Die Geschichte des literarischen Plagiats ist eine Geschichte von Entführungsfällen. Die Texte, die hier verhandelt werden, gehören eigentlich an einen anderen Ort, im besten Fall wohl in eine seriöse Literaturgeschichte. Aus verschiedenen Gründen sind sie aber in dieses Buch gelangt, und hier sitzen sie nun beisammen und erzählen einander ihren Leidensweg, führen Anklage gegen ihre Entführer, rätseln über die Motive des ihnen widerfahrenen Verbrechens oder beraten gemeinsam über Fluchtpläne. Gesprochen wird über Wirtschaftszwänge, juristische Präzedenzfälle und mediale Revolutionen; über geborgte Wahrheiten, unbezahlte Rechnungen und ausgemachte Gaunereien; über Herren und Sklaven, Väter und Söhne, Geist und Geister; über das Nachmachen, das Erinnern und das Vergessen; über den Körper, die Seele und das, was das Plagiat davon übrig lässt.Der unoriginelle Literaturhistoriker hat diese Gespräche belauscht, mitstenografiert und ein wenig Ordnung in seine Aufschriebe gebracht. Herausgekommen ist das fesselnde Protokoll einer zweieinhalb Jahrtausende andauernden Auseinandersetzung über die Persönlichkeit von Texten und ihre Verächter - eine Geschichte, die jeder kennen sollte, der Literatur noch zu besitzen glaubt oder bereits von der Literatur besessen wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2010Alles nur geklaut
Noch nicht einmal das Abschreiben hat Helene Hegemann selbst erfunden: Philipp Theisohn hat eine leichtfüßige Literaturgeschichte des Plagiats verfasst.
Da betrachtet es einer als seine Aufgabe, dem Dichter das Handwerk zu legen. Mit dem Furor akribischen Sammlerfleißes durchkämmt er Werk um Werk, Gedichte, Dramen und Prosa, um "Stellen" zu finden. Stellen, die nicht selbst ausgedacht sind, sondern von anderswo stammen. Es geht darum, den Schriftsteller beim Abschreiben zu erwischen. Als literarischer Autodidakt macht sich um 1890 der Hamburger Anatom Paul Albrecht daran, im Selbstverlag eine auf zehn Bände angelegte Monumentalstudie zu publizieren, die kein anderes Ziel hat, als möglichst lückenlos und beweiskräftig "Leszing's Plagiate" nachzuweisen.
Albrechts vielbändiger Lessing-Befund lässt sich kurz zusammenfassen: Es ist alles geklaut. Denn Gotthold Ephraim Lessing, den Albrecht mit der penetrant verfremdeten Schreibung des Familiennamens als slawischstämmig diskreditieren will, habe, so die idée fixe des Unternehmens, in seinem literarischen Schaffen keinen einzigen "eigenhirnigen" Gedanken fabriziert, sondern sich nur von "fremdhirnigen" Erzeugnissen genährt, sei mithin ein der Scharlatanerie zu überführender "Einführer fremder, nicht-deutscher Gedanken".
Der xenophobe Lessing-Hass Albrechts förderte neben bizarren Behauptungen durchaus manch brauchbaren Quellenfund zutage, bevor sich der umnachtete Verfasser aus seiner Hamburger Villa in den Tod stürzte. "Leszing's Plagiate" geriet zur bis heute unübertroffenen Benchmark einer paranoiden Einflussforschung, die Ernst macht mit dem Verdacht, dass, wo Literaten mit geistreichen Einfällen glänzen, in Wahrheit nur Diebstahl und Plünderung früherer Literatur zugange sind.
Je pauschaler solche Verdächtigungen ausfallen, desto kraftloser ihre Wirkung. Plagiatsvorwürfe kennt jeder; man ahnt, ohne Abertausende von Einzelfällen studiert zu haben, dass sich alles oder eben auch nichts mit dem Begriff erklären lässt. Jede urteilende Einlassung auf diesem Problemfeld hätte demnach mit der Sortierung methodischer Optionen zu beginnen, mit der Unterscheidung zwischen einem intertextuell breiten und einem juristisch enggefassten Verständnis von Gedankendiebstahl. Philipp Theisohn aber will in seiner Literaturgeschichte des Plagiats gar nicht urteilen, und zur Überführung oder Kriminalisierung von Plagiatstätern tragen seine Studien nichts bei.
Das Interesse des Verfassers dieser Plagiatsgeschichte liegt quer zur Frage: echt oder geklaut? Es geht vielmehr um die öffentliche Dramatik von Plagiatsfällen respektive "Plagiatserzählungen", in denen nicht allein Eigentums- oder Abhängigkeitsverhältnisse zur Debatte stehen, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen des literarischen Schreibens. Unter der Kampfvokabel des Plagiats, so Theisohn, verbirgt sich eine endlose Reihe von (meist nur pseudojuristischen) Verhandlungen, bei welchen in je spezifischen Situationen und an konkrete Akteure gebunden die Geltungsbereiche, Binnenbeziehungen und Außengrenzen der Literatur geklärt sein wollen. Das literarische Werk ist ein Rohstoff und Gut, welches in wechselnder Gestalt verschiedenen Bearbeitern und Besitzern dienstbar werden kann, und darum höchst ungeeignet, Eigentumswerte zu sichern. Genau dies aber, die unverlierbare und zugleich immaterielle Eigentumsbindung erzeugter, mithin: "poetischer" Gedanken, spielt in den ästhetischen Auffassungen von literarischer Originalität seit der Antike eine gewichtige, aus dem abendländischen Kulturverständnis nicht wegzudenkende Rolle.
