Jane ist achtzehn, schwanger und fahrt in einem Vorort von Los Angeles mit dem uralten Ford Festiva ihres Vaters Pizza aus. Nicht dass sie bessere Plane gehabt hatte für ihr Leben ... Nachts betaubt sie sich mit Werbesendungen und Bier in dem Schuppen, wo ihr Vater sich zu Tode getrunken hat. Die Vorfreude ihrer Mutter und ihres Freundes Billy auf das Baby losen bei Jane nichts als Fluchtinstinkte aus, und auch die Fürsorge der beiden macht die Situation nicht besser. Als eines Tages eine Frau Salamipizza mit Gürkchen für ihren Sohn bestellt, gerat Janes Leben komplett aus den Fugen: Hals über Kopf verliebt sie sich in die deutlich altere Jenny, die als Einzige ihre Note zu verstehen scheint. Aus Liebesphantasien entsteht eine regelrechte Besessenheit. Ein neues Schlupfloch, durch das Jane versucht, ihren Traumata und Zukunftsangsten zu entkommen, oder ihr einziger Weg, um zu sich selbst zu finden? Die herrlich schrage, komische und immer wieder überraschende Geschichte einer vorwitzigen jungen Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt - scharfsinnig und bewegend.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Verena Lueken ist klar, dass Jean Kyoung Frazier in ihrem Roman um ein paar verlorene junge Menschen in Los Angeles nicht unbedingt den typischen US-Gesellschaftsroman vorlegt. Dafür sorgt der Migrationshintergrund der Protagonistin, deren Mutter aus Korea stammt, und das dem Text unterlegte Gefühl von Wut, Trauer und Sich-Fügen, das in Korea "Han" genannt wird, wie Lueken berichtet. Besonders an dem Text findet Lueken auch die angesichts der recht desolaten Geschichte um aussichtslose frühe Schwangerschaft und unbekanntes Begehren eher gelassene Erzählhaltung. Wie schulterzuckend, ohne Blick auf die "Punchline" und dennoch lebendig wird hier erzählt, stellt Lueken sichtlich fasziniert fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2022Mittwochs aber mit Gürkchen
Amerikanisches Debüt: Die Schriftstellerin Jean Kyoung Frazier präsentiert in ihrem Roman "Pizza Girl" eine lebensmüde Erzählerin in gewitzter Prosa.
Dies ist ein Roman über eine große Verlorenheit, an der keiner Schuld hat. Das Buch klagt niemanden an, keine Frau, keinen Mann, kein Land, nicht die Geschichte. Die Umstände sind eben so, wie das Leben die Karten verteilt. Geschrieben ist das in leichthändiger Lässigkeit, die den Ernst der Lage nicht verleugnet, aber eher einem Schulterzucken gleicht als einem Aufschrei.
Verloren ist Jane. Sie ist achtzehn, schwanger, fährt in Los Angeles Pizza aus, lebt bei ihrer Mutter, die sie liebt, mit ihrem Freund, Billy, der sich aufs Baby freut. Jane und Billy haben sich bei einem Treffen von Leuten kennengelernt, die um jemanden trauerten: Treffen mit starkem Kaffee und staubigen Keksen, bei denen sie und Billy die Einzigen waren, die nie weinten. Er hatte beide Eltern bei einem Unfall, sie ihren Vater an den Alkohol verloren. Als Billy zum ersten Mal mit Jane zu deren Mutter nach Hause kommt, ist diese begeistert. Ein netter, ein echter Amerikaner! "Wenn sie nur seinen Namen hörte, hätte sie am liebsten gleich die Nationalhymne gesungen." Janes Mutter stammt aus Korea.
