Die Piraterie zählte einst neben Krieg, Seuchen und Hungersnöten zu den Geißeln der Menschheit, der Seeräuber galt als "Feind aller". Ab dem 17. Jahrhundert erfuhr der Pirat jedoch eine soziale und politische Aufwertung. In der aufklärerischen Literatur romantisiert, wird er seit den frühen achtziger Jahren entweder als Rebell und Vorkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit oder als hedonistischer Anarchist gefeiert. In jüngster Vergangenheit hat man eine nach ihm benannte politische Partei gegründet und ihn zur Pop-Ikone stilisiert.
Das "zweitälteste Gewerbe der Welt" hat bis in unsere Gegenwart nichts von seiner Brutalität und Skrupellosigkeit eingebüßt. Siegfried Kohlhammer geht der Verzerrung und Verkehrung historischer Fakten auf den Grund und zeigt, welche Rolle Piraten bei imperialistischen Eroberungsfeldzügen und der Sklavenjagd gespielt haben. Vor den Küsten Afrikas und Asiens gefährden auch heute wieder organisierte Banden die Seefahrt, bringen Schiffe und deren Besatzungen in ihre Gewalt, um Lösegelder zu erpressen. Der Freibeuter, so belegt dieses Buch eindrucksvoll, taugt keinesfalls als sozialromantische Kultfigur.
Das "zweitälteste Gewerbe der Welt" hat bis in unsere Gegenwart nichts von seiner Brutalität und Skrupellosigkeit eingebüßt. Siegfried Kohlhammer geht der Verzerrung und Verkehrung historischer Fakten auf den Grund und zeigt, welche Rolle Piraten bei imperialistischen Eroberungsfeldzügen und der Sklavenjagd gespielt haben. Vor den Küsten Afrikas und Asiens gefährden auch heute wieder organisierte Banden die Seefahrt, bringen Schiffe und deren Besatzungen in ihre Gewalt, um Lösegelder zu erpressen. Der Freibeuter, so belegt dieses Buch eindrucksvoll, taugt keinesfalls als sozialromantische Kultfigur.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Milos Vec kuriert seinen Piratenromantizismus mit Siegfried Kohlhammers Buch. Der Autor hält nichts von der Idealisierung der Freibeuter als Vorkämpfer für Gleichheit. Im Gegenteil sieht er den Seeraub als Teil der Gewaltgeschichte des Imperialismus und den Piraten als Handlanger kolonialer Herrschaftsbestrebungen. Wie der Autor seine Thesen gegen eine fehlgeleitete Geschichtsforschung ins Feld führt und gegen Marxisten und Anarchisten, findet Vec mindestens amüsant und mitunter sogar differenziert genug um zu überzeugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2023Der Hölle doch sehr zugeneigt
Frei auf hoher See: Siegfried Kohlhammer wettert gegen ein sozialromantisches Bild der Piraten, zu dem es David Graeber hingegen zog.
Eine madagassische Sage beginnt so: Gott und der Mensch waren unzertrennliche Gefährten. Eines Tages sagte Gott zum Menschen: Warum gehst du nicht eine Zeit lang fort und siehst dich auf der Erde um, damit wir neue Themen für unsere Gespräche finden? - Wir wissen allerdings nicht, wie diese Sage weitergeht. Es könnte aber sein, dass Gott darüber erheitert wäre, wie sehr sich die Menschen auf der Erde für madagassische Piratengeschichten interessieren. Denn solche erzählt das neue, aus dem Nachlass herausgegebene Buch von David Graeber. Während ein anderes Piratenbuch von Siegfried Kohlhammer eine geradezu entgegengesetzte Position einnimmt.
Piraterie ist ein sehr altes Gewerbe. Schon bei Cicero findet sich eine legendäre Verdammung der Piraten als "gemeinsamer Feind aller" (communis hostis omnium). Sie führte zur Bekämpfung und letztendlichen Kriminalisierung des Piratenunwesens auf hoher See durch das Völkerrecht des neunzehnten Jahrhunderts: Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 verbot die Kaperei. Genauso alt sind aber auch die sozialromantischen Erklärungen des Piratenlebens. Hier wurde piratische Freiheit durch Selbstorganisation gefeiert, und zwar als Gegenmodell zum modernen Staat als Zwangsanstalt westlicher Prägung - und das macht auch die Faszination für David Graeber aus.