Tummelplatz des Epigonentums
Mit den Schlüsselbegriffen "Plagiat" und "Geschichte" setzt Theisohn ein Modell ästhetisch-juristischer Eigentumsverhältnisse und eine Chronologie der Werke, Autoren und Epochen miteinander in Beziehung. Damit eröffnet sich zunächst das naheliegende Programm, die Wandlungen der Definition von und des Umgangs mit literarischen Plagiaten durch verschiedene Zeiten und Literaturströmungen hindurch zu verfolgen. Das allein wäre aufschlussreich genug, denn es gibt bemerkenswerte Wandlungen und Einschnitte zu verzeichnen. Doch lässt Theisohn noch ein zweites Thema mitlaufen, das darin besteht, die Zeitfolge selbst als ein Eigentumsverhältnis in den Blick zu nehmen, bei dem sich geistige Originalität je neu aus Erbschaften, Anleihen und Übernahmen herauslösen oder durch selbige prothesenhaft vertreten lassen muss.
Die je gegenwärtige Literatur kann - Gnade oder Fluch? - aufgrund ihrer posterioren Stellung zur Vergangenheit gar nicht anders, als sich zu Vorbildern und Vorgängern ins Verhältnis zu setzen. Der nachahmende, entlehnende und anverwandelnde Umgang mit den Zeugnissen früherer Epochen macht das Schreiben zum Tummelplatz des Epigonentums, der Plagiatoren bequeme Ausreden bietet. Nicht erst die Vertreter des bürgerlichen Realismus wissen um die erdrückende Last der Altvorderen, wenn sie, wie Immermann, Keller, Stifter und Fontane, ihre Figuren von vornherein mit den Zitaten und Gefühlen des literarischen Bestandes ausstaffieren. Was bleibt dann noch für die in Eigentumsfragen ohnehin "laxen" (Brecht) antibürgerlichen Schriftsteller der Moderne, wenn nicht die Erhebung des "Plagiarismus" zu einem "universalethischen Programm"?
Schon im Kulturtransfer von der griechischen zur römischen Antike war die Ausbeutung geistiger Abhängigkeiten ein wiederkehrendes Handlungsmuster. An Terenz' Komödie der "Brüder" legt Theisohn den Mechanismus frei. In einem kunstvollen Handlungsgeflecht von Verwechslung, Entführung und finaler Vierfachhochzeit demonstriert Terenz die Überlegenheit freizügiger gegenüber bevormundender Erziehung. Wenn der libertäre Onkel mit den heranwachsenden Söhnen des strengen Bruders die glücklichere Hand hat, beweist dies implizit, dass gedeihliche Früchte gerade dort zu erwarten sind, wo keine leibliche Erbfolge vorliegt, somit auch kein organisches Besitzverhältnis.
Terenz hat damit en miniature eine Komödie der gelungenen und sich selbst legitimierenden Entlehnung geschrieben. Oder vielmehr: Er konnte den Stoff einer griechischen Vorlage entnehmen und ihn durch die Entführung nochmals beredter machen. Was aber den Zeitgenossen zu denken gab, war, dass Terenz nicht einmal dieses Plagiat selbständig beging, denn vor ihm hatte der um eine Generation ältere Plautus sich bereits über denselben Stoff hergemacht.
Osmotische Anverwandlung
Stellt in der Spätantike die rhetorische "imitatio" ein ehrenwertes Bildungsprogramm dar, das sich aus jedweden Quellen bedienen darf, so wird in der mittelalterlichen Epik die Anrufung großer antiker Autoren zum Beleg der eigenen Glaubwürdigkeit. Wer, wie Heinrich von Veldeke mit der "Eneide", seinem Erzählstoff eine bis Vergil zurückreichende Ahnenreihe zu geben vermag, gewinnt dadurch Kredit, den er für die erheblichen Abweichungen von der Vorlage nutzen kann. Die Technik des Wiedererzählens entführt den antiken Helden und unterstellt ihn der zeitgenössischen Minnepädagogik. Im Reformprogramm der Aufklärung gewinnt die Verfügung über Ressourcen an Bedeutung - und zwar sowohl an Wissen wie Geldvermögen. Zum Problem wird dabei, dass die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts die Eigentumsrechte desjenigen unterhöhlt, der extensiv rezipiert wird. "Wer mit Wissen sein Geld verdienen muss", folgert Theisohn, "verkauft eine Ware, die sich schnell selbständig macht und dabei gleichzeitig eine Person zurücklässt, für die niemand auch nur einen Pfifferling gibt. Das ist der Gelehrte."
Seit gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts urheberrechtliche Gesetze die Prinzipien literarischer Autorschaft definieren, müssen sich deren Erzeugnisse ausweisen können. Die mit dem Autornamen verbürgte Qualität drückt sich in dem Anspruch und der Beteuerung aus, in selbstgeschaffenen Werken die Eigentümlichkeit der eigenen Person zum Ausdruck gebracht zu haben. Das Eigentümliche der Autor-Persönlichkeit wiederum wird zum Garanten der geistigen Eigentumsansprüche des Autors als juristischer Person. Doch hört die literarische Produktion dadurch nicht auf, sich in Paradoxien zu bewegen, im Gegenteil. Die Kunst besteht offenbar darin, aus der Stafette osmotischer Anverwandlungen eine Einbahnstraße zu machen; will sagen: nach Kräften von den Erzeugnissen anderer zu profitieren, dann aber im Zweifelsfall sogar mit strafbewehrten Mitteln zu verhindern, dass andere aus dem eigenen Werk illegitimen Nutzen ziehen. Allerdings ist literarische Unsterblichkeit nicht anders zu erlangen als durch das freudige Zugreifen der Mitwelt und die bedenkenlose Anverwandlung durch Nachgeborene.
