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Sind Zeichen und Medien in der Lage, Wirkungen auszulösen, die sich mit denjenigen von Drogen und Arzneimitteln vergleichen lassen? Die Studie erschließt die Potenzen ,heilender Zeichen' und ,toxischer Texte' sowie die Bedeutungswirkungen von Placebo-Effekten.Im Gegensatz zu breit erforschten Effekten wie Gänsehaut oder Herzrasen wurden genuin pharmakologische körperliche Wirkungen in den Medien- und Kulturwissenschaften bislang allenfalls marginal beschrieben. Die Studie erschließt die umfangreiche Phänomenologie der erheblichen biophysiologischen Beeinflussung des Körpers durch…mehr

Produktbeschreibung
Sind Zeichen und Medien in der Lage, Wirkungen auszulösen, die sich mit denjenigen von Drogen und Arzneimitteln vergleichen lassen? Die Studie erschließt die Potenzen ,heilender Zeichen' und ,toxischer Texte' sowie die Bedeutungswirkungen von Placebo-Effekten.Im Gegensatz zu breit erforschten Effekten wie Gänsehaut oder Herzrasen wurden genuin pharmakologische körperliche Wirkungen in den Medien- und Kulturwissenschaften bislang allenfalls marginal beschrieben. Die Studie erschließt die umfangreiche Phänomenologie der erheblichen biophysiologischen Beeinflussung des Körpers durch semantisch-mediale Inputs, die im günstigen Fall organische Krankheiten heilen, aber auch schädliche Effekte verursachen können, bis hin zu 'Tod durch Zeichen'. Dabei dienen die Bedeutungswirkungen von Placebo-Effekten als Paradigma der kultur- und medienwissenschaftlichen Untersuchung. Sie liefert damit aus einer neuen Perspektive auch eine umfangreiche Validierung der verschiedenen 'Körperdiskurse' bzw. 'Krankheitskulturen' aus den siebziger und achtziger Jahren.
Autorenporträt
Martin Andree unterrichtet Medienwissenschaft an der Universität Köln und ist Verfasser mehrerer Monographien zu verschiedenen Aspekten von Medienwirkungen. Bei Wilhelm Fink sind erschienen: Archäologie der Medienwirkung (2005) und Wenn Texte töten (2011).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2019

Ein Placebo ist die beste Medizin

Wenn sich diese Erkenntnis durchsetzen sollte, stände nicht nur die Schulmedizin vor einem Scherbenhaufen. Sondern auch die alternative Heilkunde. Beide sind in einem fundamentalen Irrtum gefangen.

Von Martin Andree

Es gibt epochale Revolutionen in der Wissenschaft, die auf fatale Weise unbemerkt bleiben, und es könnte sein, dass uns dies auch aktuell gerade widerfährt. Wie tragisch solche Fälle sein können, dokumentiert eine Entdeckung von Antonie van Leeuwenhoek aus den Frühzeiten der Mikroskopie. Schon am 17. September 1683 fertigte er Zeichnungen von Mikroben an. Obwohl damals durchaus bereits Theorien einer Verbreitung von Krankheiten von Mensch zu Mensch vorlagen, dauerte es nicht weniger als zweihundert Jahre, bis man die entscheidenden Schlussfolgerungen zog. Als Joseph Lister 1867 die Hypothese aufstellte, die hohe Sterberate nach Operationen werde durch Infektionen verursacht, war dies noch ein Schenkelklopfer der Zunft. Man wusch sich nicht vor, sondern nach Operationen die Hände. John Hughes Bennett, ein führender Mediziner der Zeit, meinte dazu: "Wo sind diese kleinen Biester? Zeigen Sie sie uns, und wir werden daran glauben. Hat sie bisher schon irgendwer gesehen?"

Man sah es also, aber man verstand es nicht. Dasselbe geschieht, wenn auch auf ganz andere Weise, momentan mit einer grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnis aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, und zwar zum Phänomen des Placebo-Effektes. Die Abgelegenheit des Forschungsgebiets ist sicherlich selbst ein Faktor. Ein zweiter, gewichtigerer Grund ist die negative gesellschaftliche Besetzung des Begriffs "Placebo" als "Täuschung". Nicht zuletzt stellen die Erkenntnisse herrschende, anerkannte und populär unhinterfragte Konzepte von "eingebildeten Kranken" oder "psychosomatischen Beschwerden" in Frage, sie provozieren aber vor allem die noch weitaus mächtigere Eigenwahrnehmung von Schulmedizin, alternativen Heilmethoden, pharmazeutischer Industrie und so fort.