Anstelle von obrigkeitlichem Zwang herrschte auf den Schiffen unter der Totenkopfflagge mutmaßlich solidarische Liberalität. Anstelle unfreier europäischer Gesellschaften, in denen fürstliche Autorität ständische Modelle von Ungleichheit immer engmaschiger normierte, ging es an Deck und unter Deck drastisch locker zu: Nüchternheit machte Männer verdächtig, (vermeintlich) freie Sexualität wurde praktiziert, die Sklaverei war abgeschafft. Die populären Abbilder dieses Narrativs werden im Kino aufbereitet.
Siegfried Kohlhammers schmales Büchlein, in nüchternes Schwarz gewandet (aber natürlich ohne Totenkopf), ist dagegen eine gepfefferte Polemik. Sein Zorn über die falsche piratische Sozialromantik ist so leidenschaftlich, dass er schon wieder amüsiert. Kohlhammer, freier Publizist und Übersetzer, hat allerlei Geschichtsbilder zusammengetragen, in denen die Piraten für seinen Geschmack moralisch zu gut wegkommen statt vom Seegerichtshof der Geschichte verurteilt zu werden.
Kohlhammer findet die Verdammung des Seeraubs ganz richtig, die Aufwertung der Seeräuber als Vorkämpfer für Freiheit und Gleichheit scheint ihm ganz verkehrt. Er identifiziert drei mutmaßliche Hauptvertreter piratophiler Ideologien - "Marxisten und Arbeiterbewegte, Anarchisten und Dionysiker in der Nachfolge Nietzsches". Während das Buch am Anfang eine Breitseite nach der anderen auf Pappkameraden abfeuert, gewinnt es mit zunehmendem Verlauf doch an Differenziertheit. Ein Gutteil des Ärgers adressiert falsche Geschichtsbilder von Nichthistorikern; ein anderer politisiert in überschießender Weise Piratenfolklore, die so viel intellektuelle Aufwertung gar nicht verdient.
Interessanter ist die Einbettung der Piraten in eine vormoderne Gewaltgeschichte und insbesondere in Kolonialismus und Imperialismus. Denn illegale Piraterie und legale Staatsgewalt waren keineswegs immer ein Gegensatzpaar. Vormoderne Obrigkeiten statteten Kapitäne mit Kaperbriefen aus. Die Freibeuter der Meere waren insofern teils autonome, auf Gewinn erpichte Unternehmer. Teils waren sie aber auch ein Instrument staatlich gedeckter, gewaltsamer Selbsthilfe auf hoher See, analog den mittlerweile verpönten völkerrechtlichen Repressalien, und sie unterstützten imperiale und koloniale Herrschaftsansprüche. In der Nacherzählung dieser Ambivalenz stützt sich Kohlhammer auf Geschichtsforschung, die er um des Streites willen ins Unrecht zu setzen versucht.
Ein Beispiel für die von Kohlhammer kritisierte fortexistierende Romantisierung der Piraterie bietet das Buch David Graebers. Der Verlag hat es in der deutschen Übersetzung mit dem denkbar knalligsten Titel ausstaffiert, und so prangt "Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit" in Großbuchstaben auf dem leuchtend roten Cover. Welch ein Etikettenschwindel!
Denn eigentlich, so schreibt es auch Graeber selbst, sollte dieser Text Teil eines Buches über (betrügerische) Könige werden. Graeber ist Anthropologe, hatte um 1989/1991 auf Madagaskar geforscht, und wenn er nicht durch andere Titel zu Weltruhm gekommen wäre, hätte sich wohl kaum ein Verleger erbarmt, dieses Manuskript überhaupt zu drucken. Aber durch Graebers alternative Leseweisen der Menschheitsgeschichte und seinen politischen Aktivismus hat er ein Paradigma erschaffen und Publikum angelockt, für das der Verlag seine anarchistischen Ideen in neuen historischen Erzählungen vermarktet.