Wer das Plagiat zum Thema einer Abhandlung macht, die noch dazu mit dem Epitheton des "Unoriginellen" kokettiert, wird sich vorab die Frage gestellt haben, ob das Ganze eigentlich "Boomerang-proof" ist oder womöglich auf den Autor zurückfallen könnte. Da behandelt jemand die Allgegenwart geistiger Abhängigkeiten und unfreiwilliger Schreib-Gemeinschaften und will selbst das Geschäft der Literaturgeschichte als Ein-Mann-Unternehmen führen? Das zeugt von Hybris, selbst wenn ein leichtfüßiger, charmanter Plauderton den Leser für den weiten Reiseweg einnimmt. Mit Siebenmeilenstiefeln eilt Theisohn durch die Abteilungen, um sich dann wieder detailreich in Fallgeschichten zu versenken. Dass gleich im dritten Satz des Buches versehentlich ein Vierteljahrtausend zu einem Vierteljahrhundert schrumpft, ist freilich nicht dem Tempo der Darstellung, sondern einem stehengebliebenen Fehler geschuldet.
Theisohns Studie ist trotz des Umfangs kurzweilig und vergnüglich, ihre Schauplätze sind treffsicher ausgewählt und pointenreich kommentiert. Sein Buch eröffnet Einsichten in die althergebrachte Praxis des Ab-, Um- und Weiterschreibens und skizziert die wechselnden sozialen und geschichtlichen Konstellationen, unter welchen solches Tun mal Plagiat heißt und manchmal auch nicht.
ALEXANDER HONOLD
Philipp Theisohn: "Plagiat". Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009. 578 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch nicht einmal das Abschreiben hat Helene Hegemann selbst erfunden: Philipp Theisohn hat eine leichtfüßige Literaturgeschichte des Plagiats verfasst.
Da betrachtet es einer als seine Aufgabe, dem Dichter das Handwerk zu legen. Mit dem Furor akribischen Sammlerfleißes durchkämmt er Werk um Werk, Gedichte, Dramen und Prosa, um "Stellen" zu finden. Stellen, die nicht selbst ausgedacht sind, sondern von anderswo stammen. Es geht darum, den Schriftsteller beim Abschreiben zu erwischen. Als literarischer Autodidakt macht sich um 1890 der Hamburger Anatom Paul Albrecht daran, im Selbstverlag eine auf zehn Bände angelegte Monumentalstudie zu publizieren, die kein anderes Ziel hat, als möglichst lückenlos und beweiskräftig "Leszing's Plagiate" nachzuweisen.
Albrechts vielbändiger Lessing-Befund lässt sich kurz zusammenfassen: Es ist alles geklaut. Denn Gotthold Ephraim Lessing, den Albrecht mit der penetrant verfremdeten Schreibung des Familiennamens als slawischstämmig diskreditieren will, habe, so die idée fixe des Unternehmens, in seinem literarischen Schaffen keinen einzigen "eigenhirnigen" Gedanken fabriziert, sondern sich nur von "fremdhirnigen" Erzeugnissen genährt, sei mithin ein der Scharlatanerie zu überführender "Einführer fremder, nicht-deutscher Gedanken".
Der xenophobe Lessing-Hass Albrechts förderte neben bizarren Behauptungen durchaus manch brauchbaren Quellenfund zutage, bevor sich der umnachtete Verfasser aus seiner Hamburger Villa in den Tod stürzte. "Leszing's Plagiate" geriet zur bis heute unübertroffenen Benchmark einer paranoiden Einflussforschung, die Ernst macht mit dem Verdacht, dass, wo Literaten mit geistreichen Einfällen glänzen, in Wahrheit nur Diebstahl und Plünderung früherer Literatur zugange sind.
Je pauschaler solche Verdächtigungen ausfallen, desto kraftloser ihre Wirkung. Plagiatsvorwürfe kennt jeder; man ahnt, ohne Abertausende von Einzelfällen studiert zu haben, dass sich alles oder eben auch nichts mit dem Begriff erklären lässt. Jede urteilende Einlassung auf diesem Problemfeld hätte demnach mit der Sortierung methodischer Optionen zu beginnen, mit der Unterscheidung zwischen einem intertextuell breiten und einem juristisch enggefassten Verständnis von Gedankendiebstahl. Philipp Theisohn aber will in seiner Literaturgeschichte des Plagiats gar nicht urteilen, und zur Überführung oder Kriminalisierung von Plagiatstätern tragen seine Studien nichts bei.
Das Interesse des Verfassers dieser Plagiatsgeschichte liegt quer zur Frage: echt oder geklaut? Es geht vielmehr um die öffentliche Dramatik von Plagiatsfällen respektive "Plagiatserzählungen", in denen nicht allein Eigentums- oder Abhängigkeitsverhältnisse zur Debatte stehen, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen des literarischen Schreibens. Unter der Kampfvokabel des Plagiats, so Theisohn, verbirgt sich eine endlose Reihe von (meist nur pseudojuristischen) Verhandlungen, bei welchen in je spezifischen Situationen und an konkrete Akteure gebunden die Geltungsbereiche, Binnenbeziehungen und Außengrenzen der Literatur geklärt sein wollen. Das literarische Werk ist ein Rohstoff und Gut, welches in wechselnder Gestalt verschiedenen Bearbeitern und Besitzern dienstbar werden kann, und darum höchst ungeeignet, Eigentumswerte zu sichern. Genau dies aber, die unverlierbare und zugleich immaterielle Eigentumsbindung erzeugter, mithin: "poetischer" Gedanken, spielt in den ästhetischen Auffassungen von literarischer Originalität seit der Antike eine gewichtige, aus dem abendländischen Kulturverständnis nicht wegzudenkende Rolle.
Tummelplatz des Epigonentums
Mit den Schlüsselbegriffen "Plagiat" und "Geschichte" setzt Theisohn ein Modell ästhetisch-juristischer Eigentumsverhältnisse und eine Chronologie der Werke, Autoren und Epochen miteinander in Beziehung. Damit eröffnet sich zunächst das naheliegende Programm, die Wandlungen der Definition von und des Umgangs mit literarischen Plagiaten durch verschiedene Zeiten und Literaturströmungen hindurch zu verfolgen. Das allein wäre aufschlussreich genug, denn es gibt bemerkenswerte Wandlungen und Einschnitte zu verzeichnen. Doch lässt Theisohn noch ein zweites Thema mitlaufen, das darin besteht, die Zeitfolge selbst als ein Eigentumsverhältnis in den Blick zu nehmen, bei dem sich geistige Originalität je neu aus Erbschaften, Anleihen und Übernahmen herauslösen oder durch selbige prothesenhaft vertreten lassen muss.
Die je gegenwärtige Literatur kann - Gnade oder Fluch? - aufgrund ihrer posterioren Stellung zur Vergangenheit gar nicht anders, als sich zu Vorbildern und Vorgängern ins Verhältnis zu setzen. Der nachahmende, entlehnende und anverwandelnde Umgang mit den Zeugnissen früherer Epochen macht das Schreiben zum Tummelplatz des Epigonentums, der Plagiatoren bequeme Ausreden bietet. Nicht erst die Vertreter des bürgerlichen Realismus wissen um die erdrückende Last der Altvorderen, wenn sie, wie Immermann, Keller, Stifter und Fontane, ihre Figuren von vornherein mit den Zitaten und Gefühlen des literarischen Bestandes ausstaffieren. Was bleibt dann noch für die in Eigentumsfragen ohnehin "laxen" (Brecht) antibürgerlichen Schriftsteller der Moderne, wenn nicht die Erhebung des "Plagiarismus" zu einem "universalethischen Programm"?
Schon im Kulturtransfer von der griechischen zur römischen Antike war die Ausbeutung geistiger Abhängigkeiten ein wiederkehrendes Handlungsmuster. An Terenz' Komödie der "Brüder" legt Theisohn den Mechanismus frei. In einem kunstvollen Handlungsgeflecht von Verwechslung, Entführung und finaler Vierfachhochzeit demonstriert Terenz die Überlegenheit freizügiger gegenüber bevormundender Erziehung. Wenn der libertäre Onkel mit den heranwachsenden Söhnen des strengen Bruders die glücklichere Hand hat, beweist dies implizit, dass gedeihliche Früchte gerade dort zu erwarten sind, wo keine leibliche Erbfolge vorliegt, somit auch kein organisches Besitzverhältnis.
Terenz hat damit en miniature eine Komödie der gelungenen und sich selbst legitimierenden Entlehnung geschrieben. Oder vielmehr: Er konnte den Stoff einer griechischen Vorlage entnehmen und ihn durch die Entführung nochmals beredter machen. Was aber den Zeitgenossen zu denken gab, war, dass Terenz nicht einmal dieses Plagiat selbständig beging, denn vor ihm hatte der um eine Generation ältere Plautus sich bereits über denselben Stoff hergemacht.
Osmotische Anverwandlung
Stellt in der Spätantike die rhetorische "imitatio" ein ehrenwertes Bildungsprogramm dar, das sich aus jedweden Quellen bedienen darf, so wird in der mittelalterlichen Epik die Anrufung großer antiker Autoren zum Beleg der eigenen Glaubwürdigkeit. Wer, wie Heinrich von Veldeke mit der "Eneide", seinem Erzählstoff eine bis Vergil zurückreichende Ahnenreihe zu geben vermag, gewinnt dadurch Kredit, den er für die erheblichen Abweichungen von der Vorlage nutzen kann. Die Technik des Wiedererzählens entführt den antiken Helden und unterstellt ihn der zeitgenössischen Minnepädagogik. Im Reformprogramm der Aufklärung gewinnt die Verfügung über Ressourcen an Bedeutung - und zwar sowohl an Wissen wie Geldvermögen. Zum Problem wird dabei, dass die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts die Eigentumsrechte desjenigen unterhöhlt, der extensiv rezipiert wird. "Wer mit Wissen sein Geld verdienen muss", folgert Theisohn, "verkauft eine Ware, die sich schnell selbständig macht und dabei gleichzeitig eine Person zurücklässt, für die niemand auch nur einen Pfifferling gibt. Das ist der Gelehrte."
