Six-year-old Turtle Greer witnesses a freak accident at the Hoover Dam during a tour of the Grand Canyon with her guardian, Taylor. Her insistence on what she has seen, and her mother's belief in her, lead to a man's dramatic rescue. The mother and adopted daughter duo soon become nationwide heroes.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2024Vom zeitweiligen Leben in einem alten Chevrolet
Mit "Demon Copperhead" stellt sich Barbara Kingsolver in die Tradition von Dickens und Grass. Aber ist dieses Werk wirklich der große Roman über die Appalachen, den sie zu schreiben vorhatte?
Der Roman ist, soweit die Kategorie überhaupt noch irgendeine Aussagekraft hat, eine Sache des Bürgertums. Für die Lektüre, um vom Schreiben noch gar nicht zu sprechen, braucht es Zeit und Geld, die Möglichkeit des Rückzugs, innere und äußere Ruhe, ja, überhaupt eine Wertschätzung fürs Erzählen und die Sprache. Und das umso mehr, als der Griff zum Smartphone, unserem aufmerksamkeitsheischenden Dauerbegleiter, einen viel unmittelbareren Kick verspricht. Ohne eine gewisse Disziplin kann die Lektüre eines längeren Prosawerks, wenn es denn überhaupt zu ihr kommt, zu einer unangenehm zähen Angelegenheit werden.
Die Tatsache, dass sich die Gegenwartsliteratur in den vergangenen Jahren mit besonderer Intensität der westlichen Abstiegsgesellschaft zugewendet hat, wirft vor diesem Hintergrund Fragen auf. Sie betreffen nicht die Herkunft der Autoren, also inwiefern sie mit ihrer eigenen Vergangenheit "beglaubigen" können, was sie in ihren Büchern schildern. Dieser Logik sollte man sich, wenn man sich nicht über sie lustig machen will wie jüngst die großartige Filmposse "American Fiction", am besten ohnehin verweigern. Fraglich ist vielmehr das poetische Verfahren, der bemerkenswert ungebrochene Realismus dieser Bücher, die oft ganz oben auf den Listen der Literaturpreisjurys stehen: Seht, wie diese armen Leute hausen und leben, den Schmutz, die Ausweglosigkeit! Die soziale Distanz wird dadurch nicht verringert, im Gegenteil, man badet entweder in wohligem Mitgefühl oder in der behaglichen Gewissheit, den "Marginalisierten" endlich "eine Stimme" zu geben. Beides ist unangenehm.
Barbara Kingsolver zählt in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten zu den prominentesten Autorinnen, während sie im deutschsprachigen Raum noch relativ unbekannt ist. Sie erzählt in ihrem Roman "Demon Copperhead", für den sie den Pulitzerpreis erhielt, von einer Jugend in den Neunziger- und frühen Zweitausenderjahren im südwestlichen Virginia. Hier, in den Appalachen, gab es früher einmal Bergbau, der für einen gewissen Wohlstand sorgte, bevor mit seiner Stilllegung der soziale Niedergang einsetzte. Soziales Elend, dysfunktionale Familien, Kriminalität und Drogen prägen seither das Leben. In der Presse, aus der im Roman zitiert wird, ist vom einem "Schandfleck" die Rede, einem "Schmutzstreifen", dessen Bewohner als "Hinterwäldler", als "Rednecks" bezeichnet werden.
In dieser Gegend wird Demon, Kingsolvers Held, in ein Dasein hineingeboren, dessen Stationen von Anfang an vorgezeichnet sind: eine Kindheit in Gewalt und Armut, der frühe Tod der "Junkie-Mom", wechselnde Sorgeberechtigte und Pflegefamilien, die den Jungen auf je eigene Weise ausbeuten, ja sogar körperlich an den Existenzrand bringen. Auf eine längere Phase relativer Stabilität, in der der Junge zum Star des Footballteams an seiner Highschool wird, folgt schließlich, nach einer heftigen Sportverletzung, der Totalabsturz. Demon beginnt, Tabletten zu schlucken, insbesondere das mit krimineller Energie vermarktete Schmerzmittel Oxycontin, und wird dadurch zu einem frühen Opfer der amerikanischen Opioid-Krise, deren reale katastrophale Folgen bis in unsere Gegenwart reichen, mit 100.000 Toten allein in den Jahren 2021/22.
Nur ganz langsam fängt sich Demon wieder, nach dem traurigen Krepieren der Freundin an einer Überdosis Morphin, der Verstrickung in beschaffungskriminelle Machenschaften und der zeitweisen Verlagerung des Wohnsitzes in einen heruntergekommenen Chevrolet Impala. Dabei hilft ihm nicht nur eine Reha-Maßnahme, sondern mehr noch sein Talent als Comiczeichner, dem er zunächst als Amateur im Netz nachgeht, bevor es ihm einen Buchvertrag und am Ende auch einigen Erfolg einbringt. So endet die Geschichte unerwartet optimistisch.