Die Fantasie heraus aus dieser netten kleinen Welt, in der Jane innerlich keinen Boden findet, beflügelt eine Frau von Mitte vierzig mit einem langen Pferdeschwanz: "Ihr Name war Jenny Hauser, und jeden Mittwoch legte ich Gürkchen auf ihre Pizza." Das ist der erste Satz des Buchs, und es ist auch der letzte. Die Bewegung, die dieser Roman beschreibt, führt auf kein Ende, keine Summe des Ganzen, keine Versöhnung, keine Hoffnung hin. Oder wenn, dann nur auf eine ziemlich kleine. Darauf, dass die Geschichte der Begegnung zwischen der Ich-Erzählerin Jane und Jenny Hauser ein bisschen weniger traurig klingt, wenn Jane sie am Ende ihrer ungeborenen Tochter erzählt. Darauf, dass Jane aus dieser Begegnung, die in ihr ein bis dahin unbekanntes Begehren aufrief, etwas anderes macht als noch ein weiteres Bier im Schuppen des toten Vaters zu trinken, von dem sie die Augen hat und den Humor und die Warmherzigkeit, so findet die Mutter, und den Hang zur Wut und Trunksucht, das fürchtet Jane. Mit Sicherheit geerbt hat sie die Schweißtropfen, die sich auf ihrer Oberlippe bilden, wenn sie gestresst ist.
Ihre Begegnung mit Jenny Hauser ist zufällig. Ein Telefonanruf in der Pizzeria, bei dem erst einmal nichts bestellt, sondern die Lage geschildert wird: Der achtjährige Sohn sei im Hungerstreik, nur eine Pizza mit Salami und Gürkchen könne ihn möglicherweise zum Essen bewegen. Die seltsame Kombination steht nicht auf der Speisekarte, also läuft Jane zum Supermarkt, kauft ein Glas eingelegte Gurken, legt sie eigenhändig auf die Pizza, und die Geschichte einer Beziehung beginnt, die in vielem missverstanden werden kann, was Jenny tut, und mit ihrem Umzug plötzlich endet, was Jane den Verstand raubt. Denn vom ersten Anruf an wird Jenny ihre Obsession. Und sie wird zum eingebildeten Opfer, dem Jane zur Seite stehen, das sie vermeintlich retten muss - vor dem Ehemann, vor dem Umzug in eine aufs Neue ungeliebte Stadt, vor den Zumutungen des Lebens überhaupt. Bis sie feststellt: Jenny braucht keine Rettung.
"Pizza Girl" ist der erste Roman von Jean Kyoung Frazier. Sie bringt das Kunststück fertig, aus der eher apathischen Haltung ihrer Erzählerin zum Leben im Allgemeinen eine lebendige Prosa zu erschaffen, was vor allem an ihrer Aufmerksamkeit fürs überraschende Detail liegt. Und an ihrem Witz. Als Jane zum ersten Mal die spezielle Pizza zu Jenny bringt, ihr selbst schlecht wird und sie sich in einen herumstehenden Gummistiefel erbricht, reagiert Jenny so: ",Du bist schwanger.' Sie half mir beim Aufstehen, ihr Lächeln war breit und warm, und ich wünschte, sie würde mich aus einem anderen Grund als meiner Schwangerschaft so ansehen. ,Glückwunsch! Schon allein, dass du mir diesen Gefallen getan hast, beweist, dass du eine tolle Mom wirst.' Fast hätte ich noch mehr gekotzt, aber ich schluckte es runter." Und kurz darauf: "Sie lächelte, und ich wollte dieses Lächeln in eine Flasche füllen und es mir morgens über mein Müsli gießen." Das ist die präzise Beschreibung eines Gefühls, das ganz anders ist als jenes, welches Jane für Billy empfindet: "Keine Ahnung, seit wann ich im Voraus wusste, was Billy sagen würde oder warum, aber selbst wenn ich es mir nur vorstellte, ging er mir auf die Nerven." Jean Kyoung Frazier schielt nicht auf die Punchline. Manche Dinge sind einfach in sich komisch, wenn man genau genug hinschaut.
