Produktdetails
- Verlag: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
- ISBN-13: 9783534133413
- ISBN-10: 3534133412
- Artikelnr.: 07923496
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2000Er kommt ihm plötzlich unsagbar töricht vor
Die Keule soll der Sprachmeister geführt haben, nicht das Florett: Wolfgang Kersting benutzt Platon als Modell für den Typ Urmensch
Schon eine ganze Weile hat Sokrates sich mit seinem Gesprächspartner Trasymachos darüber gestritten, was die Gerechtigkeit sei, da hält er inne und erinnert den aufgebrachten Sophisten daran, worum es in ihrem Gespräch in Wahrheit geht: "Nicht von etwas Nebensächlichem handelt unsere Rede, sondern davon, auf welche Weise man leben soll." Es ist dies eine charakteristische Szene, die Platon am Ende des ersten Buches seiner "Politeia" komponiert hat, gibt sie doch in aller Deutlichkeit zu verstehen, dass dieses wohl berühmteste seiner Werke nicht einfach als philosophischer Traktat über Gerechtigkeit und politische Herrschaftsformen zu lesen ist, sondern auch und vor allem als Lehrstück über das gute Leben.
Nun ist dieser Dialog aber ein ausgesprochen komplexer und vielschichtiger Text, der auf Anhieb nicht leicht zu verstehen ist. Von daher ist es begrüßenswert, wenn ein philosophischer Exeget einen Kommentar für die Zeitgenossen verfasst. Wolfgang Kersting legt - anders als der Einband seines Buches verspricht - nicht "die erste vollständige Interpretation von Platons ,Staat' in deutscher Sprache" vor: Das tat Andreas Schuster bereits 1995.
Wer einmal einen Platontext zur Hand genommen hat, weiß, worin einerseits der Charme, andererseits aber auch die Tücke dieses Autors liegt: Die literarischen Inszenierungen der Dialoge führen zuweilen dazu, dass sie eher als einem philosophischen Traktat der Neuzeit dem delphischen Orakel gleichen, das einem Wort des Heraklit zufolge weder klar redet noch verheimlicht, sondern andeutet. So gesehen ist es überzeugend, wenn Kersting in der Einleitung betont, "eine angemessene Interpretation der Politeia" sei gehalten, "nicht nur dem philosophischen Inhalt, sondern auch seiner literarischen Form, seiner dialogisch-dramatischen Kontextualisierung und seiner rhetorischen Färbung gebührende Aufmerksamkeit zu schenken". Enttäuschend jedoch ist, dass er dieses hermeneutische Prinzip dann nicht anwendet.
Ein Beispiel: Anstatt danach zu fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen den von Trasymachos und Sokrates eingangs vertretenen Positionen und der Art ihres Argumentierens gibt, bescheidet sich Kersting damit, dem "Sprachmeister Platon" niedere Beweggründe zu attestieren: Er habe "das Florett beiseite gelegt und die Keule benutzt", da er "auf die Sophisten offenkundig nicht gut zu sprechen" gewesen sei. Könnte Platons Meisterschaft nicht darin bestehen, dass er bestimmten mentalen Dispositionen seiner Charaktere bestimmte rhetorische Strategien der Gesprächspartner entsprechen lässt?
Ähnlich verhält es sich mit Kerstings Deutung des Schlussmythos der "Politeia". Eine Reflexion über Platons Mythengebrauch sucht der Leser vergebens. Der Kommentator liest die von Sokrates mit deutlichem Augenzwinkern vorgetragene Geschichte von der Unterweltsfahrt verstorbener Seelen stattdessen wie ein philosophisches Lehrstück - um schließlich festzustellen, man könne "sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Platon gegen Ende seines Dialogs entschieden die Lust und Konzentration verlassen haben".
Der Satz gibt zu erkennen, wie wenig Mühe sich der Kommentator gibt, in die Gedankenwelt Platons einzudringen. Das von ihm eingangs formulierte Ziel, "die texterschließende Untersuchung mit pointierten Vergleichsskizzen und systematisch-historischen Konfrontationen" anzureichern, entpuppt sich bei der Lektüre als Euphemismus für eine hemmungslos anachronistische Leseart. Durchweg nähert sich Kersting den platonischen Ausführungen mit den Kriterien einer, wie er selbst sagt, "nominalistischen zeitgenössischen Epistemologie", die die "extravagante universalienrealistische Prämisse des platonischen Erkenntniskonzeptes" nicht teilt. Er verhält sich damit dem platonischen Text gegenüber wie ein Ethnologe, der über die Gebräuche eines Naturvolkes räsoniert, ohne sich die Mühe zu machen, diese von innen kennen zu lernen.
Um Platon zu verstehen, muss man die gedanklichen Bewegungen seiner Dialoge nachvollziehen. Hätte Kersting dies getan, würde er wohl nicht Platons Kritik an Kunst und Dichtung im Zehnten Buch "ungemein absurd" und "unsäglich töricht" nennen. So urteilt nur, wer diese Ausführungen unreflektiert als Platons Beitrag zur Ästhetik missdeutet, anstatt zu sehen, dass der Autor am Ende seines Opus magnum über dessen eigene Beschränktheit nachdenkt.
Das zu erkennen setzt freilich voraus, dass man sich zuvor der im Mittelteil der "Politeia" entwickelten Ideen-Metaphysik Platons ausgesetzt hat. Das aber versäumt Kersting, da er sich von vornherein weigert, die von Platon als "höchsten Lehrgegenstand" (megiston mathema) eingeführte Idee des Guten als "metaphysisches Prinzip" zu verstehen und sich stattdessen darauf versteift, in ihr lediglich eine "implizite, eingewickelte Praxeologie" zu erkennen. Kersting meint damit, die Idee des Guten sei so etwas wie Entscheidungskompetenz und Urteilskraft. In der Tat ist sie das, und so ist der Textteil, in dem er diese Interpretation entwickelt, der stärkere Abschnitt des ganzen Buches. Doch ist die Idee des Guten noch weitaus mehr als der Inbegriff "praktischer Kompetenz". Sie ist - worüber sich Kersting denn auch wundert - eben auch eine Idee, und das heißt bei Platon: Gegenstand theoretischen Wissens.
Dass das höchste philosophische Wissen gleichermaßen theoretisch wie praktisch ist, will dem Kommentator nicht einleuchten. Stattdessen wirft er Platon immer wieder vor, einen "unterbestimmten Vernunftbegriff" vorauszusetzen, der die von Aristoteles eingeführte "strikte Trennung von Theorie und Praxis" verwische. Gewiss, aus neuzeitlicher Perspektive ist diese "Verwischung" irritierend - sie damit aber auch als obsolet abzutun heißt die Chance verspielen, im Nachvollzug des platonischen Gedankens eine Alternative zu unserer alltäglichen Sicht der Dinge zu gewinnen.
Platon wusste, wie leicht es geschehen kann, dass die lebenspraktische Dimension seiner Texte aus dem Blick gerät. Nicht zuletzt deshalb hat er im "Phaidros" und im "Siebten Brief" auf die Gefahren des Mediums Schrift für die Philosophie hingewiesen. Wie berechtigt diese Sorge war, demonstriert Kerstings Kommentar auf eindrucksvolle Weise. Seine anachronistische Zugangsweise steht dem Verständnis der Tiefenstruktur der "Politeia" so sehr im Wege, dass man am Ende nicht mehr weiß, warum man das Werk überhaupt noch lesen sollte.