Erzählerisch tragen soll den Roman eine schlichte Schafft-er's-schafft-er's-nicht-Dynamik. Über 300 oder 400 Seiten hinweg mag das hinreichen, auf mehr als 800 verliert sie aber irgendwann an Wirkung. In seiner Sprache folgt das Buch einem beinharten Realismus, den Dirk van Gunsteren in ein überzeugendes Deutsch gebracht hat, gepaart mit einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die man gerade in ihren (regional-)historischen Herleitungen, bis hin zur sogenannten Whiskey-Rebellion von 1774, mit Interesse liest. Alles in allem folgt Kingsolvers Buch gängigen Verfahren der internationalen Gegenwartsliteratur, wie sie beispielsweise in den viel gelesenen Romanen des schottisch-amerikanischen Schriftstellers Douglas Stuart, besonders in seinem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Debüt "Shuggie Bain" (F.A.Z. vom 24. November 2021), umgesetzt sind.
Der Gefahr, einen Wohlfühlroman für die Mittelklasse geschrieben zu haben, die sich durch einen mitleidig-schaudernden Blick in den sozialen Abgrund der eigenen, zwar angefochtenen, aber immer noch erheblichen Privilegien vergewissert - dieser Gefahr ist die erfahrene Autorin Barbara Kingsolver allerdings entgangen. So weist sie ihre Erzählung gleich zweifach als Erzählung aus und stellt ihren Realismus dadurch unter Vorbehalt: zum einen, indem sie ihren Roman als eine Charles-Dickens-Adaption ausgibt und ihren Protagonisten an einer Stelle sogar ausdrücklich von "David Copperfield" sprechen lässt; und zum anderen, indem sie die Geschichte auf einen therapeutischen Erzählakt zurückführt, auf eine literarische Hausaufgabe, die Demon von einer Psychologin in seiner Entzugseinrichtung gestellt worden ist. Ob Kingsolver Grass' "Blechtrommel" zur Kenntnis genommen hat? Realität und Fiktion, intertextuelle Beziehungen und überformende Erinnerung bilden in diesem Roman ein unauflösliches Ganzes.
Der "große Roman von Appalachia", den Kingsolver mit ihrem Buch vorlegen wollte, wie sie in einem Interview erklärte - er ist ein Roman im starken Wortsinne. Die Möglichkeit, ihn allzu rasch mit der Wirklichkeit kurzzuschließen, bietet er nicht, trotz der rauen, der Realität abgehörten Sprache des Ich-Erzählers. Dass ihr Buch in stilistischer, formaler und narrativer Hinsicht so reizlos ist, verwundert dabei nur auf den ersten Blick. Auch das ist wohl Teil des allgegenwärtigen "Midcults" (F.A.Z. vom 25. November 2022): die Leser im Gefühl zu wähnen, an der literarischen Hochkultur teilzuhaben (Dickens! Zitat! Selbstreflexivität!), ohne daraus irgendwelche, gar herausfordernde Konsequenzen abzuleiten. So demokratisch dieser Ansatz sein mag, so uncouragiert ist er zugleich. Dass es solche Romane geben darf und soll, sei gar nicht bestritten. Aber muss man sie gleich mit den allerhöchsten Ehrungen versehen? KAI SINA
Barbara Kingsolver: "Demon Copperhead". Roman.
Aus dem Englischen
von Dirk van Gunsteren. dtv, München 2024.
832 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Mit "Demon Copperhead" stellt sich Barbara Kingsolver in die Tradition von Dickens und Grass. Aber ist dieses Werk wirklich der große Roman über die Appalachen, den sie zu schreiben vorhatte?
Der Roman ist, soweit die Kategorie überhaupt noch irgendeine Aussagekraft hat, eine Sache des Bürgertums. Für die Lektüre, um vom Schreiben noch gar nicht zu sprechen, braucht es Zeit und Geld, die Möglichkeit des Rückzugs, innere und äußere Ruhe, ja, überhaupt eine Wertschätzung fürs Erzählen und die Sprache. Und das umso mehr, als der Griff zum Smartphone, unserem aufmerksamkeitsheischenden Dauerbegleiter, einen viel unmittelbareren Kick verspricht. Ohne eine gewisse Disziplin kann die Lektüre eines längeren Prosawerks, wenn es denn überhaupt zu ihr kommt, zu einer unangenehm zähen Angelegenheit werden.
Die Tatsache, dass sich die Gegenwartsliteratur in den vergangenen Jahren mit besonderer Intensität der westlichen Abstiegsgesellschaft zugewendet hat, wirft vor diesem Hintergrund Fragen auf. Sie betreffen nicht die Herkunft der Autoren, also inwiefern sie mit ihrer eigenen Vergangenheit "beglaubigen" können, was sie in ihren Büchern schildern. Dieser Logik sollte man sich, wenn man sich nicht über sie lustig machen will wie jüngst die großartige Filmposse "American Fiction", am besten ohnehin verweigern. Fraglich ist vielmehr das poetische Verfahren, der bemerkenswert ungebrochene Realismus dieser Bücher, die oft ganz oben auf den Listen der Literaturpreisjurys stehen: Seht, wie diese armen Leute hausen und leben, den Schmutz, die Ausweglosigkeit! Die soziale Distanz wird dadurch nicht verringert, im Gegenteil, man badet entweder in wohligem Mitgefühl oder in der behaglichen Gewissheit, den "Marginalisierten" endlich "eine Stimme" zu geben. Beides ist unangenehm.