Seit gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts urheberrechtliche Gesetze die Prinzipien literarischer Autorschaft definieren, müssen sich deren Erzeugnisse ausweisen können. Die mit dem Autornamen verbürgte Qualität drückt sich in dem Anspruch und der Beteuerung aus, in selbstgeschaffenen Werken die Eigentümlichkeit der eigenen Person zum Ausdruck gebracht zu haben. Das Eigentümliche der Autor-Persönlichkeit wiederum wird zum Garanten der geistigen Eigentumsansprüche des Autors als juristischer Person. Doch hört die literarische Produktion dadurch nicht auf, sich in Paradoxien zu bewegen, im Gegenteil. Die Kunst besteht offenbar darin, aus der Stafette osmotischer Anverwandlungen eine Einbahnstraße zu machen; will sagen: nach Kräften von den Erzeugnissen anderer zu profitieren, dann aber im Zweifelsfall sogar mit strafbewehrten Mitteln zu verhindern, dass andere aus dem eigenen Werk illegitimen Nutzen ziehen. Allerdings ist literarische Unsterblichkeit nicht anders zu erlangen als durch das freudige Zugreifen der Mitwelt und die bedenkenlose Anverwandlung durch Nachgeborene.
Wer das Plagiat zum Thema einer Abhandlung macht, die noch dazu mit dem Epitheton des "Unoriginellen" kokettiert, wird sich vorab die Frage gestellt haben, ob das Ganze eigentlich "Boomerang-proof" ist oder womöglich auf den Autor zurückfallen könnte. Da behandelt jemand die Allgegenwart geistiger Abhängigkeiten und unfreiwilliger Schreib-Gemeinschaften und will selbst das Geschäft der Literaturgeschichte als Ein-Mann-Unternehmen führen? Das zeugt von Hybris, selbst wenn ein leichtfüßiger, charmanter Plauderton den Leser für den weiten Reiseweg einnimmt. Mit Siebenmeilenstiefeln eilt Theisohn durch die Abteilungen, um sich dann wieder detailreich in Fallgeschichten zu versenken. Dass gleich im dritten Satz des Buches versehentlich ein Vierteljahrtausend zu einem Vierteljahrhundert schrumpft, ist freilich nicht dem Tempo der Darstellung, sondern einem stehengebliebenen Fehler geschuldet.
Theisohns Studie ist trotz des Umfangs kurzweilig und vergnüglich, ihre Schauplätze sind treffsicher ausgewählt und pointenreich kommentiert. Sein Buch eröffnet Einsichten in die althergebrachte Praxis des Ab-, Um- und Weiterschreibens und skizziert die wechselnden sozialen und geschichtlichen Konstellationen, unter welchen solches Tun mal Plagiat heißt und manchmal auch nicht.
ALEXANDER HONOLD
Philipp Theisohn: "Plagiat". Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009. 578 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2010Die Ursünde der freien Benutzung
Philipp Theisohn hat eine eloquente Geschichte des literarischen Plagiats geschrieben
Autoren sind in der Regel auch Leser. Einer der Effekte, die daraus entstehen können, ist das literarische Plagiat. Ein eigener Straftatbestand ist es nicht. Weil aber das Urheberrechtsgesetz definiert, wann dieses Recht verletzt ist, regelt es auch die Fälle, die wir gemeinhin Plagiatsfälle nennen. In seiner Dissertation „Das Literaturplagiat – Tatbestand und Rechtsfolgen” (1996) hat Florian Fischer das so formuliert: „Die bewusste Aneignung fremden urheberrechtlich geschützten Geistesgutes stellt eine Verletzung des in § 13 UrhG normierten Rechts auf Anerkennung der Urheberschaft dar und löst nach § 97 UrhG Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche aus.”
Wie bitte? So fragt jeder Leser, in dessen Bücherschrank andauernd fremdes Geistesgut quer durch die Einbände angeeignet, umgeschrieben, nachgeschrieben, ausgeschrieben wird. Ist es nicht eine Grundbestimmung der Literatur, zumal der modernen, dass sie in der bewussten, auch stillschweigenden Aneignung der Texte anderer Autoren entsteht?
Ja, sagt das Urheberrecht, aber an die Art dieser Aneignung stelle ich Bedingungen, übrigens in Rücksicht auf durchaus handfeste, materielle Interessen. Es gibt viele Literaturliebhaber, die solche Bedingungen für einen Anschlag auf die Freiheit der Literatur halten – bis sie selber einen erfolglosen Roman geschrieben haben, der in der leicht veränderten Version eines anderen Autors plötzlich zum Bestseller avanciert. Dann klingt ebenso plötzlich ein Begriffsungetüm wie das „Verwertungsmonopol an der eigenen schöpferischen Leistung” überraschend freundlich, und ebenso der § 23 im Urheberrechtsgesetz: „Bearbeitungen oder andere Umgestaltungen des Werkes dürfen nur mit Einwilligung des Urhebers des bearbeiteten oder umgestalteten Werkes veröffentlicht oder verwertet werden.”
Grenzziehungen wie diese sind aber im § 24 des Urheberrechtsgesetzes auf einen Freiraum bezogen, in dem die bewusste Aneignung des fremden Werkes in einem selbständigen anderen Werk ihrerseits ausdrücklich als legitim anerkannt wird: „Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden.” Für die juristische Kasuistik des Plagiats ist, wenn ein Autor gegen die Verletzung seines Urheberrechtes klagt, die Unterscheidung zwischen der „Bearbeitung”, die sich dem benutzten Werk anpasst, und der „freien Benutzung”, die ein neues, selbständiges Werk schafft, hinter dem die Vorlage verblasst, entscheidend.
