Zwischen Liebe, Aufbegehren und Punkrock: Eine Nahaufnahme von der Entstehung des modernen Sloweniens.Als bei einer politischen Kundgebung ein zögerlicher Konformist einer entschlossenen Rebellin auf die blauen Samtschuhe tritt, nimmt eine verzwickte Liebesgeschichte ihren Lauf. Die beiden gehen Eis essen, besuchen Punk-Konzerte und reden, reden, reden. Wortreich begleitet auch der Vater des jungen Mannes die Umwälzung der späten Achtzigerjahre. Mit skurrilen Seitengesprächen versucht er den Sohn auf die aufziehenden neuen Zeiten einzuschwören und Kapital daraus zu schlagen. Am Ende stehen die slowenische Unabhängigkeit und Ratlosigkeit.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anfang der 90er Jahre bricht Jugoslawien auseinander. Im neuen Slowenien erlebt ein junger Mann den Umbruch mit allen Ungewissheiten, die das Leben damals privat wie gesellschaftlich mit sich brachte, beschreibt Rezensent Tilman Spreckelsen den Hintergrund von Andrej Blatniks Roman. So schildert der Autor nicht nur die Revolutionsbestrebungen, von denen nicht immer klar ist, welchen Weg sie einschlagen werden, sondern auch die Beziehung des Erzählers zu seiner Freundin, die einen anderen, reicheren Familienhintergrund hat als er, lesen wir. Der Kritiker freut sich über die zugleich nüchterne und prägnante Sprache Blatniks, die ihm in den kurzen Kapiteln die Aufbruchs- und Umwälzungsenergie in der Liebe und im politischen Umschwung nahebringt. Die Lektüre empfiehlt er gern, damit nicht nur der Protagonist "für das Kommende gerüstet" ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2023Die ungespielten Gitarren
Revolution, und dann? In seinem Roman "Platz der Befreiung" zeichnet Andrej Blatnik ein Porträt seiner Generation
Ein leerer Platz, der sich urplötzlich füllt, eine Riesenbühne, die anfangs zu groß erscheint und dann gerade richtig für die vielen, die gekommen sind, ein Moment, der Menschen zusammenführt, die nicht mehr hinnehmen wollen, was sie täglich erleben. Sie protestieren auf dem zentralen Platz der slowenischen Stadt Ljubljana gegen den zerbröselnden jugoslawischen Staat Titos und seiner Nachfolger. Der Dichter Dane Zajc rezitiert "von der Bühne herab, dass die Raben im Dunkeln schreien, sie werden alle Vögel erschlagen, auch die unter der Schädeldecke". Die Menschen im Publikum, sagt der Erzähler in Andrej Blatniks Roman "Platz der Befreiung", gewohnt, von den Organen des Staats in beständiger Angst gehalten zu werden, lauschen aufmerksam den weithin bekannten Versen: "Mit jedem Wort von der Bühne bröckelte die Angst und wuchs die Entschlossenheit. Der Platz war voll. Unbekannte nickten einander zu: Wir sind auf dem richtigen Weg. Auf unserem Weg."
Wohin dieser Weg dann führt, weiß der Erzähler, der aus der Perspektive eines namenlosen Slowenen berichtet und ihn durch mehr als drei Jahrzehnte begleitet. Dieser anfangs junge Mann, ungefähr gleichaltrig mit dem 1963 geborenen Autor Blatnik, erlebt die Undergroundszene Ljubljanas in den Achtzigern, die Unabhängigkeit Sloweniens in den Neunzigern und den radikalen gesellschaftlichen Wandel seither. Er spielt Gitarre in einer Punkband und möchte Schriftsteller werden. Talent hat er, seine Texte sind gefragt, auch seine Literaturkritiken werden publiziert, aber so lausig bezahlt, dass er sein Auskommen schließlich als Werbetexter findet. Und während um ihn herum zahlreiche Slowenen verarmen, leistet er sich eine Eigentumswohnung auf Raten und eine Reihe von besseren Gitarren, die er dann kaum spielt und schließlich weiterverkauft. Als er irgendwann seine Jugendliebe wiedertrifft, verabschiedet sie sich von ihm mit den Worten: "Nimm ab." Dass sie auch diesen Satz "immer zugleich im wörtlichen und im übertragenen Sinn" meint, wie sie für sich in Anspruch nimmt, ist dem Leser ebenso klar wie dem ehemaligen Geliebten.
Blatnik erzählt diese Geschichte in knappen prägnanten Kapiteln, die grobe chronologische Ordnung bisweilen durch Rück- und Vorgriffe durchbrechend und voller kursiver Einschübe in den Dialogen, die das Ungesagte, das nur Gedachte ausdrücken. Die erste Begegnung des Paares, das sich den Roman über lieben, trennen, neu begegnen und vielleicht ein weiteres Mal zusammentun wird, findet am Rand einer Demonstration auf jenem oftmals umbenannten Platz in Ljubljana statt, der heute "Platz der Republik" heißt. Der junge Mann tritt der jungen Frau auf ihre blauen Wildlederschuhe, unverkennbar ein Elvis-Zitat, das der Autor erfreulicherweise nicht weiter kommentiert. Sie schimpft, er habe damit "das Symbol meiner Individualität und meines Glaubens an die persönliche Freiheit" beschädigt, er fragt zurück: "Glaubst du denn an die persönliche Freiheit?", womit ein Gespräch beginnt, das sich mit einigen Lücken im Grunde über den gesamten Roman zieht. Zuvor aber lesen wir die kursiv notierten Gedanken des jungen Mannes: "Will sie mich provozieren? Vermutlich gibt es in dieser Menge viele, die zum Schnüffeln gekommen sind, was jemand denkt. Zum Horchen, wie jemand redet."
Damit ist schon früh ein Ton angeschlagen, der weit in das Buch hineinklingt. Denn die Liebenden verhandeln das, was es zwischen ihnen zu besprechen gibt, gern in einer sachlichen, abstrakten Sprache voller soziologischer Termini. Zugleich ist beiden klar, dass sie sich nicht im luftleeren Raum begegnen, wo es nur sie beide gibt, und besonders der jeweilige gesellschaftliche Hintergrund spielt dabei eine Rolle.
Nicht in dem Sinn, dass der fast obszöne Reichtum der Eltern der jungen Frau, erworben unter dubiosen Bedingungen und, noch dubioser, über die Zeitenwende vom Sozialismus zum Kapitalismus hinübergerettet, zwischen ihnen stünde - der neue Freund ihrer Tochter ist dem Geschäftsmann und seiner gelangweilten Frau offensichtlich egal. Aber diese Herkunft spielt ihre Rolle in den Köpfen der beiden, und die große Wachsamkeit der jungen Frau, ihre Forderung nach permanenter Diskussionsbereitschaft des Freundes und ihre dauerironische Distanz stehen durchaus in Verbindung zu der Familie, aus der sie kommt.
Umgekehrt sind die Eltern ihres Freundes zwar massiv vom Verlust an Sicherheit und Status betroffen, der mit der Wende einhergeht, zugleich aber erlöst von der dauernden Angst, abgehört zu werden, deren Auswirkungen auf den Familiendiskurs Blatnik lustvoll beschreibt. Wenn die verhandelten Dinge etwas ernster werden, wenn es gar um Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Staatsgewalt geht, bedient sich der Vater seinem Sohn gegenüber einer Sprache voller wolkiger Andeutungen. Und wenn es gar nicht anders geht, nimmt er ihn wortlos mit in eine Umgebung, die er als abhörsicher einstuft - am Ende wird er selbst seinen bevorstehenden Tod mit großer Klarheit erwarten und zugleich dem Sohn gegenüber bis beinahe ganz zuletzt verschleiern.
An solchen Stellen, die das Private innerhalb der Familien zeigen, wird der Roman zum Generationenporträt, und indem er die Folgen des Umbruchs in Slowenien mit allem, was für das kleine Land spezifisch ist, in großer Deutlichkeit schildert, zeigt er Signifikantes auch anderer ehemals kommunistisch strukturierter Gesellschaften, die am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf das westliche Modell einschwenkten.
Umgekehrt sucht Blatnik nach den Folgen dieses Wechsels auf den jungen Mann, dessen individuellen Weg er schildert und die Rahmenbedingungen dafür skizziert - dasjenige also, was ihn, der nur selten larmoyant, aber oft genug voller Unbehagen ist, dazu befähigt, der früheren Geliebten als ein anderer gegenüberzutreten und dann noch einmal anders.
Auf die Füße wird er ihr nicht mehr treten, nicht wörtlich und vielleicht auch nicht mehr metaphorisch, so wie sie auch andere Wege gefunden hat als Ironie und Abstraktion, um ihn herauszufordern. Und so ist dieser Roman, der im Wissen um den Niedergang dennoch vor Aufbruchsstimmung bebt, die Erzählung einer Liebe und einer Jugend, die sich der Erzähler noch einmal vergegenwärtigt, um für das Kommende gerüstet zu sein. TILMAN SPRECKELSEN
Andrej Blatnik: "Platz der Befreiung". Roman.
Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Wien 2023. 253 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Revolution, und dann? In seinem Roman "Platz der Befreiung" zeichnet Andrej Blatnik ein Porträt seiner Generation
Ein leerer Platz, der sich urplötzlich füllt, eine Riesenbühne, die anfangs zu groß erscheint und dann gerade richtig für die vielen, die gekommen sind, ein Moment, der Menschen zusammenführt, die nicht mehr hinnehmen wollen, was sie täglich erleben. Sie protestieren auf dem zentralen Platz der slowenischen Stadt Ljubljana gegen den zerbröselnden jugoslawischen Staat Titos und seiner Nachfolger. Der Dichter Dane Zajc rezitiert "von der Bühne herab, dass die Raben im Dunkeln schreien, sie werden alle Vögel erschlagen, auch die unter der Schädeldecke". Die Menschen im Publikum, sagt der Erzähler in Andrej Blatniks Roman "Platz der Befreiung", gewohnt, von den Organen des Staats in beständiger Angst gehalten zu werden, lauschen aufmerksam den weithin bekannten Versen: "Mit jedem Wort von der Bühne bröckelte die Angst und wuchs die Entschlossenheit. Der Platz war voll. Unbekannte nickten einander zu: Wir sind auf dem richtigen Weg. Auf unserem Weg."
Wohin dieser Weg dann führt, weiß der Erzähler, der aus der Perspektive eines namenlosen Slowenen berichtet und ihn durch mehr als drei Jahrzehnte begleitet. Dieser anfangs junge Mann, ungefähr gleichaltrig mit dem 1963 geborenen Autor Blatnik, erlebt die Undergroundszene Ljubljanas in den Achtzigern, die Unabhängigkeit Sloweniens in den Neunzigern und den radikalen gesellschaftlichen Wandel seither. Er spielt Gitarre in einer Punkband und möchte Schriftsteller werden. Talent hat er, seine Texte sind gefragt, auch seine Literaturkritiken werden publiziert, aber so lausig bezahlt, dass er sein Auskommen schließlich als Werbetexter findet. Und während um ihn herum zahlreiche Slowenen verarmen, leistet er sich eine Eigentumswohnung auf Raten und eine Reihe von besseren Gitarren, die er dann kaum spielt und schließlich weiterverkauft. Als er irgendwann seine Jugendliebe wiedertrifft, verabschiedet sie sich von ihm mit den Worten: "Nimm ab." Dass sie auch diesen Satz "immer zugleich im wörtlichen und im übertragenen Sinn" meint, wie sie für sich in Anspruch nimmt, ist dem Leser ebenso klar wie dem ehemaligen Geliebten.
Blatnik erzählt diese Geschichte in knappen prägnanten Kapiteln, die grobe chronologische Ordnung bisweilen durch Rück- und Vorgriffe durchbrechend und voller kursiver Einschübe in den Dialogen, die das Ungesagte, das nur Gedachte ausdrücken. Die erste Begegnung des Paares, das sich den Roman über lieben, trennen, neu begegnen und vielleicht ein weiteres Mal zusammentun wird, findet am Rand einer Demonstration auf jenem oftmals umbenannten Platz in Ljubljana statt, der heute "Platz der Republik" heißt. Der junge Mann tritt der jungen Frau auf ihre blauen Wildlederschuhe, unverkennbar ein Elvis-Zitat, das der Autor erfreulicherweise nicht weiter kommentiert. Sie schimpft, er habe damit "das Symbol meiner Individualität und meines Glaubens an die persönliche Freiheit" beschädigt, er fragt zurück: "Glaubst du denn an die persönliche Freiheit?", womit ein Gespräch beginnt, das sich mit einigen Lücken im Grunde über den gesamten Roman zieht. Zuvor aber lesen wir die kursiv notierten Gedanken des jungen Mannes: "Will sie mich provozieren? Vermutlich gibt es in dieser Menge viele, die zum Schnüffeln gekommen sind, was jemand denkt. Zum Horchen, wie jemand redet."