Barbara Kingsolver zählt in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten zu den prominentesten Autorinnen, während sie im deutschsprachigen Raum noch relativ unbekannt ist. Sie erzählt in ihrem Roman "Demon Copperhead", für den sie den Pulitzerpreis erhielt, von einer Jugend in den Neunziger- und frühen Zweitausenderjahren im südwestlichen Virginia. Hier, in den Appalachen, gab es früher einmal Bergbau, der für einen gewissen Wohlstand sorgte, bevor mit seiner Stilllegung der soziale Niedergang einsetzte. Soziales Elend, dysfunktionale Familien, Kriminalität und Drogen prägen seither das Leben. In der Presse, aus der im Roman zitiert wird, ist vom einem "Schandfleck" die Rede, einem "Schmutzstreifen", dessen Bewohner als "Hinterwäldler", als "Rednecks" bezeichnet werden.
In dieser Gegend wird Demon, Kingsolvers Held, in ein Dasein hineingeboren, dessen Stationen von Anfang an vorgezeichnet sind: eine Kindheit in Gewalt und Armut, der frühe Tod der "Junkie-Mom", wechselnde Sorgeberechtigte und Pflegefamilien, die den Jungen auf je eigene Weise ausbeuten, ja sogar körperlich an den Existenzrand bringen. Auf eine längere Phase relativer Stabilität, in der der Junge zum Star des Footballteams an seiner Highschool wird, folgt schließlich, nach einer heftigen Sportverletzung, der Totalabsturz. Demon beginnt, Tabletten zu schlucken, insbesondere das mit krimineller Energie vermarktete Schmerzmittel Oxycontin, und wird dadurch zu einem frühen Opfer der amerikanischen Opioid-Krise, deren reale katastrophale Folgen bis in unsere Gegenwart reichen, mit 100.000 Toten allein in den Jahren 2021/22.
Nur ganz langsam fängt sich Demon wieder, nach dem traurigen Krepieren der Freundin an einer Überdosis Morphin, der Verstrickung in beschaffungskriminelle Machenschaften und der zeitweisen Verlagerung des Wohnsitzes in einen heruntergekommenen Chevrolet Impala. Dabei hilft ihm nicht nur eine Reha-Maßnahme, sondern mehr noch sein Talent als Comiczeichner, dem er zunächst als Amateur im Netz nachgeht, bevor es ihm einen Buchvertrag und am Ende auch einigen Erfolg einbringt. So endet die Geschichte unerwartet optimistisch.
Erzählerisch tragen soll den Roman eine schlichte Schafft-er's-schafft-er's-nicht-Dynamik. Über 300 oder 400 Seiten hinweg mag das hinreichen, auf mehr als 800 verliert sie aber irgendwann an Wirkung. In seiner Sprache folgt das Buch einem beinharten Realismus, den Dirk van Gunsteren in ein überzeugendes Deutsch gebracht hat, gepaart mit einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die man gerade in ihren (regional-)historischen Herleitungen, bis hin zur sogenannten Whiskey-Rebellion von 1774, mit Interesse liest. Alles in allem folgt Kingsolvers Buch gängigen Verfahren der internationalen Gegenwartsliteratur, wie sie beispielsweise in den viel gelesenen Romanen des schottisch-amerikanischen Schriftstellers Douglas Stuart, besonders in seinem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Debüt "Shuggie Bain" (F.A.Z. vom 24. November 2021), umgesetzt sind.
Der Gefahr, einen Wohlfühlroman für die Mittelklasse geschrieben zu haben, die sich durch einen mitleidig-schaudernden Blick in den sozialen Abgrund der eigenen, zwar angefochtenen, aber immer noch erheblichen Privilegien vergewissert - dieser Gefahr ist die erfahrene Autorin Barbara Kingsolver allerdings entgangen. So weist sie ihre Erzählung gleich zweifach als Erzählung aus und stellt ihren Realismus dadurch unter Vorbehalt: zum einen, indem sie ihren Roman als eine Charles-Dickens-Adaption ausgibt und ihren Protagonisten an einer Stelle sogar ausdrücklich von "David Copperfield" sprechen lässt; und zum anderen, indem sie die Geschichte auf einen therapeutischen Erzählakt zurückführt, auf eine literarische Hausaufgabe, die Demon von einer Psychologin in seiner Entzugseinrichtung gestellt worden ist. Ob Kingsolver Grass' "Blechtrommel" zur Kenntnis genommen hat? Realität und Fiktion, intertextuelle Beziehungen und überformende Erinnerung bilden in diesem Roman ein unauflösliches Ganzes.