Philipp Theisohn, Oberassistent für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, lässt in seinem Buch „Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte” die Rechtsgeschichte nur eine Nebenrolle spielen. Denn er meint seinen Untertitel ernst. Er will die Geschichte eines Genres erzählen, des Genres der „Plagiatserzählung”. Die juristische Kasuistik, so seine These, ist darin nur ein – notwendig vereinfachendes – Untergenre. Die eigentliche Verhandlung findet nicht vor Gericht, sondern in der Literatur selber statt.
In drei Sätze legt Theisohn diese Ausgangsthese auseinander. Der erste besagt: „Ein Plagiat, das niemand bemerkt, ist keines.” Der zweite zieht aus der Bindung des Plagiats an die Existenz einer literarischen Öffentlichkeit die Konsequenz: „Plagiate entstehen dadurch, dass man sich von ihnen erzählt.” Und der dritte macht amtlich, dass, wann immer ein Plagiatsfall vor Gericht kommt, das Urteil in letzter Instanz von der Literaturwissenschaft gefällt wird: „Plagiate verhandeln grundsätzlich ein ,inneres‘ Verhältnis von Text und Autor.”
Kurz, so wie jüngere Literaturgeschichten vor allem davon handeln, was jeweils unter Literatur verstanden wurde oder wird, so handelt diese Geschichte des Plagiats von den Geschichten, die in älterer oder neuerer Zeit von Plagiaten erzählten. Oder genauer: vom literarischen Diebstahl. Darum beginnt sie nicht erst bei Martial, der im ersten Jahrhundert nach Christus den Dichter Fidentinus einen „plagiarius” nannte und darum als Urheber des Begriffs gilt. Das Plagiat gilt ihr als „Ursünde” der Literatur (und Philosophie), die schon im antiken Griechenland, zumal in der griechischen Komödie, ihre Auftritte vor dem Publikum hat.
Die literarische Kasuistik des Plagiats aber ist ein weites Feld. Theisohn bestellt es eloquent, im lockeren Parforceritt durch die Jahrhunderte, der an Kathy Acker ebenso vorbeiführt wie an den römischen Autoren, die den geraubten Text in Analogie zur geraubten Sklavin präsentieren, und an den Kopisten in den Schreibstuben des Mittelalters, den Virtuosen des Abschreibens, für die es „Autorschaft als textliche Verfügungsgewalt” noch nicht gab.
Die entscheidende Zäsur setzt auch Theisohn in die Epoche der Erfindung des Buchdrucks und der Herausbildung des modernen literarischen Marktes. Hier bindet sich der Begriff des Autors an das gedruckte, in einer Vielzahl von Kopien kursierende Werk, und vor allem rückt zugleich der auf dem Titel des Werkes gedruckte Name des Autors in die Schlüsselposition. In unsichtbaren Lettern steht über dem gedruckten Buch des individuellen Autors: Du sollst keine anderen Autoren neben mir haben.
Wie die Abwehr des Plagiats auf diesem Wege zu einer literarischen Produktivkraft wird, zeigt Theisohn in einem kurzen Kommentar zum „Don Quijote”, dessen Held im zweiten Teil des Romans nicht nur den Lesern des ersten Teils begegnet, sondern schließlich auch den Figuren, die ein Konkurrent des Miguel Cervantes in seiner Aneignung des „Don Qujote” in die Welt gesetzt hat.
Der „Don Quijote” ist seit je ein Kronzeuge aller Theorien der Selbstbezüglichkeit und wirklichkeitszersetzenden Kraft aller Literatur. Er ist aber zugleich ein Dokument der Selbstbehauptung moderner Autorschaft, deren Weg hinein in die Welt des juristischen Urheberrechtes Theisohn im Blick auf die Literatur des 18. Jahrhunderts und im Anschluss an Heinrich Bossses Standardwerk „Autorschaft ist Werkherrschaft” (1981) noch einmal anekdotenreich nachzeichnet.
Der Fluchtpunkt des Buches aber ist mit seinem Ausgangspunkt identisch. Diesen hatte Theisohn zwischen der „Skylla des Urheberrechts und der Charybdis postmoderner Literaturreflexion” gesucht. So verfolgt der Autor zwar im Blick auf die romantische Literatur, die klassische Moderne und Autoren wie Max Frisch und Theoretiker wie Roland Barthes und Michel Foucault im 20. Jahrhundert die Geschichte der fiktiven Selbstaufhebungen der Autorschaft, lässt aber zugleich im Referat prominenter Plagiatsvorwürfe von Jakob Wassermann über Bertolt Brecht und Claire Golls Denunziation Paul Celans keinen Zweifel daran, dass aus der vielbeschworenen „Intertextualität” der Literatur keineswegs die Aufhebung jener Grenzziehungen resultiert, die im geltenden Urheberrecht gesetzt sind. Zustimmend notiert Theisohn, dass Bertolt Brecht zwar bis heute für seine demonstrative „Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums” bewundert wird, dass er aber gleichwohl von seinen Einnahmen aus der „Dreigroschenoper” einen gewissen Anteil an Karl Klammer abführte, dessen Villon-Übertragung er stillschweigend benutzt hatte.
