"Ich bin dann mal weg" für alle, die eigentlich nicht weg wollen
"Als ich nach Santiago de Compostela aufbrach, habe ich nichts gesucht - und ich habe es gefunden." - Eigentlich wollte der Arzt und Goncourt-Preisträger Jean-Christophe Rufin "nur" wandern auf diesem seit Jahrhunderten bedeutenden Weg und sieht ihn anfangs eher als sportliche Herausforderung. Doch unterwegs auf den 900 Kilometern des Camino del Norte kann sich auch der Skeptiker der Alchemie des "ewigen Weges" nicht entziehen.
"Als ich nach Santiago de Compostela aufbrach, habe ich nichts gesucht - und ich habe es gefunden." - Eigentlich wollte der Arzt und Goncourt-Preisträger Jean-Christophe Rufin "nur" wandern auf diesem seit Jahrhunderten bedeutenden Weg und sieht ihn anfangs eher als sportliche Herausforderung. Doch unterwegs auf den 900 Kilometern des Camino del Norte kann sich auch der Skeptiker der Alchemie des "ewigen Weges" nicht entziehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2016Nichts gesucht und das gefunden
Jean-Christophe Rufin, der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete französische Philosoph, berichtet über zwei Pilgerreisen - von Hendaye nach Oviedo und von Oviedo nach Santiago. Vor der ersten Reise sieht er sich als ein nacktes Ich, eine Tabula rasa. Er ist gespannt, was ihm die Reise darauf schreiben wird - über den Körper, den Geist, die Seele. Damit das geschehen kann, verzichtet er auf alle Besichtigungen. Wichtig sind ihm, wie er seine Notdurft verrichtet, oder neue Schuhe, die über Wohl und Wehe der weiteren Tour entscheiden. Er wolle ja eben keinen Reiseführer schreiben, sondern seine Begegnung mit dem Jakobsweg schildern. Als er bei La Isla den Weg am Meer entlanggeht und sich dem Landesinneren zuwendet, zieht er Bilanz. Da ist die körperliche Verwandlung, die er durchlitten, aber auch genossen hat. Rückblickend erkennt er, wie körperliche Schwäche ihn zu neuen Experimenten gezwungen und aus der Knechtschaft zu einer neuen Freiheit geführt hat. Ähnlich verläuft die geistig-seelische Metamorphose. Auch das Denken und Fühlen vermittelten ihm zunächst kein Glück. Sie führten vielmehr zur Einsicht, dass selbst der Pilger ein in das Dasein Geworfener ist und unfrei seinen Weg gehen muss. Auf dem kantabrischen Wegstück aber, in einer Kirche in Oviedo, begegnet Rufin Jesus Christus, der dem verzweifelten Pilger Kraft und Hoffnung spendet und ihn vom Sinn des Lebens überzeugt. Fortan wechselt der Ton, Rufin öffnet sich der Welt und drängt seine eigene Befindlichkeit an den Rand. In anderen Religionen und Kulturen sucht er nach Möglichkeiten der Menschwerdung. Doch überall sieht er den modernen Menschen am Werk, die "alte Ordnung" zu zerstören und eine neue, "von primitiven Instinkten, rohen Gelüsten und der Herrschaft der Gewalt" besetzte Gesellschaft zu schaffen. Dabei zahlt Rufin selbst diesem Ungeist Tribut und kommt wiederum vom Wege ab. So verhält er sich seiner Frau gegenüber keineswegs wie ein geläuterter Pilger, sondern wird zum unausstehlichen Besserwisser. In Galicien angekommen, erkennt er, dass Santiago nichts mehr von der heiligen Stätte des Mittelalters hat. Alles, was er sieht, stört ihn. Selbst den wunderschönen Obradoiro-Platz nennt er "prunkvoll und von Macht aufgeplustert". Das Ritual, die Statue des heiligen Jakobs zu umarmen, lehnt er als "ganz und gar heidnisch" ab. Nur das Hochamt akzeptiert er, weil es einen Augenblick darstellt, der alle Unterschiede dahinschwinden lässt.
A.W.
"Pilgern für Skeptiker. Meine Reise auf dem Jakobsweg" von Jean-Christophe Rufin. Albrecht Knaus Verlag, München 2015, 254 Seiten. Gebunden, 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean-Christophe Rufin, der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete französische Philosoph, berichtet über zwei Pilgerreisen - von Hendaye nach Oviedo und von Oviedo nach Santiago. Vor der ersten Reise sieht er sich als ein nacktes Ich, eine Tabula rasa. Er ist gespannt, was ihm die Reise darauf schreiben wird - über den Körper, den Geist, die Seele. Damit das geschehen kann, verzichtet er auf alle Besichtigungen. Wichtig sind ihm, wie er seine Notdurft verrichtet, oder neue Schuhe, die über Wohl und Wehe der weiteren Tour entscheiden. Er wolle ja eben keinen Reiseführer schreiben, sondern seine Begegnung mit dem Jakobsweg schildern. Als er bei La Isla den Weg am Meer entlanggeht und sich dem Landesinneren zuwendet, zieht er Bilanz. Da ist die körperliche Verwandlung, die er durchlitten, aber auch genossen hat. Rückblickend erkennt er, wie körperliche Schwäche ihn zu neuen Experimenten gezwungen und aus der Knechtschaft zu einer neuen Freiheit geführt hat. Ähnlich verläuft die geistig-seelische Metamorphose. Auch das Denken und Fühlen vermittelten ihm zunächst kein Glück. Sie führten vielmehr zur Einsicht, dass selbst der Pilger ein in das Dasein Geworfener ist und unfrei seinen Weg gehen muss. Auf dem kantabrischen Wegstück aber, in einer Kirche in Oviedo, begegnet Rufin Jesus Christus, der dem verzweifelten Pilger Kraft und Hoffnung spendet und ihn vom Sinn des Lebens überzeugt. Fortan wechselt der Ton, Rufin öffnet sich der Welt und drängt seine eigene Befindlichkeit an den Rand. In anderen Religionen und Kulturen sucht er nach Möglichkeiten der Menschwerdung. Doch überall sieht er den modernen Menschen am Werk, die "alte Ordnung" zu zerstören und eine neue, "von primitiven Instinkten, rohen Gelüsten und der Herrschaft der Gewalt" besetzte Gesellschaft zu schaffen. Dabei zahlt Rufin selbst diesem Ungeist Tribut und kommt wiederum vom Wege ab. So verhält er sich seiner Frau gegenüber keineswegs wie ein geläuterter Pilger, sondern wird zum unausstehlichen Besserwisser. In Galicien angekommen, erkennt er, dass Santiago nichts mehr von der heiligen Stätte des Mittelalters hat. Alles, was er sieht, stört ihn. Selbst den wunderschönen Obradoiro-Platz nennt er "prunkvoll und von Macht aufgeplustert". Das Ritual, die Statue des heiligen Jakobs zu umarmen, lehnt er als "ganz und gar heidnisch" ab. Nur das Hochamt akzeptiert er, weil es einen Augenblick darstellt, der alle Unterschiede dahinschwinden lässt.
A.W.
"Pilgern für Skeptiker. Meine Reise auf dem Jakobsweg" von Jean-Christophe Rufin. Albrecht Knaus Verlag, München 2015, 254 Seiten. Gebunden, 19,99 Euro.
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"Das Buch ist eine Mischung aus einer guten Portion Selbstironie, Rufins gelegentlichen Zweifeln angesichts der langen Strecke und unterhaltsamen Geschichten von abzockenden Herbergsvätern und einsamen Pilgerinnen." Deutschlandradio Kultur, Susanne von Schenck