Der "große Roman von Appalachia", den Kingsolver mit ihrem Buch vorlegen wollte, wie sie in einem Interview erklärte - er ist ein Roman im starken Wortsinne. Die Möglichkeit, ihn allzu rasch mit der Wirklichkeit kurzzuschließen, bietet er nicht, trotz der rauen, der Realität abgehörten Sprache des Ich-Erzählers. Dass ihr Buch in stilistischer, formaler und narrativer Hinsicht so reizlos ist, verwundert dabei nur auf den ersten Blick. Auch das ist wohl Teil des allgegenwärtigen "Midcults" (F.A.Z. vom 25. November 2022): die Leser im Gefühl zu wähnen, an der literarischen Hochkultur teilzuhaben (Dickens! Zitat! Selbstreflexivität!), ohne daraus irgendwelche, gar herausfordernde Konsequenzen abzuleiten. So demokratisch dieser Ansatz sein mag, so uncouragiert ist er zugleich. Dass es solche Romane geben darf und soll, sei gar nicht bestritten. Aber muss man sie gleich mit den allerhöchsten Ehrungen versehen? KAI SINA
Barbara Kingsolver: "Demon Copperhead". Roman.
Aus dem Englischen
von Dirk van Gunsteren. dtv, München 2024.
832 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2024Keiner wartet auf dich
Barbara Kingsolver hat mit „Demon Copperhead“ das große Epos
über Armut und Verlorenheit in den USA heute geschaffen.
VON HARALD HORDYCH
Eines vorweg: Wer befürchtet, er müsste den Klassiker „David Copperfield“ gelesen haben, um dessen Fortschreibung im 21. Jahrhundert als „Demon Copperhead“ zu verstehen und tatsächlich genießen zu können, der kann beruhigt die erste und auch alle folgenden Seiten aufschlagen. Denn zu dieser den Herzschlag hochtreibenden Reise durch ein Inferno der bedrückenden Armut, Einsamkeit und Verlorenheit eines seinem Schicksal ausgelieferten Kindes als Kehrseite des amerikanischen Traums wird niemand durch die Hintertür literarischer Kennerschaft geleitet. Das darf auch als ein erstes Indiz gewertet werden, warum dieser 800 Seiten lange, sozialkritische, unterhaltsame, im allerbesten Sinne des Wortes grandiose Schmöker, der neue Roman von Barbara Kingsolver mit dem Pulitzer-Preis und dem Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet wurde.
„Demon Copperhead“ ist zwar von Figuren bevölkert, die Figuren mit ähnlichen Namen aus Charles Dickens’ Roman spiegeln. Aber es reicht, so viel zu wissen: In „David Copperfield“ aus dem Jahr 1849 erzählte Charles Dickens seine entbehrungsreich-abenteuerliche Kindheit in London und seinen Aufstieg zum erfolgreichen Schriftsteller. Die wichtigste Verbindung zwischen beiden Werken besteht in einer gravierenden Botschaft, die wie eine Schicksalswolke über dem Geschehen lastet: Strukturelle Armut gibt es im London Mitte des 19. Jahrhunderts genauso wie im Virginia des 21. Jahrhunderts. Diese Erkenntnis nimmt dem großen menschlichen Roman von Barbara Kingsolver bei aller programmatischen Wucht aber nichts von der erzählerischen Leichtigkeit.
Wie bei „David Copperfield“ geht es hier um ein Waisenkind. Damon Fields bekommt wegen seiner roten Haare rasch den Spitznamen Demon Copperhead – Dämon Kupferkopf – angehängt, was exemplarisch dafür steht, wie die Umwelt dem Kind begegnen wird, das in einer Bergarbeitergegend im ländlichen Virginia in einem Trailer zur Welt kommt. Seine drogenabhängige Mutter, „eine kleine Wasserstoffblondine, die ihre Pall Malls rauchte“, heißt es über sie, „mutterseelenallein und so schwanger wie nur was“, kriegt von Damons Geburt nicht viel mit, weil sie ohnmächtig ist, der Vater ist tot. Damon wird lange so gut wie nichts von ihm wissen.
Der erste Satz des Romans lautet: „Erst mal musste ich es schaffen, auf die Welt zu kommen.“ Die frühen Lebensjahre werden in der Rückschau abgehandelt. Wie dem vaterlosen Kind einer Mutter, die selbst fast noch ein Kind ist, der Titel „Dämon“ angehängt wird, und wie gütige Nachbarn sich des Jungen annehmen und ihm eine Vorstellung davon schenken, was das sein könnte, ein behütetes Zuhause. Die Nachbarstochter sitzt allerdings, weil sie ihren Ehemann getötet hat, im Gefängnis, womit klar ist: Unproblematisch ist in Lee County überhaupt nichts.
Klar, die ersten Jahre sind nicht leicht, aber auch nicht wirklich schlecht, die labile Mutter, mittlerweile abstinent, arbeitet in einem Walmart, kämpft sich durch, auch dank Damon, der früh anfängt, sich für sie verantwortlich zu fühlen – bis dann passiert, was der Ich-Erzähler in einer manchmal kaum auszuhaltenden Genauigkeit erzählt: Damon ist zehn, als seine Mutter einen kräftigen Mann „mit Harley-Davidson-Stiefelketten“ heiratet, der sich als gewalttätig und verschlagen herausstellt. Die Situation eskaliert, Damon vernachlässigt die Schule, wird der überforderten Mutter vom Jugendamt weggenommen, sie stirbt an einer Medikamentenüberdosis. Damon ist allein auf der Welt. Und diese Welt lässt nichts aus, um ihm klarzumachen, dass sie nicht auf ihn gewartet hat.
Diese Ouvertüre macht erzählerisch klar, was Barbara Kingsolver meint, wenn sie im Geleitwort zu ihrem Roman zu struktureller Armut zitiert wird: Wer in prekären Verhältnissen geboren wurde, kommt am Ende wieder an, wo er angefangen hat, weil Armut zu einem gesellschaftlichen System geworden ist, das sich oft auch in die nächsten Generationen fortschreibt.
Städte und Landstriche, die von solcher Armut geprägt sind, gibt es viele in den Vereinigten Staaten. Aber in einem Teil des Landes zieht sie sich wie ein Flächenbrand entlang des Tausende Meilen langen Gebirgszugs der Apalachen. Er hat diesem Staatenbund der Perspektivlosigkeit den Namen gegeben: Appalachia spannt sich vom tiefen Süden bis zu den Staaten Neuenglands im Nordosten und vereinigt Gebiete in 13 Bundesstaaten vom nördlichen Mississippi bis zu den südlichen Counties des Staates New York. Kein Platz für ländliche Idyllenmalerei, erst recht nicht seit dem Siegeszug der verheerenden Billigdroge Crystal Meth und des Opioids Fentanyl, die den Abstieg der Menschen in Appalachia weiter vorantreiben. Die Menschen, die dort seit vielen Jahrzehnten in bescheidenen Verhältnissen leben, haben den Namen „Hillbillys“ verpasst bekommen: Hinterwäldler. Was für Europäer fast liebevoll klingt, konnotiert für Amerikaner Rückständigkeit, Beschränktheit, Ungebildetheit, Gewalttätigkeit und jede Form von Drogenabhängigkeit.
In diesen Tagen ist die Gegend durch die Nominierung von J. D. Vance zum Vizepräsidentschaftskandidaten neben Donald Trump vielen Amerikanern wieder bewusst geworden. Mit seinem vor acht Jahren veröffentlichten und bald verfilmten Buch „Hillbilly-Elegy“ versuchte er am Beispiel seiner Jugend in Kentucky zu zeigen, warum Menschen, die sich abgehängt fühlen, Trump wählen. Die Bürde der Endstation Appalachia muss auch Demon Copperhead exemplarisch tragen. Statt der Hoffnung auf Besserung geht es zu, als habe Kingsolver ihrer Figur die schrecklichen Prüfungen des biblischen Hiob als Coming-of-Age-Geschichte auferlegt.
Eine enorme erzählerische Aufgabe hat Barbara Kingsolver auf sich genommen, weil sie den Menschen von Appalachia das setzen wollte, was man in besseren Gegenden ein literarisches Denkmal nennt. Aber wie soll das gehen? Kaputte Typen, verlorene Seelen, hoffnungslose Fälle, rührende Verlierer, nicht zuletzt überforderte staatliche Stellen zu einem Panoptikum der Perspektivlosigkeit zu verschmelzen – und trotzdem etwas aufscheinen zu lassen, das man Trost und Mut nennen könnte. So, dass man ihre Erzählung immer weiter lesen will, ohne in Resignation zu verfallen. Sie erinnert daran, dass sich nicht immer die Umstände ändern müssen, damit es Hoffnung gibt. Vielleicht reicht es, wenn ein Mensch sich aus diesen Umständen befreien kann. Siehe David Copperfield.
Gleich zu Beginn gibt es einen ersten Hinweis auf die Möglichkeit einer wundersamen Rettung Damons aus der unverschuldeten Chancenlosigkeit: Der Neugeborene wird in dem versifften Trailer in der noch intakten Fruchtblase gefunden. Ein Phänomen, das tatsächlich mit verschwindend geringer Wahrscheinlichkeit vorkommt und im Volksmund „Glückshaube“ genannt wird.
Damons Geschichte hat glückliche Wendungen, für die er, mit elf Jahren schließlich vollkommen auf sich allein gestellt, hart kämpfen muss. Damon landet bei Pflegeeltern, die ihn nur des Geldes wegen aufnehmen, als billige Arbeitskraft missbrauchen. Als er unverhofft wieder zur Schule gehen darf, nimmt der Vertrauenslehrer Armstrong sich des bereits hartgesottenen Jungen an, der schon überzeugt ist, dass die Schule ihm nichts mehr geben kann. Dieser Mr. Armstrong erfährt aus der Akte des Jungen beim Jugendamt, was der Ich-Erzähler so ausdrückt: „Seit meiner Geburt hatte ich mit einem Fuß im Scheißhaufen der Pflegeunterbringung gestanden.“ Armstrong interpretiert: „Ich weiß nur eins. Dass du resilient bist.“ Damon, der schon „eine Menge Fünfzig-Dollar-Wörter für das Problem Demon gehört hatte“ kennt das Wort nicht. Und Armstrong erklärt: „Es bedeutet, dass du stark bist. Stärker, als man erwarten würde.“ Dann skizziert der Lehrer zur Erklärung ein Bild: Autounfall. Wagen Totalschaden. Völlig zerstört. Aber der Fahrer hat nichts abgekriegt. Armstrong legt nach: „Der Fahrer bist du.“ Womöglich hat Damon tatsächlich eine Glückshaube auf.
