichen Kultur zu begreifen. Den Schlüssel zu diesem Verständnis liefert die Psychoanalyse Jacques Lacans, die das Denken Legendres ganz wesentlich bestimmt.
Wie lebt der Mensch?
Legendres Denken kreist um die Frage, was den Menschen am Leben erhält. In einem sehr klaren – allerdings vom Setzer ganz offensichtlich verstümmelten – Aufsatz in diesem Legendre gewidmeten Tumult-Heft gibt Manfred Schneider eine Einführung in die Grundpositionen des Werkes. Institutionen sind nicht einfach ein Beiwerk der menschlichen Existenz; Institutionen erlauben erst die menschliche Existenz. Der Liberalismus, so Legendre, belügt den Menschen, wenn er ihm die Hoffnung einer wahren Menschlichkeit jenseits aller Institution verheißt. Denn der Mensch ist nur und er kann nur leben in Institutionen. Deren Aufgabe nämlich besteht darin, das Leben einzurichten, das Leben in eine Form zu bringen. Damit führt Legendre die Institutionenlehre Arnold Gehlens noch ein Stück weiter, der in der Institution eine anthropologische Krücke ausgemacht hatte, mit der der Mensch seinen zentralen Mangel wettmacht, das Fehlen der Instinkte.
Dem aufgeklärten, liberalen Geist erscheinen Institutionen als Relikte einer Vorgeschichte, die man im besten Fall mit ethnologischem Staunen wahrnimmt – das scheint auch die Gestaltung des Heft-Umschlages zu bestimmen: in Magentarot ist eine Kardinalsversammlung zu sehen. Die kulturelle Fassung des Menschenlebens scheint einer anderen Welt anzugehören: Mädchenbeschneidung in Afrika, um nur eines der oft genannten Beispiele anzuführen. Dagegen steht die westliche Fiktion des autonomen Subjektes, welches in völliger Freiheit sein Leben entwirft. Das reicht von den Gründungsphantasien der Politischen Theorie über den utopischen Sozialismus des jungen Marx bis zu den „kalifornischen” Träumen einer Menschheit, die ihr Leben jenseits aller Verbote selbst in die Hand nähme. Die Verleugnung der Institutionen, so Legendre, sei der harte Kern der modernen westlichen Kultur. Denn erst die verleugnete Institution arbeite wirklich effizient.
Seine historischen Forschungen zur Verwaltung haben Legendre den dogmatischen Rahmen unserer Kultur offenbart. Nun nimmt man ja an, dass Verwaltung einfach darin bestehe, ein Geschäft jenseits aller Dogmatik zu betreiben, pragmatisch, in Max Weberscher Nüchternheit sozusagen. Dogmatik, sagt Legendre in einem in diesem Band abgedruckten Interview, sei das, „was dem Universum der Repräsentationen, dem Spiel der bewussten und unbewussten Vorstellungen zu Grunde liegt”. „Dogmatisch” ist heute ein Schimpfwort, mit dem Behauptungen bezeichnet werden, die sich vor der Vernunft nicht ausweisen könnten. Behauptungen, die sich gegen eine vernünftige Auseinandersetzung sperren, um stattdessen mit besonderer Autorität zu gelten. Die großen Institutionen bringen die großen Dogmatiken hervor: Religion und Recht. Legendre macht deutlich, dass es sich dabei nicht um Betriebsunfälle der Geschichte handelt, und auch nicht einfach um abgeschlossene Epochen der Menschheitsgeschichte. Im Gegenteil: Dogmatisch ist das entscheidende Wissen der Menschheit, es ist „die von der Menschheit auf allen ihren Wegen immer schon mitgeführte Wissensration, die es ihr erlaubt weiterzugehen und weiterzumachen”.
In ihrem Selbstverständnis sind die westlichen Gesellschaften aufgeklärt und säkularisiert. Dogmatisches, so scheint es, hat dem Druck der Vernunft und dem technologischen Effektivitätsprinzip nicht standhalten können. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt lässt alles Dogmatische als Folklore erscheinen. Doch tatsächlich, so Legendre, ist die Wissenschaft selbst zur Religion geworden. Sie richtet jetzt das Leben des Menschen ein – und die Diskussionen über die Biotechnologie scheinen das zu bestätigen. Legendre hegt ein Ressentiment gegen die Gegenwart, die er als Hypermoderne bezeichnet.
Die vorgebliche Nüchternheit der Neuen Welt des Social Engineering, der Managementwissenschaften, der Marktwirtschaft und der Biotechnologien ist für Legendre auch wieder ein System der dogmatischen Vernunft. Die sich aber als solche nicht mehr erkennt. Ein kurzer Blick in die wesentlichen Debatten unserer Gesellschaft legt den Ausfall der Wahrnehmung eines normativen Fundamentes sehr schnell dar. Interessanterweise werden die normativen Fragen unserer Gesellschaft den Kirchen zugeschoben – um sie loszuwerden. Gerade die Debatte über die Biotechnologien zeigt, dass nur noch in den Kirchen ein Bewusstsein für normative Fragen herrscht, oder genauer: ein Bewusstsein für die Normativität von Fragen, von denen man im modernsten Diskurs glaubt, sie seien mit dem Hinweis auf Machbarkeit und einen kruden Biologismus erledigt.
Wer ist zuständig für Moral?
Das Tumult-Heft bringt vier Texte von Legendre – darunter einen Text zur Goldhagen-Debatte –, ein ausführliches Interview, in dem Legendre die wesentlichen Topoi seines sonst nicht immer ganz verständlichen Denkens erläutert und den politischen Einsatz seiner Rechtsanthropologie deutlich macht. Wer sich einen ersten Überblick über Legendre jenseits der üblichen französischen Unverständlichkeiten verschaffen möchte, der greife zum Tumult-Heft. Und wer es dann genauer wissen möchte, dem sei die von Clemenes Pornschlegel und Hubert Thüring besorgte Übersetzung vom „Verbrechen des Gefreiten Lortie” (1998) ans Herz gelegt. ARMIN ADAM
PIERRE LEGENDRE: Historiker, Psychoanalytiker, Jurist. Hrsg. von Cornelia Visman in Zusammenarbeit mit Susanne Lüdemann und Manfred Schneider. (Tumult, Schriften zur Verkehrswissenschaft, Band 26.) Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2002 . 121 Seiten, 15 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr