Um was für eine Art Buch handelt es sich? Es handelt sich um eine Plage. Um was für eine Art Plage handelt es sich? Es handelt sich um eine Schar von Seufzergruppen, gleich um mehrere auf einmal; miteinander verbündet, zusammengeballt, in der Ebene versprengt. Es sind dies zum einen Texte, die einem Prinzip mutierter Wiederholung folgen, zum anderen schemenhafte Erzählungen, die in raschen Push-Nachrichten Szenerien evozieren und wieder verschwinden lassen, derweil ein Ich / ein Wir / ein Man von sich und anderen berichtet. Form und Vorgehensweise sind mit Edvard Munchs Lebensfries entfernt verwandt, insbesondere was dessen fragmentierte Serialität und die verschwimmenden Figuren und Umgebungen betrifft; dieselben Motive zeigen sich als Transformer an unterschiedlichen Orten. Die Farbigkeit allerdings ist eine andere, auch geht es - zumindest streckenweise - fröhlicher zu und nicht alle Frauen sind Vampire, vielmehr stellen sich etwaige Vorannahmen, von welcher Art Ort aus, aus welchen Gefäßen und aus welchem Körper eine Stimme spricht und trinkt, als Lug und Trug heraus. Anstelle eines Plots gibt es also ein Tau, mithilfe dessen sich der Text an der Decke befestigen und als Mobile betrachten lässt.
- Charlotte Warsen
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2019Gelber Farn mit
Jauchzergruppen
Neue Gedichte von
Charlotte Warsen
Diese Gedichte wirken wie guter Jazz. „Ihr Singsang hing mir lange nach“, heißt es einmal. Und tatsächlich bleiben die locker gefügten „Teilstrecken“ mit all ihren Lautfiguren und ihrem „büschelförmigen Klima“ im Gedächtnis haften. Bisweilen erinnern sie an einen Satz von Bill Evans, er spiele einfach, Tag für Tag, Geschichten interessierten ihn nicht.
Charlotte Warsen, 1984 in Recklinghausen geboren, schreibt sich in ihrem zweiten Band an die Sprachen des gesellschaftlichen Jetzt heran, ohne je in bloßen Aussagen oder gar in Parolen zu enden. „Plage“ – das können hier die Fliegen auf den Gesichtern von Menschen sein, die in Booten sitzen (und vielleicht geflüchtet sind). Es kann aber auch der Strand sein (la plage), gemeinsamer Bezugspunkt für die Boote und jene, die zu Beginn „brotlose Schlepperbanden“ genannt werden.
Eine große Lust auf Sprachverwandlungen steckt in diesen Versen. „Fettessende Geister“ werden flugs zu „Cybergeistern“, wenig später kommt eine „Horde halbverwester Geister“ hinzu. Das ähnelt manchmal, auch mit der Auflösung der geschlossenen Form zu frei gesetzten Zeilen, an Gedichte von Brigitte Oleschinski, wie sie etwa in dem Band „Geisterströmung“ von 2004 versammelt sind. Aber wo dort meist klar umrissene Körper- und Wahrnehmungsemphasen auf die Sprache der durchtechnisierten und ökonomisch bestimmten Gegenwart treffen, ist bei Charlotte Warsen alles ein wenig offener. Sie stellt hochintensive sprachliche Figuren zu Gruppen zusammen, „Seufzergruppen“ und „Jauchzergruppen“. Die Beine können hier „schimmernde Treibalgen“ sein, und die Seele ist „evtl. gelber Farn“.
Diese Sprachbilder verweisen immer noch auf Weltmomente, wollen aber nichts mehr im traditionellen Sinne abbilden. Sie unterlaufen jede eindimensionale Vorstellung von Bedeutung. In Loops und Variationen setzt sie einzelne Sätze und Satzteile in immer neue Sprachumgebungen, wo sie mal eine inszenierte Albernheit entfalten, mal eher Klangideen folgen. Das Verhältnis zur Tradition ist dabei raffiniert ironisch gebrochen. „Ich schien mir / eine makabre Position zwischen den Überlieferten und einer Parodie dieser Idealgestalten / einzunehmen“. So ist es um Astern à la Gottfried Benn „geschehen zurzeit“. Und T. S. Eliots Vers „Sommer (…) kam über den Starnberger See“ aus „The Waste Land“ ist nur noch in einer Schwundform möglich: „ich wähnte mich lallend am Starnberger See“. Bei alledem sind die albernen und lautgetragenen Stellen kein Selbstzweck. Im Innersten der Verse pulst ein Ensemble „ethischer Fragen“. Die Gedichte bilden einen „doppelten Kreislauf“ im Schreiben, der diese Fragen in verschiedenen Variationen durchspielt. Das Schöne an ihnen ist, dass sie keine Antworten geben, sondern spürbar machen, was „Angsteinheiten“ sind. Und was es heißen könnte, wenn keiner mehr glücklich ist – und alle sich weigern, „wirklich zu lieben“.
