»Play yourself!« - »Spiel dich selbst!« So lautete die Standardantwort schwarzer Musiker auf die Frage, wie man ein guter Jazzer werden könne. In der Improvisation Persönlichkeit ausbilden und zeigen - das könnte auch das Motto für die Entwicklung des Jazz in Deutschland sein. Denn es gelang der deutschen Szene, die afro-amerikanische Musiktradition aufzunehmen und eine eigene Spielart zu finden. Wolfram Knauer zeichnet diesen Weg von den Anfängen nach dem Ersten Weltkrieg bis heute nach. Er taucht ein in das Berlin der 1920er, zeigt die Zurückdrängung von Swing und Jazz durch den Nationalsozialismus ebenso wie den Aufbruch im Nachkriegs-Frankfurt und den musikalischen Austausch mit den GIs, er beleuchtet die Szene in der DDR und illustriert die Umtriebigkeit der heutigen Jazz-Community. Knauers Buch basiert auf jahrzehntelanger Recherche und Leidenschaft - und es ist eine zum Standardwerk taugende Bestandsaufnahme des wohl vielfältigsten aller musikalischen Genres.Alle Facetten des deutschen Jazz:Vom Ballsaal Femina und dem Berlin der 1920er über Albert Mangelsdorff, Wolfgang Dauner, Karl Walter und die Jazz-Szene der DDR bis zu Christof Thewes, Michael Wollny und Anna-Lena Schnabel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Tiger Rag im Hot Club
Bis die Synkopen in Fleisch und Blut übergehen: Wolfram Knauer legt eine rundum überzeugende Geschichte des Jazz in Deutschland vor.
Von Wolfgang Sandner
Wolfram Knauer sitzt an der Quelle. Und auf einem Berg von Dokumenten. Das hat ihm einen beträchtlichen Standortvorteil bei der Bewältigung einer monströsen Aufgabe verschafft, der er sich mit der vorliegenden Publikation gestellt und souverän entledigt hat. Seit der Gründung im Jahr 1990 ist Knauer Leiter des Jazzinstituts in Darmstadt, Europas größtem öffentlichen Jazzarchiv mit einem einschüchternden Präsenzbestand von Fachliteratur und Tonträgern sowie einer immensen Sammlung aller möglichen Informationen über das weltweite Jazzgeschehen in Vergangenheit und Gegenwart. Von wem, wenn nicht von ihm, hätte man erwarten können, dass er eine empfindliche Lücke in der publizistischen Auseinandersetzung mit dem Jazz hierzulande schließt, zumal er mit Biographien von Louis Armstrong, Charlie Parker und Duke Ellington schon viel beachtete Bücher veröffentlicht hat.
Eine umfassende Geschichte des Jazz in Deutschland hat es bisher nicht gegeben, sieht man von Horst H. Langes deutscher Jazz-Chronik ab, die im Jahr 1960 endet. Das hat mit der lange Zeit prekären Quellenlage zu tun und nicht zuletzt mit der generellen Vernachlässigung des Jazz als Gegenstand der Musikwissenschaft; erst in den siebziger Jahren setzte eine angemessene Beschäftigung mit dem Jazz an deutschen Universitäten ein. Im Übrigen wirkte auch auf diesem musikalischen Terrain die deutsche Teilung retardierend und zeigte, dass es in der Praxis historiographischer Arbeit eben nicht nur eine oder gar "die" Geschichte gibt, vielmehr eine westdeutsche, eine ostdeutsche und eine gesamtdeutsche, von der Jazzgeschichte unter der Tarnkappe im Dritten Reich ganz zu schweigen.