CHRISTOPH QUARCH
Wolfgang Kersting: "Platons ,Staat'". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999. 342 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Keule soll der Sprachmeister geführt haben, nicht das Florett: Wolfgang Kersting benutzt Platon als Modell für den Typ Urmensch
Schon eine ganze Weile hat Sokrates sich mit seinem Gesprächspartner Trasymachos darüber gestritten, was die Gerechtigkeit sei, da hält er inne und erinnert den aufgebrachten Sophisten daran, worum es in ihrem Gespräch in Wahrheit geht: "Nicht von etwas Nebensächlichem handelt unsere Rede, sondern davon, auf welche Weise man leben soll." Es ist dies eine charakteristische Szene, die Platon am Ende des ersten Buches seiner "Politeia" komponiert hat, gibt sie doch in aller Deutlichkeit zu verstehen, dass dieses wohl berühmteste seiner Werke nicht einfach als philosophischer Traktat über Gerechtigkeit und politische Herrschaftsformen zu lesen ist, sondern auch und vor allem als Lehrstück über das gute Leben.
Nun ist dieser Dialog aber ein ausgesprochen komplexer und vielschichtiger Text, der auf Anhieb nicht leicht zu verstehen ist. Von daher ist es begrüßenswert, wenn ein philosophischer Exeget einen Kommentar für die Zeitgenossen verfasst. Wolfgang Kersting legt - anders als der Einband seines Buches verspricht - nicht "die erste vollständige Interpretation von Platons ,Staat' in deutscher Sprache" vor: Das tat Andreas Schuster bereits 1995.
Wer einmal einen Platontext zur Hand genommen hat, weiß, worin einerseits der Charme, andererseits aber auch die Tücke dieses Autors liegt: Die literarischen Inszenierungen der Dialoge führen zuweilen dazu, dass sie eher als einem philosophischen Traktat der Neuzeit dem delphischen Orakel gleichen, das einem Wort des Heraklit zufolge weder klar redet noch verheimlicht, sondern andeutet. So gesehen ist es überzeugend, wenn Kersting in der Einleitung betont, "eine angemessene Interpretation der Politeia" sei gehalten, "nicht nur dem philosophischen Inhalt, sondern auch seiner literarischen Form, seiner dialogisch-dramatischen Kontextualisierung und seiner rhetorischen Färbung gebührende Aufmerksamkeit zu schenken". Enttäuschend jedoch ist, dass er dieses hermeneutische Prinzip dann nicht anwendet.
Ein Beispiel: Anstatt danach zu fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen den von Trasymachos und Sokrates eingangs vertretenen Positionen und der Art ihres Argumentierens gibt, bescheidet sich Kersting damit, dem "Sprachmeister Platon" niedere Beweggründe zu attestieren: Er habe "das Florett beiseite gelegt und die Keule benutzt", da er "auf die Sophisten offenkundig nicht gut zu sprechen" gewesen sei. Könnte Platons Meisterschaft nicht darin bestehen, dass er bestimmten mentalen Dispositionen seiner Charaktere bestimmte rhetorische Strategien der Gesprächspartner entsprechen lässt?
Ähnlich verhält es sich mit Kerstings Deutung des Schlussmythos der "Politeia". Eine Reflexion über Platons Mythengebrauch sucht der Leser vergebens. Der Kommentator liest die von Sokrates mit deutlichem Augenzwinkern vorgetragene Geschichte von der Unterweltsfahrt verstorbener Seelen stattdessen wie ein philosophisches Lehrstück - um schließlich festzustellen, man könne "sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Platon gegen Ende seines Dialogs entschieden die Lust und Konzentration verlassen haben".
Der Satz gibt zu erkennen, wie wenig Mühe sich der Kommentator gibt, in die Gedankenwelt Platons einzudringen. Das von ihm eingangs formulierte Ziel, "die texterschließende Untersuchung mit pointierten Vergleichsskizzen und systematisch-historischen Konfrontationen" anzureichern, entpuppt sich bei der Lektüre als Euphemismus für eine hemmungslos anachronistische Leseart. Durchweg nähert sich Kersting den platonischen Ausführungen mit den Kriterien einer, wie er selbst sagt, "nominalistischen zeitgenössischen Epistemologie", die die "extravagante universalienrealistische Prämisse des platonischen Erkenntniskonzeptes" nicht teilt. Er verhält sich damit dem platonischen Text gegenüber wie ein Ethnologe, der über die Gebräuche eines Naturvolkes räsoniert, ohne sich die Mühe zu machen, diese von innen kennen zu lernen.