Ohne vor lauter guter Absicht den rauen Realismus vergessen zu lassen, lässt sich in Barbara Kingsolvers Erzählweise das Elend eines noch jungen Lebens studieren und aushalten. Von Sozialkitsch und Sentimentalität, unpräziser Milieuzeichnung und gewolltem Unterschichtensprech ist diese Autorin so weit entfernt wie Manhattan von Lee County. Aus der Perspektive eines sozial benachteiligten, wenig gebildeten, aber aufmerksam beobachtenden jungen Menschen mit beißendem Humor entwickelt sie eine bestimmte Magie.
Meistens überlässt Kingsolver ihren Erzähler seiner Sphäre der pragmatischen, aufs blanke Überleben angelegten Beobachtung der Zustände, etwa in einer Jugendbehörde, die wegsieht, wo sie hinschauen muss, die übersieht, was unübersehbar ist. Eine zu politmoralische Reflexion zum Versagen von staatlichen Einrichtungen liegt nur einmal etwas papiernen im Mund von Demon. Die Passage zeigt eher, wie schwer so etwas zu vermeiden ist und wie grandios Kingsolver das moralische Trommelschlagen sonst zugunsten eines lebendigen Erzählens vermeidet.
Kingsolver lässt – eine von großen amerikanischen Erzählern wie beispielsweise Richard Ford bekannte Tugend – eine Parade lustvoll drastisch geschilderter Typen aufmarschieren. In Damons bildhafter Sprache läuft da einer der Jungen, mit denen er bei einem ausbeuterischen Farmer Crickson arbeitet, „nur auf drei Zylindern“, da hat einer seiner Leidensgenossen ein schiefes Gesicht, weil, wie die Leute sagten, „seine Mutter zu viel getrunken hatte, als sie ihn im Ofen gehabt hatte“. Dieser Crickson selbst ist ein Typ mit „fettigem angeklatschtem Haar, das aussah wie Finger auf einem Basketball“. Damon erzählt in einer Sprache, die zulangt, aber nie ins Vulgäre, Gewollte, Überspannte abfällt. Es ist dem mehrfach ausgezeichneten Übersetzer Dirk van Gunsteren zu verdanken, dass dieser Balanceakt zwischen pointierter Beobachtungsgabe und alltagstauglicher Klugheit, zwischen Gosse und Geniestreich famos gelingt. Man traut es sich kaum zu sagen: Diese amerikanische Unterschichtensaga zu lesen macht einfach großen Spaß.
Unproblematisch
ist in dieser Gegend
überhaupt nichts
Grandios vermeidet
die Autorin das moralische
Trommelschlagen
Barbara Kingsolver, 69, wurde für „Demon Copperhead“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Foto:Evan Kafka
Barbara Kingsolver:
Demon Copperhead.
Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Dtv, München 2023.
864 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Barbara Kingsolver hat mit „Demon Copperhead“ das große Epos
über Armut und Verlorenheit in den USA heute geschaffen.
VON HARALD HORDYCH
Eines vorweg: Wer befürchtet, er müsste den Klassiker „David Copperfield“ gelesen haben, um dessen Fortschreibung im 21. Jahrhundert als „Demon Copperhead“ zu verstehen und tatsächlich genießen zu können, der kann beruhigt die erste und auch alle folgenden Seiten aufschlagen. Denn zu dieser den Herzschlag hochtreibenden Reise durch ein Inferno der bedrückenden Armut, Einsamkeit und Verlorenheit eines seinem Schicksal ausgelieferten Kindes als Kehrseite des amerikanischen Traums wird niemand durch die Hintertür literarischer Kennerschaft geleitet. Das darf auch als ein erstes Indiz gewertet werden, warum dieser 800 Seiten lange, sozialkritische, unterhaltsame, im allerbesten Sinne des Wortes grandiose Schmöker, der neue Roman von Barbara Kingsolver mit dem Pulitzer-Preis und dem Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet wurde.
„Demon Copperhead“ ist zwar von Figuren bevölkert, die Figuren mit ähnlichen Namen aus Charles Dickens’ Roman spiegeln. Aber es reicht, so viel zu wissen: In „David Copperfield“ aus dem Jahr 1849 erzählte Charles Dickens seine entbehrungsreich-abenteuerliche Kindheit in London und seinen Aufstieg zum erfolgreichen Schriftsteller. Die wichtigste Verbindung zwischen beiden Werken besteht in einer gravierenden Botschaft, die wie eine Schicksalswolke über dem Geschehen lastet: Strukturelle Armut gibt es im London Mitte des 19. Jahrhunderts genauso wie im Virginia des 21. Jahrhunderts. Diese Erkenntnis nimmt dem großen menschlichen Roman von Barbara Kingsolver bei aller programmatischen Wucht aber nichts von der erzählerischen Leichtigkeit.
