Haben Sie heute schon »geschnackt«? Oder »sabbeln« Sie eher? Ausgehend von den kulturellen und sprachlichen Eigenheiten bietet dieses Buch einen kurzweiligen Einblick in die Dialektvielfalt des Plattdeutschen. Vom »Ackerschnacker« über den »Leckersnuten« bis hin zum »Zoddelkopp« - hier finden Fans des Plattdeutschen alle Infos rund um Sprache und Kultur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2022Wat de Buer nich kennt, dat fritt he nich
So exotisch klingt die Heimat: Zwei Bände stellen die Eigenheiten des Hessischen und Plattdeutschen vor
"Es ist ein romantischer Zug der Einheitssprache, nach ihrem Siege den besiegten Mundarten schöne Grabsteine zu setzen", schrieb der Wiener Sprachkritiker Fritz Mauthner bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Jetzt ist im Dudenverlag ein Buch erschienen, das das Plattdeutsche porträtiert, und ein weiteres, das sich dem Hessischen widmet. Muss man die hübsch aufgemachten Bändchen nun als Grabsteine ansehen, mit der Inschrift "Duden" als letztem Gruß des hinterbliebenen Standarddeutschs? Das wäre selbst heute noch verfrüht. Zwar ist die Bedeutung der Dialekte seit Mauthners Zeiten noch weiter zurückgegangen - im Norden und in der Mitte des deutschen Sprachraums stärker als im Süden -, aber es gibt keinen Anlass, den Mundarten den Totenschein auszustellen.
Nach wie vor snacken, küren, kallen, babbeln oder schwätzen viele Menschen, und noch bedeutend mehr verstehen immerhin, was da gesagt wird. Viele, die beides nicht können, interessieren sich trotzdem - oder deshalb - für die heimatliche Exotik dieser Sprachwelten. Ihnen allen liefern die beiden Bände einen ebenso informativen wie unterhaltsamen Einblick. Die Autoren sind ausgewiesene Kenner der Materie. Reinhard Goltz, der den Plattdeutsch-Band geschrieben hat, ist seit vielen Jahren Vorstand des Instituts für niederdeutsche Sprache in Bremen; Lars Vorberger hat am Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas den hessischen Sprachraum erkundet. Beide Autoren kommen ohne linguistischen Fachjargon aus, meiden aber auch die betuliche Humorigkeit, die den Mundarten sonst gern angeheftet wird.
Gegliedert ist jeder Band in achtundvierzig individuell festgelegte Stichwörter, die als Aufhänger dienen für kurze Texte über den Wortschatz und die Sprachgeschichte, die Gliederung des Dialektgebiets, grammatische Eigenheiten, die Rolle der Mundart im Alltag der Menschen, in der regionalen Kultur und in den Medien. Der Plattdeutsch-Band startet mit "Altsächsisch", der ältesten Stufe dieser Sprache, präsentiert mit "Dat du mien Leevsten büst" die heimliche Hymne der Plattdeutschen und erklärt unter "Lautverschiebung", wie aus dem plattdeutschen "Ik will eten un slapen" das hochdeutsche "Ich will essen und schlafen" wurde.
Unter "Moin" lernt der Leser die Erfolgsgeschichte des knackig-kurzen Grußworts kennen und unter "Wat de Buer nich kennt, dat fritt he nich" die kulinarischen Genüsse der Niederdeutschen. Der Band klingt mit dem Stichwort "Zweisprachigkeit" aus, unter dem die wechselvolle Kontaktgeschichte zwischen Platt- und Hochdeutsch umrissen wird.
Das Hessen-Buch eröffnet mit der "Ahle Worscht", die nicht nur eine salamiähnliche Leckerei aus Nordhessen ist, sondern auch Gelegenheit bietet, die vielen lautlichen Unterschiede zwischen Kassel und Darmstadt, Gießen und Fulda durchzuspielen. Das Stichwort "Goethe" (eichentlisch "Geede") gibt Gelegenheit, die hessische Aussprache des Dichters (Ach neiche / Du Schmerzensreiche) zu thematisieren, während "Kall, mei Trobbe" (Karl, meine Tropfen) die unsterbliche Mama Hesselbach aus der Fernsehserie gleichen Namens zur Sprache kommen lässt - einer Sprache, die keinem eingewurzelten Dialekt entstammt, sondern ein deutschlandweit ausgestrahltes "Medienhessisch" ist.
Unter dem letzten Stichwort "Zwä Stift" lernt der Leser, dass "der Stift" in manchen hessischen Dialekten "das Stift" ist und dass "zwei" sich je nach Genus verändert: zwe Männer, zwu Frauen und zwä Stift. In beiden Büchern bauen die Texte nicht aufeinander auf, man kann sie hintereinander lesen oder zwischen ihnen hin- und herspringen.
Lars Vorberger geht in seinem Buch ausführlich auf die verschiedenen Varianten des Hessischen ein und - komplementär dazu - auf die Herausbildung moderner großräumiger "Regiolekte", die eben diese Varianten tendenziell einebnen. In den Regiolekten, die ein Ausfluss gesellschaftlicher Mobilität und Medialisierung sind, werden die Laut- und Wortschatzspezialitäten der lokalen Mundarten nivelliert und mit umgangssprachlichen Formen des Standarddeutschen verschmolzen. Was verloren geht, ist die Vielfalt der alten, "tiefen" Dialekte. Dafür entstehen mitunter neue Formen, die weder den Dialekten noch der hochdeutschen Standardsprache zuzuordnen sind.
Ein Beispiel ist der "rischdisch" hessische sch-Laut, der keineswegs ein mundartliches Urgestein ist, sondern erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den städtischen Umgangssprachen des Rhein-Main-Gebiets entstand, von dort aus die Dialekte südlich von Gießen infiltrierte und dort das ursprünglich "richtiche" ch verdrängte. So wurden aus den Bethmännche, einer hessischen Gebäckspezialität aus Marzipanteig, die Bethmännsche.
Dialektale Vielfalt einerseits und Ausgleichstendenzen andererseits prägen auch das Niederdeutsche, das in neun Bundesländern, darunter auch am Nordrand Hessens, beheimatet ist. Reinhard Goltz vernachlässigt diese Aspekte nicht, aber sein Fokus liegt auf anderen Themen. Plattdeutsch erscheint in seinem Buch nicht nur als Medium der mündlichen Kommunikation im familiären und dörflichen Nahbereich, sondern als Kultur- und Schriftsprache, in der Nachrichten und Hörspiele gesendet, Erzählungen geschrieben werden und Theater gespielt wird. Das spiegelt den besonderen Status des Plattdeutschen, das enger mit Friesisch, Englisch und Niederländisch verwandt ist als mit den hochdeutschen Dialekten und dem Standarddeutschen und das in der Hansezeit eine eigenständige Schrift- und Hochsprache hervorbrachte.
Rechtlich gilt Niederdeutsch nicht als Dialekt, sondern als eine Regionalsprache, die unter die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen fällt. Damit einher geht die Verpflichtung der Bundesländer, Niederdeutsch kulturpolitisch zu fördern und schulische Unterrichtsangebote zu machen. Niederdeutscher Sprachunterricht, Theaterarbeit, Radio- und Fernsehsendungen auf Platt spielen mittlerweile eine große Rolle für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Sprache. Welche Zukunft sie hat, ist so offen wie das Schicksal des Hessischen und der anderen deutschen Mundarten. Über hundert Jahre nach Fritz Mauthners Abgesang ist das aber mehr, als zu erhoffen war. WOLFGANG KRISCHKE
Lars Vorberger: "Hessisch". Vom Babbeln und Schnuddeln.
Dudenverlag, Berlin 2022. 128 S., Abb., geb., 12,- Euro.
Reinhard Goltz: "Plattdeutsch". Vom Klönen und Schnacken.
Dudenverlag, Berlin 2022. 128 S., Abb., geb., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So exotisch klingt die Heimat: Zwei Bände stellen die Eigenheiten des Hessischen und Plattdeutschen vor
"Es ist ein romantischer Zug der Einheitssprache, nach ihrem Siege den besiegten Mundarten schöne Grabsteine zu setzen", schrieb der Wiener Sprachkritiker Fritz Mauthner bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Jetzt ist im Dudenverlag ein Buch erschienen, das das Plattdeutsche porträtiert, und ein weiteres, das sich dem Hessischen widmet. Muss man die hübsch aufgemachten Bändchen nun als Grabsteine ansehen, mit der Inschrift "Duden" als letztem Gruß des hinterbliebenen Standarddeutschs? Das wäre selbst heute noch verfrüht. Zwar ist die Bedeutung der Dialekte seit Mauthners Zeiten noch weiter zurückgegangen - im Norden und in der Mitte des deutschen Sprachraums stärker als im Süden -, aber es gibt keinen Anlass, den Mundarten den Totenschein auszustellen.
Nach wie vor snacken, küren, kallen, babbeln oder schwätzen viele Menschen, und noch bedeutend mehr verstehen immerhin, was da gesagt wird. Viele, die beides nicht können, interessieren sich trotzdem - oder deshalb - für die heimatliche Exotik dieser Sprachwelten. Ihnen allen liefern die beiden Bände einen ebenso informativen wie unterhaltsamen Einblick. Die Autoren sind ausgewiesene Kenner der Materie. Reinhard Goltz, der den Plattdeutsch-Band geschrieben hat, ist seit vielen Jahren Vorstand des Instituts für niederdeutsche Sprache in Bremen; Lars Vorberger hat am Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas den hessischen Sprachraum erkundet. Beide Autoren kommen ohne linguistischen Fachjargon aus, meiden aber auch die betuliche Humorigkeit, die den Mundarten sonst gern angeheftet wird.
Gegliedert ist jeder Band in achtundvierzig individuell festgelegte Stichwörter, die als Aufhänger dienen für kurze Texte über den Wortschatz und die Sprachgeschichte, die Gliederung des Dialektgebiets, grammatische Eigenheiten, die Rolle der Mundart im Alltag der Menschen, in der regionalen Kultur und in den Medien. Der Plattdeutsch-Band startet mit "Altsächsisch", der ältesten Stufe dieser Sprache, präsentiert mit "Dat du mien Leevsten büst" die heimliche Hymne der Plattdeutschen und erklärt unter "Lautverschiebung", wie aus dem plattdeutschen "Ik will eten un slapen" das hochdeutsche "Ich will essen und schlafen" wurde.
Unter "Moin" lernt der Leser die Erfolgsgeschichte des knackig-kurzen Grußworts kennen und unter "Wat de Buer nich kennt, dat fritt he nich" die kulinarischen Genüsse der Niederdeutschen. Der Band klingt mit dem Stichwort "Zweisprachigkeit" aus, unter dem die wechselvolle Kontaktgeschichte zwischen Platt- und Hochdeutsch umrissen wird.
Das Hessen-Buch eröffnet mit der "Ahle Worscht", die nicht nur eine salamiähnliche Leckerei aus Nordhessen ist, sondern auch Gelegenheit bietet, die vielen lautlichen Unterschiede zwischen Kassel und Darmstadt, Gießen und Fulda durchzuspielen. Das Stichwort "Goethe" (eichentlisch "Geede") gibt Gelegenheit, die hessische Aussprache des Dichters (Ach neiche / Du Schmerzensreiche) zu thematisieren, während "Kall, mei Trobbe" (Karl, meine Tropfen) die unsterbliche Mama Hesselbach aus der Fernsehserie gleichen Namens zur Sprache kommen lässt - einer Sprache, die keinem eingewurzelten Dialekt entstammt, sondern ein deutschlandweit ausgestrahltes "Medienhessisch" ist.