Worum geht es genau?

Placebo-Wirkungen sind allgemein bekannt: Es handelt sich um positive körperliche Effekte, die sich bei Scheinbehandlungen einstellen. Während man diese Effekte in der Medizin früher als kognitive Illusionen missverstand, haben aktuelle, vor allem neurowissenschaftliche Untersuchungen ebenso umfangreich wie präzise die biophysiologische Realität dieser Wirkungen nachgewiesen. Die Vortäuschung einer Behandlung (die sogenannte "Bedeutungswirkung") erzeugt ebenfalls biophysiologische Effekte im Körper, die derjenigen einer echten Behandlung ähneln.

So weit, so gut. Bis hierhin gleicht die Situation derjenigen nach der Sichtbarmachung der Mikroben durch van Leeuwenhoek. Entscheidend sind aber die Implikationen dieser Erkenntnisse - und die werden kaum wahrgenommen oder verbleiben in den Erkenntnistunneln wissenschaftlicher Spezialdisziplinen.

Wie weitgehend die neue Sicht der Dinge aber unsere Wissensordnung herausfordert, weit über die Sphäre der Medizin hinaus, bleibt unerkannt. Die gewichtigen Implikationen lassen sich aber schnell aufzeigen, indem man die einschneidenden Folgen dieses neuen Wissens auf die verschiedenen Positionen der einzelnen Disziplinen loslässt und hinterfragt, was sich dann verändert - und man wird sehen, es verändert sich fast alles.

Man kann das neue Wissen etwa auf den abstrusen Humbug der alternativen Heilmethoden anwenden: Den Unsinn, dass Menschen homöopathische Mittel zu sich nehmen, von denen sie sogar wissen, dass die gar keinen Wirkstoff enthalten. Oder sich dünne Nadeln in Meridianströme stechen lassen. Dass sie von Fabeltherapien verführt werden, wie Osteopathie, Bio-Resonanzverfahren, Bachblütentherapie, Quantenmedizin, Irisdiagnostik, Kinesiologie. Die Placebo-Forschung zeigt auf: Es ist nichts dahinter. Hier wirken nur Texte, Zeichen, Narrative, die Patienten hinters Licht führen und betrügen.

Das wird den Schulmediziner amüsieren. Aber nicht lange. Denn der Alternativmediziner würde erwidern, dass es nun ausgerechnet empirische, naturwissenschaftliche Studien sind, die nachgewiesen haben, dass Alternativmedizin im Körper der Patienten ebenso reale biophysiologische Prozesse auslöst wie die Schulmedizin, und das alles ohne schädliche Nebenwirkungen, ohne schwierige Eingriffe, ohne Chemie. Jetzt wissen wir endlich, dass die vielfach belegten Heilerfolge alternativer Methoden alles andere als eingebildet waren. Wer heilt, hat recht!

Man könnte das Wissen um Placebo-Wirkungen ferner auf ganze Disziplinen wie etwa die Medizingeschichte hetzen und diese in wenigen Minuten pulverisieren. Die hippokratische Selbstgewissheit: Dahin. Die ganze angebliche Geschichte der Medizin: Eine Farce, weil sie allenfalls noch als Geschichte der Placebos bestehen bleibt, wenn man bedenkt, dass das erste spezifisch wirkende Arzneimittel (Chinin) überhaupt erst zweitausend Jahre nach Hippokrates, im 17. Jahrhundert, entdeckt wurde. Das Undenkbare: Der Ursprung der Medizin, ihr Innerstes, ihr Eigentliches, bestand über Jahrtausende hinweg bloß in Placebo-Effekten, in Schamanismus. Die Ärzte unterschieden sich über Jahrtausende von den Quacksalbern allenfalls durch ihre Ignoranz, im Gegensatz zu diesen nicht einmal zu durchblicken, dass die von ihnen verabreichten Mittel im besten Falle wirkungslos, häufig aber schädlich oder sogar tödlich waren.