Wie bei „David Copperfield“ geht es hier um ein Waisenkind. Damon Fields bekommt wegen seiner roten Haare rasch den Spitznamen Demon Copperhead – Dämon Kupferkopf – angehängt, was exemplarisch dafür steht, wie die Umwelt dem Kind begegnen wird, das in einer Bergarbeitergegend im ländlichen Virginia in einem Trailer zur Welt kommt. Seine drogenabhängige Mutter, „eine kleine Wasserstoffblondine, die ihre Pall Malls rauchte“, heißt es über sie, „mutterseelenallein und so schwanger wie nur was“, kriegt von Damons Geburt nicht viel mit, weil sie ohnmächtig ist, der Vater ist tot. Damon wird lange so gut wie nichts von ihm wissen.
Der erste Satz des Romans lautet: „Erst mal musste ich es schaffen, auf die Welt zu kommen.“ Die frühen Lebensjahre werden in der Rückschau abgehandelt. Wie dem vaterlosen Kind einer Mutter, die selbst fast noch ein Kind ist, der Titel „Dämon“ angehängt wird, und wie gütige Nachbarn sich des Jungen annehmen und ihm eine Vorstellung davon schenken, was das sein könnte, ein behütetes Zuhause. Die Nachbarstochter sitzt allerdings, weil sie ihren Ehemann getötet hat, im Gefängnis, womit klar ist: Unproblematisch ist in Lee County überhaupt nichts.
Klar, die ersten Jahre sind nicht leicht, aber auch nicht wirklich schlecht, die labile Mutter, mittlerweile abstinent, arbeitet in einem Walmart, kämpft sich durch, auch dank Damon, der früh anfängt, sich für sie verantwortlich zu fühlen – bis dann passiert, was der Ich-Erzähler in einer manchmal kaum auszuhaltenden Genauigkeit erzählt: Damon ist zehn, als seine Mutter einen kräftigen Mann „mit Harley-Davidson-Stiefelketten“ heiratet, der sich als gewalttätig und verschlagen herausstellt. Die Situation eskaliert, Damon vernachlässigt die Schule, wird der überforderten Mutter vom Jugendamt weggenommen, sie stirbt an einer Medikamentenüberdosis. Damon ist allein auf der Welt. Und diese Welt lässt nichts aus, um ihm klarzumachen, dass sie nicht auf ihn gewartet hat.
Diese Ouvertüre macht erzählerisch klar, was Barbara Kingsolver meint, wenn sie im Geleitwort zu ihrem Roman zu struktureller Armut zitiert wird: Wer in prekären Verhältnissen geboren wurde, kommt am Ende wieder an, wo er angefangen hat, weil Armut zu einem gesellschaftlichen System geworden ist, das sich oft auch in die nächsten Generationen fortschreibt.
Städte und Landstriche, die von solcher Armut geprägt sind, gibt es viele in den Vereinigten Staaten. Aber in einem Teil des Landes zieht sie sich wie ein Flächenbrand entlang des Tausende Meilen langen Gebirgszugs der Apalachen. Er hat diesem Staatenbund der Perspektivlosigkeit den Namen gegeben: Appalachia spannt sich vom tiefen Süden bis zu den Staaten Neuenglands im Nordosten und vereinigt Gebiete in 13 Bundesstaaten vom nördlichen Mississippi bis zu den südlichen Counties des Staates New York. Kein Platz für ländliche Idyllenmalerei, erst recht nicht seit dem Siegeszug der verheerenden Billigdroge Crystal Meth und des Opioids Fentanyl, die den Abstieg der Menschen in Appalachia weiter vorantreiben. Die Menschen, die dort seit vielen Jahrzehnten in bescheidenen Verhältnissen leben, haben den Namen „Hillbillys“ verpasst bekommen: Hinterwäldler. Was für Europäer fast liebevoll klingt, konnotiert für Amerikaner Rückständigkeit, Beschränktheit, Ungebildetheit, Gewalttätigkeit und jede Form von Drogenabhängigkeit.
In diesen Tagen ist die Gegend durch die Nominierung von J. D. Vance zum Vizepräsidentschaftskandidaten neben Donald Trump vielen Amerikanern wieder bewusst geworden. Mit seinem vor acht Jahren veröffentlichten und bald verfilmten Buch „Hillbilly-Elegy“ versuchte er am Beispiel seiner Jugend in Kentucky zu zeigen, warum Menschen, die sich abgehängt fühlen, Trump wählen. Die Bürde der Endstation Appalachia muss auch Demon Copperhead exemplarisch tragen. Statt der Hoffnung auf Besserung geht es zu, als habe Kingsolver ihrer Figur die schrecklichen Prüfungen des biblischen Hiob als Coming-of-Age-Geschichte auferlegt.
Eine enorme erzählerische Aufgabe hat Barbara Kingsolver auf sich genommen, weil sie den Menschen von Appalachia das setzen wollte, was man in besseren Gegenden ein literarisches Denkmal nennt. Aber wie soll das gehen? Kaputte Typen, verlorene Seelen, hoffnungslose Fälle, rührende Verlierer, nicht zuletzt überforderte staatliche Stellen zu einem Panoptikum der Perspektivlosigkeit zu verschmelzen – und trotzdem etwas aufscheinen zu lassen, das man Trost und Mut nennen könnte. So, dass man ihre Erzählung immer weiter lesen will, ohne in Resignation zu verfallen. Sie erinnert daran, dass sich nicht immer die Umstände ändern müssen, damit es Hoffnung gibt. Vielleicht reicht es, wenn ein Mensch sich aus diesen Umständen befreien kann. Siehe David Copperfield.