Damit ist schon früh ein Ton angeschlagen, der weit in das Buch hineinklingt. Denn die Liebenden verhandeln das, was es zwischen ihnen zu besprechen gibt, gern in einer sachlichen, abstrakten Sprache voller soziologischer Termini. Zugleich ist beiden klar, dass sie sich nicht im luftleeren Raum begegnen, wo es nur sie beide gibt, und besonders der jeweilige gesellschaftliche Hintergrund spielt dabei eine Rolle.
Nicht in dem Sinn, dass der fast obszöne Reichtum der Eltern der jungen Frau, erworben unter dubiosen Bedingungen und, noch dubioser, über die Zeitenwende vom Sozialismus zum Kapitalismus hinübergerettet, zwischen ihnen stünde - der neue Freund ihrer Tochter ist dem Geschäftsmann und seiner gelangweilten Frau offensichtlich egal. Aber diese Herkunft spielt ihre Rolle in den Köpfen der beiden, und die große Wachsamkeit der jungen Frau, ihre Forderung nach permanenter Diskussionsbereitschaft des Freundes und ihre dauerironische Distanz stehen durchaus in Verbindung zu der Familie, aus der sie kommt.
Umgekehrt sind die Eltern ihres Freundes zwar massiv vom Verlust an Sicherheit und Status betroffen, der mit der Wende einhergeht, zugleich aber erlöst von der dauernden Angst, abgehört zu werden, deren Auswirkungen auf den Familiendiskurs Blatnik lustvoll beschreibt. Wenn die verhandelten Dinge etwas ernster werden, wenn es gar um Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Staatsgewalt geht, bedient sich der Vater seinem Sohn gegenüber einer Sprache voller wolkiger Andeutungen. Und wenn es gar nicht anders geht, nimmt er ihn wortlos mit in eine Umgebung, die er als abhörsicher einstuft - am Ende wird er selbst seinen bevorstehenden Tod mit großer Klarheit erwarten und zugleich dem Sohn gegenüber bis beinahe ganz zuletzt verschleiern.
An solchen Stellen, die das Private innerhalb der Familien zeigen, wird der Roman zum Generationenporträt, und indem er die Folgen des Umbruchs in Slowenien mit allem, was für das kleine Land spezifisch ist, in großer Deutlichkeit schildert, zeigt er Signifikantes auch anderer ehemals kommunistisch strukturierter Gesellschaften, die am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf das westliche Modell einschwenkten.
Umgekehrt sucht Blatnik nach den Folgen dieses Wechsels auf den jungen Mann, dessen individuellen Weg er schildert und die Rahmenbedingungen dafür skizziert - dasjenige also, was ihn, der nur selten larmoyant, aber oft genug voller Unbehagen ist, dazu befähigt, der früheren Geliebten als ein anderer gegenüberzutreten und dann noch einmal anders.
Auf die Füße wird er ihr nicht mehr treten, nicht wörtlich und vielleicht auch nicht mehr metaphorisch, so wie sie auch andere Wege gefunden hat als Ironie und Abstraktion, um ihn herauszufordern. Und so ist dieser Roman, der im Wissen um den Niedergang dennoch vor Aufbruchsstimmung bebt, die Erzählung einer Liebe und einer Jugend, die sich der Erzähler noch einmal vergegenwärtigt, um für das Kommende gerüstet zu sein. TILMAN SPRECKELSEN
Andrej Blatnik: "Platz der Befreiung". Roman.
Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Wien 2023. 253 S., geb., 25,- Euro.
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