Dass die Sache außerordentlich traurig ist, versteht sich ja von selbst. "Han" nennen die Koreaner dieses letztlich undefinierbare Gefühl von Wut, Trauer, dem erwarteten Unglück und dem Sich- dahinein-Ergeben, von dem dieser Roman geprägt ist. Kein typisch amerikanischer Roman also, obwohl er nirgendwo sonst nicht spielen könnte, sondern ein sehr besonderer mit Wurzeln in einer anderen Welt. VERENA LUEKEN
Jean Kyoung Frazier: "Pizza Girl". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Marion Hertle. Kampa Verlag, Zürich 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amerikanisches Debüt: Die Schriftstellerin Jean Kyoung Frazier präsentiert in ihrem Roman "Pizza Girl" eine lebensmüde Erzählerin in gewitzter Prosa.
Dies ist ein Roman über eine große Verlorenheit, an der keiner Schuld hat. Das Buch klagt niemanden an, keine Frau, keinen Mann, kein Land, nicht die Geschichte. Die Umstände sind eben so, wie das Leben die Karten verteilt. Geschrieben ist das in leichthändiger Lässigkeit, die den Ernst der Lage nicht verleugnet, aber eher einem Schulterzucken gleicht als einem Aufschrei.
Verloren ist Jane. Sie ist achtzehn, schwanger, fährt in Los Angeles Pizza aus, lebt bei ihrer Mutter, die sie liebt, mit ihrem Freund, Billy, der sich aufs Baby freut. Jane und Billy haben sich bei einem Treffen von Leuten kennengelernt, die um jemanden trauerten: Treffen mit starkem Kaffee und staubigen Keksen, bei denen sie und Billy die Einzigen waren, die nie weinten. Er hatte beide Eltern bei einem Unfall, sie ihren Vater an den Alkohol verloren. Als Billy zum ersten Mal mit Jane zu deren Mutter nach Hause kommt, ist diese begeistert. Ein netter, ein echter Amerikaner! "Wenn sie nur seinen Namen hörte, hätte sie am liebsten gleich die Nationalhymne gesungen." Janes Mutter stammt aus Korea.
Die Fantasie heraus aus dieser netten kleinen Welt, in der Jane innerlich keinen Boden findet, beflügelt eine Frau von Mitte vierzig mit einem langen Pferdeschwanz: "Ihr Name war Jenny Hauser, und jeden Mittwoch legte ich Gürkchen auf ihre Pizza." Das ist der erste Satz des Buchs, und es ist auch der letzte. Die Bewegung, die dieser Roman beschreibt, führt auf kein Ende, keine Summe des Ganzen, keine Versöhnung, keine Hoffnung hin. Oder wenn, dann nur auf eine ziemlich kleine. Darauf, dass die Geschichte der Begegnung zwischen der Ich-Erzählerin Jane und Jenny Hauser ein bisschen weniger traurig klingt, wenn Jane sie am Ende ihrer ungeborenen Tochter erzählt. Darauf, dass Jane aus dieser Begegnung, die in ihr ein bis dahin unbekanntes Begehren aufrief, etwas anderes macht als noch ein weiteres Bier im Schuppen des toten Vaters zu trinken, von dem sie die Augen hat und den Humor und die Warmherzigkeit, so findet die Mutter, und den Hang zur Wut und Trunksucht, das fürchtet Jane. Mit Sicherheit geerbt hat sie die Schweißtropfen, die sich auf ihrer Oberlippe bilden, wenn sie gestresst ist.