Die Anfänge des Jazz verlieren sich im Obskuren des neunzehnten Jahrhunderts. Wie könnte es anders sein bei einer Musik, die sich aus unterschiedlichsten volkstümlich-populären Quellen europäischer Provenienz, afrikanischen Klangritualen und afroamerikanischen Mischformen von beidem entwickelte, vorwiegend oral tradiert wurde und der Sphäre des amerikanischen Entertainments entstammt. In den Anfangsjahren und noch weit darüber hinaus schien der Jazz kaum kompatibel mit dem zu sein, was man ebenso pauschal wie hierarchisch abgrenzend als klassische Musik bezeichnete. Richard Crawford plädiert in seinem opulenten Standardwerk unter dem Titel "America's Musical Life: A History" deshalb auch für eine andere kategoriale Unterscheidung, ohne ästhetisches Naserümpfen: zwischen "composers' music" und "performers' music", wobei erstere sich dadurch auszeichnet, dass sie Zeit und Ort ihrer Entstehung transzendiert, während die zweite ihre oft rudimentären kompositorischen Vorlagen den jeweiligen Gegebenheiten anpasst, auf unmittelbare Wirkung bei hörendem Mitvollzug setzt.
Eine solche "Interpretenmusik" beschreiben und in einen historischen wie gesellschaftlichen Kontext stellen zu können setzt - neben Sinn für Fakten und ihre Bewertung - Einfühlungsvermögen in Gestik und soziale Haltung von Musikern wie in deren oft nicht schriftlich fixierte, nur klanglich sich manifestierende Kunst voraus. Wolfram Knauers Geschichte des Jazz in Deutschland ist in wesentlichen Teilen eben dieser individuellen Interpretenmusik gewidmet und bietet auf beeindruckende Weise beides: Sie verknüpft Tatsachen und Ereignisse, klärt ihre Bedeutung, vernachlässigt aber an keiner Stelle der Zusammenschau musikalische Eigenheiten, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Instrumentalisten, Sänger und Mythenerzähler formuliert haben. Die Geschichte des Jazz war immer die Geschichte ihrer Interpreten. Darauf bezieht sich der von schwarzen Jazzmusikern entlehnte Buchtitel: Spiel dich selbst! Gefordert ist individueller Ausdruck, gemeint ist Emanzipation.
Knauer beginnt seine Geschichte im deutschen Kaiserreich, das unverdächtig ist, eine Musik, die damals noch nicht einmal in Amerika einen Namen hatte, mit offenen Ohren zu empfangen. Aber die Fisk Jubilee Singers hatten schon in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ihre Negro Spirituals als Vorboten einer aufregend neuen Musik nach Europa gebracht. Und sie waren nicht die einzigen schwarzen Künstler, die man in Deutschland um die Jahrhundertwende erleben konnte. Auf Varieté- und Konzertbühnen traten etwa im Jahre 1896 mehr als hundert schwarze Sänger, Musiker, Stepptänzer zu entsprechenden Klängen und Rhythmen auf. Im Übrigen hat die Schallplattenindustrie in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zahllose Aufnahmen schwarzer Künstler herausgebracht und eine Ahnung von dem neuen Unterhaltungsgenre vermittelt; auch wenn dabei die Grenze zwischen Ragtime und europäischer Salonmusik fließend war oder die von Arabella Fields, der "schwarzen Nachtigall", 1907 in Berlin aufgenommenen "Negerlieder" mehr der Operettensphäre zuzurechnen sind.
Akribisch zeichnet Knauer den allmählichen Wandel von einer exotisch gefärbten Unterhaltungsmusik zu einer Klangsprache nach, die etwa bei dem Klarinettisten Eric Borchard in seinen Aufnahmen aus dem Jahr 1924 bereits den "Geist des Jazz" spüren lässt. Borchard hatte sich nicht auf das Notenbild verlassen, sondern seinen Musikern amerikanische Platten zu hören empfohlen, "damit ihnen in Fleisch und Blut übergeht, was Synkopen wirklich bedeuten". Die Begeisterung für Jazz und all seine populären Derivate in den Goldenen Zwanzigern bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 wurde allerdings nicht einhellig geteilt. Knauer zitiert Klaus Mann: "Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag verführt Kapriolen."