NICO BLEUTGE
Charlotte Warsen: Plage. Gedichte. Verlag Kookbooks, Berlin 2019. 104 Seiten, 19,90 Euro.
Die Beine können
in diesen Versen
„schimmernde Treibalgen“ sein
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jauchzergruppen
Neue Gedichte von
Charlotte Warsen
Diese Gedichte wirken wie guter Jazz. „Ihr Singsang hing mir lange nach“, heißt es einmal. Und tatsächlich bleiben die locker gefügten „Teilstrecken“ mit all ihren Lautfiguren und ihrem „büschelförmigen Klima“ im Gedächtnis haften. Bisweilen erinnern sie an einen Satz von Bill Evans, er spiele einfach, Tag für Tag, Geschichten interessierten ihn nicht.
Charlotte Warsen, 1984 in Recklinghausen geboren, schreibt sich in ihrem zweiten Band an die Sprachen des gesellschaftlichen Jetzt heran, ohne je in bloßen Aussagen oder gar in Parolen zu enden. „Plage“ – das können hier die Fliegen auf den Gesichtern von Menschen sein, die in Booten sitzen (und vielleicht geflüchtet sind). Es kann aber auch der Strand sein (la plage), gemeinsamer Bezugspunkt für die Boote und jene, die zu Beginn „brotlose Schlepperbanden“ genannt werden.
Eine große Lust auf Sprachverwandlungen steckt in diesen Versen. „Fettessende Geister“ werden flugs zu „Cybergeistern“, wenig später kommt eine „Horde halbverwester Geister“ hinzu. Das ähnelt manchmal, auch mit der Auflösung der geschlossenen Form zu frei gesetzten Zeilen, an Gedichte von Brigitte Oleschinski, wie sie etwa in dem Band „Geisterströmung“ von 2004 versammelt sind. Aber wo dort meist klar umrissene Körper- und Wahrnehmungsemphasen auf die Sprache der durchtechnisierten und ökonomisch bestimmten Gegenwart treffen, ist bei Charlotte Warsen alles ein wenig offener. Sie stellt hochintensive sprachliche Figuren zu Gruppen zusammen, „Seufzergruppen“ und „Jauchzergruppen“. Die Beine können hier „schimmernde Treibalgen“ sein, und die Seele ist „evtl. gelber Farn“.
Diese Sprachbilder verweisen immer noch auf Weltmomente, wollen aber nichts mehr im traditionellen Sinne abbilden. Sie unterlaufen jede eindimensionale Vorstellung von Bedeutung. In Loops und Variationen setzt sie einzelne Sätze und Satzteile in immer neue Sprachumgebungen, wo sie mal eine inszenierte Albernheit entfalten, mal eher Klangideen folgen. Das Verhältnis zur Tradition ist dabei raffiniert ironisch gebrochen. „Ich schien mir / eine makabre Position zwischen den Überlieferten und einer Parodie dieser Idealgestalten / einzunehmen“. So ist es um Astern à la Gottfried Benn „geschehen zurzeit“. Und T. S. Eliots Vers „Sommer (…) kam über den Starnberger See“ aus „The Waste Land“ ist nur noch in einer Schwundform möglich: „ich wähnte mich lallend am Starnberger See“. Bei alledem sind die albernen und lautgetragenen Stellen kein Selbstzweck. Im Innersten der Verse pulst ein Ensemble „ethischer Fragen“. Die Gedichte bilden einen „doppelten Kreislauf“ im Schreiben, der diese Fragen in verschiedenen Variationen durchspielt. Das Schöne an ihnen ist, dass sie keine Antworten geben, sondern spürbar machen, was „Angsteinheiten“ sind. Und was es heißen könnte, wenn keiner mehr glücklich ist – und alle sich weigern, „wirklich zu lieben“.
NICO BLEUTGE
Charlotte Warsen: Plage. Gedichte. Verlag Kookbooks, Berlin 2019. 104 Seiten, 19,90 Euro.
Die Beine können
in diesen Versen
„schimmernde Treibalgen“ sein
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