Ihre Begegnung mit Jenny Hauser ist zufällig. Ein Telefonanruf in der Pizzeria, bei dem erst einmal nichts bestellt, sondern die Lage geschildert wird: Der achtjährige Sohn sei im Hungerstreik, nur eine Pizza mit Salami und Gürkchen könne ihn möglicherweise zum Essen bewegen. Die seltsame Kombination steht nicht auf der Speisekarte, also läuft Jane zum Supermarkt, kauft ein Glas eingelegte Gurken, legt sie eigenhändig auf die Pizza, und die Geschichte einer Beziehung beginnt, die in vielem missverstanden werden kann, was Jenny tut, und mit ihrem Umzug plötzlich endet, was Jane den Verstand raubt. Denn vom ersten Anruf an wird Jenny ihre Obsession. Und sie wird zum eingebildeten Opfer, dem Jane zur Seite stehen, das sie vermeintlich retten muss - vor dem Ehemann, vor dem Umzug in eine aufs Neue ungeliebte Stadt, vor den Zumutungen des Lebens überhaupt. Bis sie feststellt: Jenny braucht keine Rettung.
"Pizza Girl" ist der erste Roman von Jean Kyoung Frazier. Sie bringt das Kunststück fertig, aus der eher apathischen Haltung ihrer Erzählerin zum Leben im Allgemeinen eine lebendige Prosa zu erschaffen, was vor allem an ihrer Aufmerksamkeit fürs überraschende Detail liegt. Und an ihrem Witz. Als Jane zum ersten Mal die spezielle Pizza zu Jenny bringt, ihr selbst schlecht wird und sie sich in einen herumstehenden Gummistiefel erbricht, reagiert Jenny so: ",Du bist schwanger.' Sie half mir beim Aufstehen, ihr Lächeln war breit und warm, und ich wünschte, sie würde mich aus einem anderen Grund als meiner Schwangerschaft so ansehen. ,Glückwunsch! Schon allein, dass du mir diesen Gefallen getan hast, beweist, dass du eine tolle Mom wirst.' Fast hätte ich noch mehr gekotzt, aber ich schluckte es runter." Und kurz darauf: "Sie lächelte, und ich wollte dieses Lächeln in eine Flasche füllen und es mir morgens über mein Müsli gießen." Das ist die präzise Beschreibung eines Gefühls, das ganz anders ist als jenes, welches Jane für Billy empfindet: "Keine Ahnung, seit wann ich im Voraus wusste, was Billy sagen würde oder warum, aber selbst wenn ich es mir nur vorstellte, ging er mir auf die Nerven." Jean Kyoung Frazier schielt nicht auf die Punchline. Manche Dinge sind einfach in sich komisch, wenn man genau genug hinschaut.
Dass die Sache außerordentlich traurig ist, versteht sich ja von selbst. "Han" nennen die Koreaner dieses letztlich undefinierbare Gefühl von Wut, Trauer, dem erwarteten Unglück und dem Sich- dahinein-Ergeben, von dem dieser Roman geprägt ist. Kein typisch amerikanischer Roman also, obwohl er nirgendwo sonst nicht spielen könnte, sondern ein sehr besonderer mit Wurzeln in einer anderen Welt. VERENA LUEKEN
Jean Kyoung Frazier: "Pizza Girl". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Marion Hertle. Kampa Verlag, Zürich 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit dieser Erzahlerin wird sich jede Leserin identifizieren konnen, gerade weil sie trotz aller Schwierigkeiten nicht den Humor verliert.« The Guardian, London»Jean Kyoung Frazier besitzt ein untrügliches Gehör für Sprache, Erfindungsreichtum, unfehlbare Intelligenz und Empathie und vor allem einen seltenen, schillernden Witz. Dieser Roman ist schlicht unwiderstehlich.« Richard Ford»Jean Kyoung Frazier bringt das Kunststück fertig, aus der eher apathischen Haltung ihrer Erzählerin zum Leben im Allgemeinen eine lebendige Prosa zu erschaffen, was vor allem an ihrer Aufmerksamkeit fürs überraschende Detail liegt. Und an ihrem Witz.« Verena Lueken / FAZ»Ein müheloser, unterhaltsamer Erzählton.« dpa»Die US-amerikanische Autorin schlägt einen erfrischenden Ton an, erzählt humorvoll und direkt.« Ruhr Nachrichten