Im Kern möchte Graeber über ein utopisches Experiment von Piraten berichten, welches mutmaßlich auf Madagaskar stattgefunden hat. Dort sei um 1700 ein Piratenkönigreich gegründet worden. Seine politischen Merkmale passen ziemlich genau auf jenes Muster, das Kohlhammer immer wieder aufspießt: Die Piratengesellschaft sei ein Experiment "radikaler Demokratie" und alternativer Eigentumsverhältnisse gewesen, ähnlich wie auf den Piratenschiffen, nur dass sie auf das madagassische Festland übertragen wurde. Graeber bezeichnet es als "proto-aufklärerisches politisches Experiment".
Dem Buch fehlt allerdings eine hinreichend dichte Beweisführung, um es historisch überzeugend zu finden, und erzählerisch ist es oft eine Zumutung. Die Quellenlage ist - wie Graeber selbst zugibt - "mager". Der Autor stützt sich auf ein überliefertes Manuskript und gibt sich durch weitere Indizien ausreichend überzeugt, dass es sich so zugetragen haben könnte, wie er glaubt. Dass das politische Experiment allerdings mit so vielen Charakteristika geschmückt wird, die dem Autor politisch sympathisch erscheinen, macht seine Interpretation zeitgeistig verdächtig: Die Nordostküste von Madagaskar wird für "Vielfalt" und "Kosmopolitismus" gepriesen; Sprache und Ideologie der Piraten seien von der systematischen Ablehnung der Religion durchdrungen gewesen: "Die Hölle lockte unverdrossen"; politisch sei das Gebilde geprägt gewesen von der charismatischen Persönlichkeit eines brillanten Piratenkindes, das diese egalitäre, "dezentralisierte Basisdemokratie" nach außen hin als Königreich präsentierte. Auch die prominente Rolle von Frauen im politischen Prozess klingt zu feministisch-progressiv, um wahr zu sein. Angesichts der Selbsteinsicht des Autors sind seine spekulativen Schlüsse über "den Westen" und die europäische Aufklärung erstaunlich weitreichend.
Nicht nur die historische Stichhaltigkeit ist ein Problem des Buchs. Erzählerisch fehlt dem Text jene Frische, den die Erfolgstitel Graebers besitzen. Die Kombination aus langen Quellenpassagen und kleinteiligen Sachverhaltsschilderungen lässt den Leser in einer Stimmung vor sich hindümpeln, die jener der Einsamkeit auf hoher See bei Flaute nahekommen dürfte: Wir gähnten vor Madagaskar und hatten die Langeweile an Bord. Aber Graebers Erzählung bedient Menschen, die sich überreglementiert oder bevormundet fühlen und historische Gegenentwürfe der Rebellion suchen. In ihren guten Passagen ist sie eine historische, spekulative Spezialstudie, deren eigentlicher Adressat ein kritisches Fachpublikum der Anthropologie sein sollte. Aber nicht nur in madagassischen Volkssagen herrscht manchmal überschießende Sehnsucht nach neuem Gesprächsstoff. MILOS VEC
David Graeber: "Piraten". Auf der Suche nach der wahren Freiheit.
Aus dem Englischen von Werner Roller. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023. 256 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Siegfried Kohlhammer: "Piraten". Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär.
zu Klampen Verlag, Springe 2022. 168 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frei auf hoher See: Siegfried Kohlhammer wettert gegen ein sozialromantisches Bild der Piraten, zu dem es David Graeber hingegen zog.
Eine madagassische Sage beginnt so: Gott und der Mensch waren unzertrennliche Gefährten. Eines Tages sagte Gott zum Menschen: Warum gehst du nicht eine Zeit lang fort und siehst dich auf der Erde um, damit wir neue Themen für unsere Gespräche finden? - Wir wissen allerdings nicht, wie diese Sage weitergeht. Es könnte aber sein, dass Gott darüber erheitert wäre, wie sehr sich die Menschen auf der Erde für madagassische Piratengeschichten interessieren. Denn solche erzählt das neue, aus dem Nachlass herausgegebene Buch von David Graeber. Während ein anderes Piratenbuch von Siegfried Kohlhammer eine geradezu entgegengesetzte Position einnimmt.