Um Platon zu verstehen, muss man die gedanklichen Bewegungen seiner Dialoge nachvollziehen. Hätte Kersting dies getan, würde er wohl nicht Platons Kritik an Kunst und Dichtung im Zehnten Buch "ungemein absurd" und "unsäglich töricht" nennen. So urteilt nur, wer diese Ausführungen unreflektiert als Platons Beitrag zur Ästhetik missdeutet, anstatt zu sehen, dass der Autor am Ende seines Opus magnum über dessen eigene Beschränktheit nachdenkt.
Das zu erkennen setzt freilich voraus, dass man sich zuvor der im Mittelteil der "Politeia" entwickelten Ideen-Metaphysik Platons ausgesetzt hat. Das aber versäumt Kersting, da er sich von vornherein weigert, die von Platon als "höchsten Lehrgegenstand" (megiston mathema) eingeführte Idee des Guten als "metaphysisches Prinzip" zu verstehen und sich stattdessen darauf versteift, in ihr lediglich eine "implizite, eingewickelte Praxeologie" zu erkennen. Kersting meint damit, die Idee des Guten sei so etwas wie Entscheidungskompetenz und Urteilskraft. In der Tat ist sie das, und so ist der Textteil, in dem er diese Interpretation entwickelt, der stärkere Abschnitt des ganzen Buches. Doch ist die Idee des Guten noch weitaus mehr als der Inbegriff "praktischer Kompetenz". Sie ist - worüber sich Kersting denn auch wundert - eben auch eine Idee, und das heißt bei Platon: Gegenstand theoretischen Wissens.
Dass das höchste philosophische Wissen gleichermaßen theoretisch wie praktisch ist, will dem Kommentator nicht einleuchten. Stattdessen wirft er Platon immer wieder vor, einen "unterbestimmten Vernunftbegriff" vorauszusetzen, der die von Aristoteles eingeführte "strikte Trennung von Theorie und Praxis" verwische. Gewiss, aus neuzeitlicher Perspektive ist diese "Verwischung" irritierend - sie damit aber auch als obsolet abzutun heißt die Chance verspielen, im Nachvollzug des platonischen Gedankens eine Alternative zu unserer alltäglichen Sicht der Dinge zu gewinnen.
Platon wusste, wie leicht es geschehen kann, dass die lebenspraktische Dimension seiner Texte aus dem Blick gerät. Nicht zuletzt deshalb hat er im "Phaidros" und im "Siebten Brief" auf die Gefahren des Mediums Schrift für die Philosophie hingewiesen. Wie berechtigt diese Sorge war, demonstriert Kerstings Kommentar auf eindrucksvolle Weise. Seine anachronistische Zugangsweise steht dem Verständnis der Tiefenstruktur der "Politeia" so sehr im Wege, dass man am Ende nicht mehr weiß, warum man das Werk überhaupt noch lesen sollte.
CHRISTOPH QUARCH
Wolfgang Kersting: "Platons ,Staat'". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999. 342 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Arnim Adam bespricht das Buch zusammen mit "Platons ,Staat`" von Wolfgang Kersting (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Es wäre allerdings ratsam, vor dem Lesen der Rezension den Unterschied zwischen politischer und praktischer Philosophie im Philosophiewörterbuch zu eruieren. Denn SZ-Autor Armin Adam baut seinen Artikel auf diese zwei begriffliche Grundfpfeiler. Es geht um Platons "Politeia" - das "Gründungsdokument der Politischen Philosophie" und um den Kommentar der gesamten "Politeia", vorgelegt von dem Kieler Professor Wolfgang Kersting.
1) Wolfgang Kersting: "
1) Wolfgang Kersting: "