Das Schlusskapitel („Copy/Paste: Das Plagiat als digitaler Schatten”) ist denn auch gegen die medientheoretische Suggestion angeschrieben, in der Welt des Internets müsse sowohl die klassische Autorenrolle wie das Urheberrecht notwendigerweise untergehen, weil sie mit der Logik des Digitalen unvereinbar seien. In der Tat nimmt ja derzeit, wie nicht zuletzt die Inszenierung von Helene Hegemanns Buch „Axolotl Roadkill” zeigt, die als „hypertextuelle Partizipation” und urheberrechtsfreies Zirkulieren von „Material” daherkommende Literatur die klassische Autorenrolle, die an den Namen auf einem Buchtitel gebunden ist, ihrerseits geradezu hysterisch in Anspruch.LOTHAR MÜLLER
PHILIPP THEISOHN: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009. 578 Seiten, 26,90 Euro.
Gehört es nicht zur Literatur, dass sie in der Aneignung der Texte anderer Autoren entsteht?
Statt im Netz zu verschwinden, feiert die klassische Autorenrolle derzeit hysterische Triumphe
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Philipp Theisohn hat eine eloquente Geschichte des literarischen Plagiats geschrieben
Autoren sind in der Regel auch Leser. Einer der Effekte, die daraus entstehen können, ist das literarische Plagiat. Ein eigener Straftatbestand ist es nicht. Weil aber das Urheberrechtsgesetz definiert, wann dieses Recht verletzt ist, regelt es auch die Fälle, die wir gemeinhin Plagiatsfälle nennen. In seiner Dissertation „Das Literaturplagiat – Tatbestand und Rechtsfolgen” (1996) hat Florian Fischer das so formuliert: „Die bewusste Aneignung fremden urheberrechtlich geschützten Geistesgutes stellt eine Verletzung des in § 13 UrhG normierten Rechts auf Anerkennung der Urheberschaft dar und löst nach § 97 UrhG Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche aus.”
Wie bitte? So fragt jeder Leser, in dessen Bücherschrank andauernd fremdes Geistesgut quer durch die Einbände angeeignet, umgeschrieben, nachgeschrieben, ausgeschrieben wird. Ist es nicht eine Grundbestimmung der Literatur, zumal der modernen, dass sie in der bewussten, auch stillschweigenden Aneignung der Texte anderer Autoren entsteht?
Ja, sagt das Urheberrecht, aber an die Art dieser Aneignung stelle ich Bedingungen, übrigens in Rücksicht auf durchaus handfeste, materielle Interessen. Es gibt viele Literaturliebhaber, die solche Bedingungen für einen Anschlag auf die Freiheit der Literatur halten – bis sie selber einen erfolglosen Roman geschrieben haben, der in der leicht veränderten Version eines anderen Autors plötzlich zum Bestseller avanciert. Dann klingt ebenso plötzlich ein Begriffsungetüm wie das „Verwertungsmonopol an der eigenen schöpferischen Leistung” überraschend freundlich, und ebenso der § 23 im Urheberrechtsgesetz: „Bearbeitungen oder andere Umgestaltungen des Werkes dürfen nur mit Einwilligung des Urhebers des bearbeiteten oder umgestalteten Werkes veröffentlicht oder verwertet werden.”
Grenzziehungen wie diese sind aber im § 24 des Urheberrechtsgesetzes auf einen Freiraum bezogen, in dem die bewusste Aneignung des fremden Werkes in einem selbständigen anderen Werk ihrerseits ausdrücklich als legitim anerkannt wird: „Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden.” Für die juristische Kasuistik des Plagiats ist, wenn ein Autor gegen die Verletzung seines Urheberrechtes klagt, die Unterscheidung zwischen der „Bearbeitung”, die sich dem benutzten Werk anpasst, und der „freien Benutzung”, die ein neues, selbständiges Werk schafft, hinter dem die Vorlage verblasst, entscheidend.
Philipp Theisohn, Oberassistent für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, lässt in seinem Buch „Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte” die Rechtsgeschichte nur eine Nebenrolle spielen. Denn er meint seinen Untertitel ernst. Er will die Geschichte eines Genres erzählen, des Genres der „Plagiatserzählung”. Die juristische Kasuistik, so seine These, ist darin nur ein – notwendig vereinfachendes – Untergenre. Die eigentliche Verhandlung findet nicht vor Gericht, sondern in der Literatur selber statt.
In drei Sätze legt Theisohn diese Ausgangsthese auseinander. Der erste besagt: „Ein Plagiat, das niemand bemerkt, ist keines.” Der zweite zieht aus der Bindung des Plagiats an die Existenz einer literarischen Öffentlichkeit die Konsequenz: „Plagiate entstehen dadurch, dass man sich von ihnen erzählt.” Und der dritte macht amtlich, dass, wann immer ein Plagiatsfall vor Gericht kommt, das Urteil in letzter Instanz von der Literaturwissenschaft gefällt wird: „Plagiate verhandeln grundsätzlich ein ,inneres‘ Verhältnis von Text und Autor.”
Kurz, so wie jüngere Literaturgeschichten vor allem davon handeln, was jeweils unter Literatur verstanden wurde oder wird, so handelt diese Geschichte des Plagiats von den Geschichten, die in älterer oder neuerer Zeit von Plagiaten erzählten. Oder genauer: vom literarischen Diebstahl. Darum beginnt sie nicht erst bei Martial, der im ersten Jahrhundert nach Christus den Dichter Fidentinus einen „plagiarius” nannte und darum als Urheber des Begriffs gilt. Das Plagiat gilt ihr als „Ursünde” der Literatur (und Philosophie), die schon im antiken Griechenland, zumal in der griechischen Komödie, ihre Auftritte vor dem Publikum hat.