Wirkliche Kapriolen vollführte der Reichstag wenig später, was nicht ohne Folgen auch für den Jazz geblieben ist, der als "entartete Kunst" eingestuft wurde und dennoch Überlebensstrategien entwickelte, beispielsweise bei den Swing-Heinis in Hamburg oder dem Hot Club in Frankfurt. In zentralen Kapiteln schildert Knauer, wie sich der Jazz in dieser dunklen Zeit entwickelte, zwar strikter Repression unterlag, aber dann wieder zu "Wehrbetreuungszwecken" und als Propagandamittel während der Olympischen Spiele 1936 oder in den Lagerkapellen als Vorzeigeprojekte genutzt wurde. Ähnlich aufschlussreich sind auch die ausführlichen Passagen, die sich mit dem Jazz in der DDR beschäftigen, wo er von oben je nach Opportunität, als kapitalistisch dekadent apostrophiert oder - am Beispiel der Spirituals eines Paul Robeson - zum anklagenden Ausdruck einer in Amerika diskriminierten Bevölkerung stilisiert wird.
Knauer hat alles im Blick und im Ohr: die kulturelle Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg und die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit über eine rebellisch sich mit Jazzmusik emanzipierende Jugend, die Aneignung des Jazz auf dem alten Kontinent zwischen Imitation, Assimilation und Innovation, die ästhetischen Grabenkämpfe zwischen Jazz und Rock in den sechziger Jahren und die Loslösung des Jazz vom amerikanischen Vorbild, spätestens seitdem ein Albert Mangelsdorff die Multiphonics für sich entdeckte und Keith Jarrett seine Aufnahmen lieber von dem Münchner Schallplattenlabel ECM vertreiben lassen wollte. Knauer scheut sich auch nicht, am Beispiel von Wynton Marsalis oder Till Brönner Stellung zu beziehen in der ewigen Konfrontation zwischen Avantgarde und kommerziellem Erfolg. Auf viele Musiker und ihre Projekte richtet sich der Fokus direkt - für alle, die es ganz genau wissen wollen.
Dafür, dass sie es auch verstehen, sorgt eine schon bei früherer Gelegenheit festgestellte Fähigkeit des Autors, Jazzchinesisch zu meiden, ohne die Kenner zu verprellen. Das letzte Kapitel trägt die verheißungsvolle Überschrift "Auf ins 21. Jahrhundert" und bietet ein detailliert belegtes Fazit: Die Jazzszene Deutschlands ist heute eine der aufregendsten weltweit. Und sie wird internationaler, diverser, weiblicher. Und queer, sagt Knauer. Man sollte es mit "merkwürdig" im buchstäblichen Sinne des Wortes übersetzen, was auch für dieses Buch gilt: des Lesens und des sich Merkens würdig. Es wird sich in die Standardliteratur zum Jazz einreihen.
Wolfram Knauer: "Play yourself, man!" Die Geschichte des Jazz in Deutschland.
Reclam Verlag, Ditzingen 2019. 528 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bis die Synkopen in Fleisch und Blut übergehen: Wolfram Knauer legt eine rundum überzeugende Geschichte des Jazz in Deutschland vor.
Von Wolfgang Sandner
Wolfram Knauer sitzt an der Quelle. Und auf einem Berg von Dokumenten. Das hat ihm einen beträchtlichen Standortvorteil bei der Bewältigung einer monströsen Aufgabe verschafft, der er sich mit der vorliegenden Publikation gestellt und souverän entledigt hat. Seit der Gründung im Jahr 1990 ist Knauer Leiter des Jazzinstituts in Darmstadt, Europas größtem öffentlichen Jazzarchiv mit einem einschüchternden Präsenzbestand von Fachliteratur und Tonträgern sowie einer immensen Sammlung aller möglichen Informationen über das weltweite Jazzgeschehen in Vergangenheit und Gegenwart. Von wem, wenn nicht von ihm, hätte man erwarten können, dass er eine empfindliche Lücke in der publizistischen Auseinandersetzung mit dem Jazz hierzulande schließt, zumal er mit Biographien von Louis Armstrong, Charlie Parker und Duke Ellington schon viel beachtete Bücher veröffentlicht hat.