Piraterie ist ein sehr altes Gewerbe. Schon bei Cicero findet sich eine legendäre Verdammung der Piraten als "gemeinsamer Feind aller" (communis hostis omnium). Sie führte zur Bekämpfung und letztendlichen Kriminalisierung des Piratenunwesens auf hoher See durch das Völkerrecht des neunzehnten Jahrhunderts: Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 verbot die Kaperei. Genauso alt sind aber auch die sozialromantischen Erklärungen des Piratenlebens. Hier wurde piratische Freiheit durch Selbstorganisation gefeiert, und zwar als Gegenmodell zum modernen Staat als Zwangsanstalt westlicher Prägung - und das macht auch die Faszination für David Graeber aus.
Anstelle von obrigkeitlichem Zwang herrschte auf den Schiffen unter der Totenkopfflagge mutmaßlich solidarische Liberalität. Anstelle unfreier europäischer Gesellschaften, in denen fürstliche Autorität ständische Modelle von Ungleichheit immer engmaschiger normierte, ging es an Deck und unter Deck drastisch locker zu: Nüchternheit machte Männer verdächtig, (vermeintlich) freie Sexualität wurde praktiziert, die Sklaverei war abgeschafft. Die populären Abbilder dieses Narrativs werden im Kino aufbereitet.
Siegfried Kohlhammers schmales Büchlein, in nüchternes Schwarz gewandet (aber natürlich ohne Totenkopf), ist dagegen eine gepfefferte Polemik. Sein Zorn über die falsche piratische Sozialromantik ist so leidenschaftlich, dass er schon wieder amüsiert. Kohlhammer, freier Publizist und Übersetzer, hat allerlei Geschichtsbilder zusammengetragen, in denen die Piraten für seinen Geschmack moralisch zu gut wegkommen statt vom Seegerichtshof der Geschichte verurteilt zu werden.
Kohlhammer findet die Verdammung des Seeraubs ganz richtig, die Aufwertung der Seeräuber als Vorkämpfer für Freiheit und Gleichheit scheint ihm ganz verkehrt. Er identifiziert drei mutmaßliche Hauptvertreter piratophiler Ideologien - "Marxisten und Arbeiterbewegte, Anarchisten und Dionysiker in der Nachfolge Nietzsches". Während das Buch am Anfang eine Breitseite nach der anderen auf Pappkameraden abfeuert, gewinnt es mit zunehmendem Verlauf doch an Differenziertheit. Ein Gutteil des Ärgers adressiert falsche Geschichtsbilder von Nichthistorikern; ein anderer politisiert in überschießender Weise Piratenfolklore, die so viel intellektuelle Aufwertung gar nicht verdient.
Interessanter ist die Einbettung der Piraten in eine vormoderne Gewaltgeschichte und insbesondere in Kolonialismus und Imperialismus. Denn illegale Piraterie und legale Staatsgewalt waren keineswegs immer ein Gegensatzpaar. Vormoderne Obrigkeiten statteten Kapitäne mit Kaperbriefen aus. Die Freibeuter der Meere waren insofern teils autonome, auf Gewinn erpichte Unternehmer. Teils waren sie aber auch ein Instrument staatlich gedeckter, gewaltsamer Selbsthilfe auf hoher See, analog den mittlerweile verpönten völkerrechtlichen Repressalien, und sie unterstützten imperiale und koloniale Herrschaftsansprüche. In der Nacherzählung dieser Ambivalenz stützt sich Kohlhammer auf Geschichtsforschung, die er um des Streites willen ins Unrecht zu setzen versucht.
Ein Beispiel für die von Kohlhammer kritisierte fortexistierende Romantisierung der Piraterie bietet das Buch David Graebers. Der Verlag hat es in der deutschen Übersetzung mit dem denkbar knalligsten Titel ausstaffiert, und so prangt "Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit" in Großbuchstaben auf dem leuchtend roten Cover. Welch ein Etikettenschwindel!