Unter dem letzten Stichwort "Zwä Stift" lernt der Leser, dass "der Stift" in manchen hessischen Dialekten "das Stift" ist und dass "zwei" sich je nach Genus verändert: zwe Männer, zwu Frauen und zwä Stift. In beiden Büchern bauen die Texte nicht aufeinander auf, man kann sie hintereinander lesen oder zwischen ihnen hin- und herspringen.
Lars Vorberger geht in seinem Buch ausführlich auf die verschiedenen Varianten des Hessischen ein und - komplementär dazu - auf die Herausbildung moderner großräumiger "Regiolekte", die eben diese Varianten tendenziell einebnen. In den Regiolekten, die ein Ausfluss gesellschaftlicher Mobilität und Medialisierung sind, werden die Laut- und Wortschatzspezialitäten der lokalen Mundarten nivelliert und mit umgangssprachlichen Formen des Standarddeutschen verschmolzen. Was verloren geht, ist die Vielfalt der alten, "tiefen" Dialekte. Dafür entstehen mitunter neue Formen, die weder den Dialekten noch der hochdeutschen Standardsprache zuzuordnen sind.
Ein Beispiel ist der "rischdisch" hessische sch-Laut, der keineswegs ein mundartliches Urgestein ist, sondern erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den städtischen Umgangssprachen des Rhein-Main-Gebiets entstand, von dort aus die Dialekte südlich von Gießen infiltrierte und dort das ursprünglich "richtiche" ch verdrängte. So wurden aus den Bethmännche, einer hessischen Gebäckspezialität aus Marzipanteig, die Bethmännsche.
Dialektale Vielfalt einerseits und Ausgleichstendenzen andererseits prägen auch das Niederdeutsche, das in neun Bundesländern, darunter auch am Nordrand Hessens, beheimatet ist. Reinhard Goltz vernachlässigt diese Aspekte nicht, aber sein Fokus liegt auf anderen Themen. Plattdeutsch erscheint in seinem Buch nicht nur als Medium der mündlichen Kommunikation im familiären und dörflichen Nahbereich, sondern als Kultur- und Schriftsprache, in der Nachrichten und Hörspiele gesendet, Erzählungen geschrieben werden und Theater gespielt wird. Das spiegelt den besonderen Status des Plattdeutschen, das enger mit Friesisch, Englisch und Niederländisch verwandt ist als mit den hochdeutschen Dialekten und dem Standarddeutschen und das in der Hansezeit eine eigenständige Schrift- und Hochsprache hervorbrachte.
Rechtlich gilt Niederdeutsch nicht als Dialekt, sondern als eine Regionalsprache, die unter die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen fällt. Damit einher geht die Verpflichtung der Bundesländer, Niederdeutsch kulturpolitisch zu fördern und schulische Unterrichtsangebote zu machen. Niederdeutscher Sprachunterricht, Theaterarbeit, Radio- und Fernsehsendungen auf Platt spielen mittlerweile eine große Rolle für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Sprache. Welche Zukunft sie hat, ist so offen wie das Schicksal des Hessischen und der anderen deutschen Mundarten. Über hundert Jahre nach Fritz Mauthners Abgesang ist das aber mehr, als zu erhoffen war. WOLFGANG KRISCHKE
Lars Vorberger: "Hessisch". Vom Babbeln und Schnuddeln.
Dudenverlag, Berlin 2022. 128 S., Abb., geb., 12,- Euro.
Reinhard Goltz: "Plattdeutsch". Vom Klönen und Schnacken.
Dudenverlag, Berlin 2022. 128 S., Abb., geb., 12,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Krischke lässt sich vom Plattdütsch-Kenner Reinhard Goltz jargonfrei vertellen, wie sich das Altsächsische entwickelte, durch Lautverschiebungen aus "eten un slapen" "essen und schlafen" wurde und Platt- und Hochdeutsch einander befruchteten. Die ganze dialektale Vielfalt des Niederdeutschen wird für Krischke kenntlich und nicht zuletzt die Kultur- und Schriftsprache Platt, die der Autor anhand von Hörspielen, Theaterstücken und Erzählungen darstellt und erläutert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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