Gleich zu Beginn gibt es einen ersten Hinweis auf die Möglichkeit einer wundersamen Rettung Damons aus der unverschuldeten Chancenlosigkeit: Der Neugeborene wird in dem versifften Trailer in der noch intakten Fruchtblase gefunden. Ein Phänomen, das tatsächlich mit verschwindend geringer Wahrscheinlichkeit vorkommt und im Volksmund „Glückshaube“ genannt wird.
Damons Geschichte hat glückliche Wendungen, für die er, mit elf Jahren schließlich vollkommen auf sich allein gestellt, hart kämpfen muss. Damon landet bei Pflegeeltern, die ihn nur des Geldes wegen aufnehmen, als billige Arbeitskraft missbrauchen. Als er unverhofft wieder zur Schule gehen darf, nimmt der Vertrauenslehrer Armstrong sich des bereits hartgesottenen Jungen an, der schon überzeugt ist, dass die Schule ihm nichts mehr geben kann. Dieser Mr. Armstrong erfährt aus der Akte des Jungen beim Jugendamt, was der Ich-Erzähler so ausdrückt: „Seit meiner Geburt hatte ich mit einem Fuß im Scheißhaufen der Pflegeunterbringung gestanden.“ Armstrong interpretiert: „Ich weiß nur eins. Dass du resilient bist.“ Damon, der schon „eine Menge Fünfzig-Dollar-Wörter für das Problem Demon gehört hatte“ kennt das Wort nicht. Und Armstrong erklärt: „Es bedeutet, dass du stark bist. Stärker, als man erwarten würde.“ Dann skizziert der Lehrer zur Erklärung ein Bild: Autounfall. Wagen Totalschaden. Völlig zerstört. Aber der Fahrer hat nichts abgekriegt. Armstrong legt nach: „Der Fahrer bist du.“ Womöglich hat Damon tatsächlich eine Glückshaube auf.
Ohne vor lauter guter Absicht den rauen Realismus vergessen zu lassen, lässt sich in Barbara Kingsolvers Erzählweise das Elend eines noch jungen Lebens studieren und aushalten. Von Sozialkitsch und Sentimentalität, unpräziser Milieuzeichnung und gewolltem Unterschichtensprech ist diese Autorin so weit entfernt wie Manhattan von Lee County. Aus der Perspektive eines sozial benachteiligten, wenig gebildeten, aber aufmerksam beobachtenden jungen Menschen mit beißendem Humor entwickelt sie eine bestimmte Magie.
Meistens überlässt Kingsolver ihren Erzähler seiner Sphäre der pragmatischen, aufs blanke Überleben angelegten Beobachtung der Zustände, etwa in einer Jugendbehörde, die wegsieht, wo sie hinschauen muss, die übersieht, was unübersehbar ist. Eine zu politmoralische Reflexion zum Versagen von staatlichen Einrichtungen liegt nur einmal etwas papiernen im Mund von Demon. Die Passage zeigt eher, wie schwer so etwas zu vermeiden ist und wie grandios Kingsolver das moralische Trommelschlagen sonst zugunsten eines lebendigen Erzählens vermeidet.
Kingsolver lässt – eine von großen amerikanischen Erzählern wie beispielsweise Richard Ford bekannte Tugend – eine Parade lustvoll drastisch geschilderter Typen aufmarschieren. In Damons bildhafter Sprache läuft da einer der Jungen, mit denen er bei einem ausbeuterischen Farmer Crickson arbeitet, „nur auf drei Zylindern“, da hat einer seiner Leidensgenossen ein schiefes Gesicht, weil, wie die Leute sagten, „seine Mutter zu viel getrunken hatte, als sie ihn im Ofen gehabt hatte“. Dieser Crickson selbst ist ein Typ mit „fettigem angeklatschtem Haar, das aussah wie Finger auf einem Basketball“. Damon erzählt in einer Sprache, die zulangt, aber nie ins Vulgäre, Gewollte, Überspannte abfällt. Es ist dem mehrfach ausgezeichneten Übersetzer Dirk van Gunsteren zu verdanken, dass dieser Balanceakt zwischen pointierter Beobachtungsgabe und alltagstauglicher Klugheit, zwischen Gosse und Geniestreich famos gelingt. Man traut es sich kaum zu sagen: Diese amerikanische Unterschichtensaga zu lesen macht einfach großen Spaß.
Unproblematisch
ist in dieser Gegend
überhaupt nichts
Grandios vermeidet
die Autorin das moralische
Trommelschlagen
Barbara Kingsolver, 69, wurde für „Demon Copperhead“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Foto:Evan Kafka
Barbara Kingsolver:
Demon Copperhead.
Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Dtv, München 2023.
864 Seiten, 26 Euro.
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