Denn eigentlich, so schreibt es auch Graeber selbst, sollte dieser Text Teil eines Buches über (betrügerische) Könige werden. Graeber ist Anthropologe, hatte um 1989/1991 auf Madagaskar geforscht, und wenn er nicht durch andere Titel zu Weltruhm gekommen wäre, hätte sich wohl kaum ein Verleger erbarmt, dieses Manuskript überhaupt zu drucken. Aber durch Graebers alternative Leseweisen der Menschheitsgeschichte und seinen politischen Aktivismus hat er ein Paradigma erschaffen und Publikum angelockt, für das der Verlag seine anarchistischen Ideen in neuen historischen Erzählungen vermarktet.
Im Kern möchte Graeber über ein utopisches Experiment von Piraten berichten, welches mutmaßlich auf Madagaskar stattgefunden hat. Dort sei um 1700 ein Piratenkönigreich gegründet worden. Seine politischen Merkmale passen ziemlich genau auf jenes Muster, das Kohlhammer immer wieder aufspießt: Die Piratengesellschaft sei ein Experiment "radikaler Demokratie" und alternativer Eigentumsverhältnisse gewesen, ähnlich wie auf den Piratenschiffen, nur dass sie auf das madagassische Festland übertragen wurde. Graeber bezeichnet es als "proto-aufklärerisches politisches Experiment".
Dem Buch fehlt allerdings eine hinreichend dichte Beweisführung, um es historisch überzeugend zu finden, und erzählerisch ist es oft eine Zumutung. Die Quellenlage ist - wie Graeber selbst zugibt - "mager". Der Autor stützt sich auf ein überliefertes Manuskript und gibt sich durch weitere Indizien ausreichend überzeugt, dass es sich so zugetragen haben könnte, wie er glaubt. Dass das politische Experiment allerdings mit so vielen Charakteristika geschmückt wird, die dem Autor politisch sympathisch erscheinen, macht seine Interpretation zeitgeistig verdächtig: Die Nordostküste von Madagaskar wird für "Vielfalt" und "Kosmopolitismus" gepriesen; Sprache und Ideologie der Piraten seien von der systematischen Ablehnung der Religion durchdrungen gewesen: "Die Hölle lockte unverdrossen"; politisch sei das Gebilde geprägt gewesen von der charismatischen Persönlichkeit eines brillanten Piratenkindes, das diese egalitäre, "dezentralisierte Basisdemokratie" nach außen hin als Königreich präsentierte. Auch die prominente Rolle von Frauen im politischen Prozess klingt zu feministisch-progressiv, um wahr zu sein. Angesichts der Selbsteinsicht des Autors sind seine spekulativen Schlüsse über "den Westen" und die europäische Aufklärung erstaunlich weitreichend.
Nicht nur die historische Stichhaltigkeit ist ein Problem des Buchs. Erzählerisch fehlt dem Text jene Frische, den die Erfolgstitel Graebers besitzen. Die Kombination aus langen Quellenpassagen und kleinteiligen Sachverhaltsschilderungen lässt den Leser in einer Stimmung vor sich hindümpeln, die jener der Einsamkeit auf hoher See bei Flaute nahekommen dürfte: Wir gähnten vor Madagaskar und hatten die Langeweile an Bord. Aber Graebers Erzählung bedient Menschen, die sich überreglementiert oder bevormundet fühlen und historische Gegenentwürfe der Rebellion suchen. In ihren guten Passagen ist sie eine historische, spekulative Spezialstudie, deren eigentlicher Adressat ein kritisches Fachpublikum der Anthropologie sein sollte. Aber nicht nur in madagassischen Volkssagen herrscht manchmal überschießende Sehnsucht nach neuem Gesprächsstoff. MILOS VEC
David Graeber: "Piraten". Auf der Suche nach der wahren Freiheit.
Aus dem Englischen von Werner Roller. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023. 256 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Siegfried Kohlhammer: "Piraten". Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär.
zu Klampen Verlag, Springe 2022. 168 S., geb., 16,- Euro.
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»Gut geschrieben [...], gut informiert, gut argumentiert« Thomas Groß in: Deutschlandfunk Kultur, 17. Februar 2022