Auch das vermeintlich überlegene Feixen des Schulmediziners gegenüber dem Abrakadabra schamanischer Alternativmedizin kollabiert also, weil er in seinen eigenen Therapien eben auch durch exakt denselben Schamanismus heilt. Und gerade diese Sphäre der Wörter, der Zeichen, der heilenden Handlungen ist der somatischen Medizin als esoterischer Hokuspokus stets suspekt gewesen. Der Feind ist also nicht nur im eigenen Haus am Werk, es ist auch fast unmöglich, diesen Feind jemals wieder aus dem eigenen Haus zu vertreiben (es sei denn, es gelänge dem Arzt, Patienten zu behandeln, ohne dass sie diese Behandlung bemerkten).

Wenn man die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Placeboforschung ernst nehmen würde, müsste man beispielsweise sofort das Curriculum der medizinischen Ausbildung grundlegend verändern. Wenn durchschnittlich ein Drittel medizinischer Behandlungseffekte auf Placebo-Effekten beruhen, die ausschließlich durch das Theaterstück der therapeutischen Aufführung, seine Requisiten (Stethoskop, weißer Kittel, Ampullen, Kanülen, et cetera) und Rituale hervorgerufen werden, dann müsste man eigentlich zum Wohle des Patienten diese Ärzte zu viel besseren Schauspielern ausbilden.

Der Alternativmediziner wird feixen bei dieser Vorstellung, aus den Schulmedizinern bessere Schamanen zu machen. Nehmen wir aber an, der Schulmediziner hätte sich mittlerweile wissenschaftlich aufgeschlaut, dann würde der den Spieß umdrehen. Er würde dem schamanistischen Heilpraktiker erwidern, dass seine Medizin aus zwei Gründen überlegen ist. Erstens, weil sie die somatische und die semantische Dimension miteinander verbindet. Und zweitens, weil der schulmedizinische Schamanismus eben der unendlich bessere Schamanismus ist. Dass nichts schädlicher für den Patienten ist als eine "ganzheitliche" Behandlung, weil er sich dabei auch als ganzheitlich krank erfahren würde. Dass gerade die therapeutische Eingrenzung der Krankheit, die Behandlung durch besondere Experten und Spezialisten dem Patienten hilft, eine viel stärkere und wirksamere Kontrollillusion auszuprägen, man könne seine Krankheit in den Griff bekommen. Dass die wirkenden Heilrituale der Schulmedizin wenigstens modern und zeitgemäß sind. Und dass das Beste an der angeblich kalten Apparatemedizin eben die phantastischen Placebo-Effekte von sinnfällig surrenden, biependen und vibrierenden wissenschaftlichen Geräten sind.

Lassen wir den Placebo-Effekt nun auch auf den Lieblingsfeind der Ganzheitlichen los, und zwar auf die Pharma-Industrie. Diese könnte zunächst einmal ihre große Chance wittern, die grassierende Praxis der Generika-Zulassung ein und für allemal auszuhebeln. Denn nach Ablauf des Patentschutzes dürfen Wirkstoffe bekanntlich als Nachahmerpräparate angeboten werden, und zwar dann, wenn sogenannte Äquivalenzstudien nachgewiesen haben, dass die Bioverfügbarkeit des Stoffs im Körper mit dem Original vergleichbar ist. Was solche Studien aber gerade nicht messen, ist die biophysiologische Potenz der Bedeutungswirkung eines etablierten Medikaments. So ist nachgewiesen, dass allein das Logo eines bekannten Schmerzmittels seinerseits messbar schmerzlindernd wirkt (sowohl bei echten Mitteln als auch bei wirkstofffreien Placebos). Das Gesetz ignoriert also die realen therapeutischen Effekte solcher Bedeutungswirkungen, die dann bei Generika den Patienten vorenthalten werden. Deshalb wirken Generika auch nachweislich weniger gut als Originalpräparate, was rein somatisch überhaupt nicht erklärbar wäre. Ein signifikanter Teil der positiven Wirkungen geht für die Patienten verloren, weil der Gesetzgeber solche Bedeutungswirkungen nicht anerkennt.