Die literarische Kasuistik des Plagiats aber ist ein weites Feld. Theisohn bestellt es eloquent, im lockeren Parforceritt durch die Jahrhunderte, der an Kathy Acker ebenso vorbeiführt wie an den römischen Autoren, die den geraubten Text in Analogie zur geraubten Sklavin präsentieren, und an den Kopisten in den Schreibstuben des Mittelalters, den Virtuosen des Abschreibens, für die es „Autorschaft als textliche Verfügungsgewalt” noch nicht gab.
Die entscheidende Zäsur setzt auch Theisohn in die Epoche der Erfindung des Buchdrucks und der Herausbildung des modernen literarischen Marktes. Hier bindet sich der Begriff des Autors an das gedruckte, in einer Vielzahl von Kopien kursierende Werk, und vor allem rückt zugleich der auf dem Titel des Werkes gedruckte Name des Autors in die Schlüsselposition. In unsichtbaren Lettern steht über dem gedruckten Buch des individuellen Autors: Du sollst keine anderen Autoren neben mir haben.
Wie die Abwehr des Plagiats auf diesem Wege zu einer literarischen Produktivkraft wird, zeigt Theisohn in einem kurzen Kommentar zum „Don Quijote”, dessen Held im zweiten Teil des Romans nicht nur den Lesern des ersten Teils begegnet, sondern schließlich auch den Figuren, die ein Konkurrent des Miguel Cervantes in seiner Aneignung des „Don Qujote” in die Welt gesetzt hat.
Der „Don Quijote” ist seit je ein Kronzeuge aller Theorien der Selbstbezüglichkeit und wirklichkeitszersetzenden Kraft aller Literatur. Er ist aber zugleich ein Dokument der Selbstbehauptung moderner Autorschaft, deren Weg hinein in die Welt des juristischen Urheberrechtes Theisohn im Blick auf die Literatur des 18. Jahrhunderts und im Anschluss an Heinrich Bossses Standardwerk „Autorschaft ist Werkherrschaft” (1981) noch einmal anekdotenreich nachzeichnet.
Der Fluchtpunkt des Buches aber ist mit seinem Ausgangspunkt identisch. Diesen hatte Theisohn zwischen der „Skylla des Urheberrechts und der Charybdis postmoderner Literaturreflexion” gesucht. So verfolgt der Autor zwar im Blick auf die romantische Literatur, die klassische Moderne und Autoren wie Max Frisch und Theoretiker wie Roland Barthes und Michel Foucault im 20. Jahrhundert die Geschichte der fiktiven Selbstaufhebungen der Autorschaft, lässt aber zugleich im Referat prominenter Plagiatsvorwürfe von Jakob Wassermann über Bertolt Brecht und Claire Golls Denunziation Paul Celans keinen Zweifel daran, dass aus der vielbeschworenen „Intertextualität” der Literatur keineswegs die Aufhebung jener Grenzziehungen resultiert, die im geltenden Urheberrecht gesetzt sind. Zustimmend notiert Theisohn, dass Bertolt Brecht zwar bis heute für seine demonstrative „Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums” bewundert wird, dass er aber gleichwohl von seinen Einnahmen aus der „Dreigroschenoper” einen gewissen Anteil an Karl Klammer abführte, dessen Villon-Übertragung er stillschweigend benutzt hatte.
Das Schlusskapitel („Copy/Paste: Das Plagiat als digitaler Schatten”) ist denn auch gegen die medientheoretische Suggestion angeschrieben, in der Welt des Internets müsse sowohl die klassische Autorenrolle wie das Urheberrecht notwendigerweise untergehen, weil sie mit der Logik des Digitalen unvereinbar seien. In der Tat nimmt ja derzeit, wie nicht zuletzt die Inszenierung von Helene Hegemanns Buch „Axolotl Roadkill” zeigt, die als „hypertextuelle Partizipation” und urheberrechtsfreies Zirkulieren von „Material” daherkommende Literatur die klassische Autorenrolle, die an den Namen auf einem Buchtitel gebunden ist, ihrerseits geradezu hysterisch in Anspruch.LOTHAR MÜLLER
PHILIPP THEISOHN: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009. 578 Seiten, 26,90 Euro.
Gehört es nicht zur Literatur, dass sie in der Aneignung der Texte anderer Autoren entsteht?
Statt im Netz zu verschwinden, feiert die klassische Autorenrolle derzeit hysterische Triumphe
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein wenig schwindelig ist Rezensent Jens Jessen nach diesen 600 Seiten schon, wie man liest. Denn es handelt sich seinen Informationen zufolge um eine höchst akribische Geschichte des Plagiats. Allerdings scheint der Autor so tief in sein Thema eingestiegen zu sein, dass ihm am Ende die ganze Literatur wohl wie ein einziges Plagiat vorgekommen ist, was die Lektüre für Jessen zwar immer wieder amüsant und aufschlussreich, letztlich aber wohl auch ein wenig redundant macht. Denn es scheint, das Verständnis Philipp Theisohns, was ein "Original" ist, ist den komplexen Anforderungen der Postmoderne nicht ganz gewachsen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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