Es ist faszinierend, dass die Situation für viele Hersteller von Konsumgüterprodukten identisch ist. Das folgende, sicherlich extreme Beispiel ist aus einer empirischen wissenschaftlichen Studie abgeleitet: Nehmen wir an, ein Softdrink-Hersteller würde ein völlig neuartiges, sensationelles Produkt anbieten unter dem Markennamen "Super Oxygenated Water", das laut der ausgelobten Leistungsangaben auf dem Etikett zu einer Steigerung der athletischen Ausdauer von durchschnittlich 6,5 Prozent führen würde (in der Flasche ist jedoch bloß normales Wasser enthalten). Auch wenn der Hersteller über detaillierte empirische Studien und biologische Messungen verfügt, die diese Leistungssteigerung lückenlos belegen, wären solche Auslobungen rechtlich nicht zulässig, weil diese Wirknachweise auf einen korrelierenden echten Wirkstoff zurückgeführt werden müssen. Obwohl ein solches Produkt allein aufgrund seiner Bedeutungswirkung die versprochene Leistung tatsächlich erbringt, wird diese dem Verbraucher vorenthalten, weil Placebo-Effekte als Wirkprinzip nicht zulässig sind.

Die erstaunliche Inkonsistenz des geltenden Rechts und allgemein anerkannter Praktiken wird vollends deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass der Gesetzgeber, aber auch die Öffentlichkeit keinen Widerspruch darin erkennen, dass einerseits der Einsatz von Placebos durch Schulmediziner verboten ist, andererseits die Behandlung von Krankheiten auf der Grundlage von Placebo-Effekten aber gestattet, und zwar dann, wenn möglichst bizarre Ideologien damit verbunden sind, etwa bei Akupunktur oder Homöopathie. Verboten sind Placebo-Effekte dann aber wieder in weitaus weniger kritischen Kontexten. Placebo-Effekte, die man wahrscheinlich besser als positive biodynamische Körperwirkungen bezeichnen sollte, lassen sich ja in allen erdenklichen Umfeldern nutzen. Es ist in vielen Studien nachgewiesen worden, dass Alltagsprodukte allein durch ihre Bedeutungswirkungen in der Lage sind, kognitive Parameter wie Aufmerksamkeit, Kreativität und Denkfähigkeit zu steigern, die athletische Leistungsfähigkeit des Körpers etwa in Hinsicht auf Kraft oder Ausdauer zu verbessern und so fort.

Es ist wie mit der Entdeckung von Antonie van Leeuwenhoek: Die Tatsachen liegen vor unseren Augen. Es ist offensichtlich, dass die herrschenden Wissensordnungen und Unterscheidungen momentan von einer neuartigen Sicht auf die Dinge bedroht werden, die aufzeigen kann, dass der Status quo auf Irrtümern und Fehlschlüssen beruht. Wir sehen es, verstehen es aber noch nicht. Es ist auch offensichtlich, dass wir es wahrscheinlich nicht verstehen wollen, denn offenbar kommt bei dieser Neuformatierung keine Partei ungeschoren davon. Ein immer wiederkehrendes Symptom bei der Diskussion dieser Erkenntnisse ist, dass Zuhörer häufig versuchen, durch Fragen herauszubekommen, auf welcher Seite man denn nun steht ("Schulmedizin" versus "alternative Medizin"), was illustriert, wie schwer es ist, neue Erkenntnisse produktiv zu nutzen, wenn sie sich nicht plakativ der Eigenwahrnehmung existierender Ideologien zuschreiben lassen.

Wissenschaftliche Impulse innerhalb der Fachdisziplinen haben jedenfalls kaum zu wirklichen Veränderungen in der Praxis und vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung geführt. Der polnische Mikrobiologe und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck hat diese fatale Selbstimmunisierung etablierter Wissensordnungen bereits 1935 beschrieben: "Das Wissen war zu allen Zeiten für die Ansichten jeweiliger Teilnehmer systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident. Alle fremden Systeme waren für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mystisch." Dabei wäre die Zeit reif für eine revolutionäre Befreiung der Placebos aus ihrem Nischendasein.

Martin Andree ist International Marketing Director bei Henkel und Medienwissenschaftler. Vor kurzem erschien sein Buch "Placebo-Effekte: Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen", Wilhelm Fink Verlag, München 2018

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