Eine umfassende Geschichte des Jazz in Deutschland hat es bisher nicht gegeben, sieht man von Horst H. Langes deutscher Jazz-Chronik ab, die im Jahr 1960 endet. Das hat mit der lange Zeit prekären Quellenlage zu tun und nicht zuletzt mit der generellen Vernachlässigung des Jazz als Gegenstand der Musikwissenschaft; erst in den siebziger Jahren setzte eine angemessene Beschäftigung mit dem Jazz an deutschen Universitäten ein. Im Übrigen wirkte auch auf diesem musikalischen Terrain die deutsche Teilung retardierend und zeigte, dass es in der Praxis historiographischer Arbeit eben nicht nur eine oder gar "die" Geschichte gibt, vielmehr eine westdeutsche, eine ostdeutsche und eine gesamtdeutsche, von der Jazzgeschichte unter der Tarnkappe im Dritten Reich ganz zu schweigen.
Die Anfänge des Jazz verlieren sich im Obskuren des neunzehnten Jahrhunderts. Wie könnte es anders sein bei einer Musik, die sich aus unterschiedlichsten volkstümlich-populären Quellen europäischer Provenienz, afrikanischen Klangritualen und afroamerikanischen Mischformen von beidem entwickelte, vorwiegend oral tradiert wurde und der Sphäre des amerikanischen Entertainments entstammt. In den Anfangsjahren und noch weit darüber hinaus schien der Jazz kaum kompatibel mit dem zu sein, was man ebenso pauschal wie hierarchisch abgrenzend als klassische Musik bezeichnete. Richard Crawford plädiert in seinem opulenten Standardwerk unter dem Titel "America's Musical Life: A History" deshalb auch für eine andere kategoriale Unterscheidung, ohne ästhetisches Naserümpfen: zwischen "composers' music" und "performers' music", wobei erstere sich dadurch auszeichnet, dass sie Zeit und Ort ihrer Entstehung transzendiert, während die zweite ihre oft rudimentären kompositorischen Vorlagen den jeweiligen Gegebenheiten anpasst, auf unmittelbare Wirkung bei hörendem Mitvollzug setzt.
Eine solche "Interpretenmusik" beschreiben und in einen historischen wie gesellschaftlichen Kontext stellen zu können setzt - neben Sinn für Fakten und ihre Bewertung - Einfühlungsvermögen in Gestik und soziale Haltung von Musikern wie in deren oft nicht schriftlich fixierte, nur klanglich sich manifestierende Kunst voraus. Wolfram Knauers Geschichte des Jazz in Deutschland ist in wesentlichen Teilen eben dieser individuellen Interpretenmusik gewidmet und bietet auf beeindruckende Weise beides: Sie verknüpft Tatsachen und Ereignisse, klärt ihre Bedeutung, vernachlässigt aber an keiner Stelle der Zusammenschau musikalische Eigenheiten, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Instrumentalisten, Sänger und Mythenerzähler formuliert haben. Die Geschichte des Jazz war immer die Geschichte ihrer Interpreten. Darauf bezieht sich der von schwarzen Jazzmusikern entlehnte Buchtitel: Spiel dich selbst! Gefordert ist individueller Ausdruck, gemeint ist Emanzipation.
Knauer beginnt seine Geschichte im deutschen Kaiserreich, das unverdächtig ist, eine Musik, die damals noch nicht einmal in Amerika einen Namen hatte, mit offenen Ohren zu empfangen. Aber die Fisk Jubilee Singers hatten schon in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ihre Negro Spirituals als Vorboten einer aufregend neuen Musik nach Europa gebracht. Und sie waren nicht die einzigen schwarzen Künstler, die man in Deutschland um die Jahrhundertwende erleben konnte. Auf Varieté- und Konzertbühnen traten etwa im Jahre 1896 mehr als hundert schwarze Sänger, Musiker, Stepptänzer zu entsprechenden Klängen und Rhythmen auf. Im Übrigen hat die Schallplattenindustrie in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zahllose Aufnahmen schwarzer Künstler herausgebracht und eine Ahnung von dem neuen Unterhaltungsgenre vermittelt; auch wenn dabei die Grenze zwischen Ragtime und europäischer Salonmusik fließend war oder die von Arabella Fields, der "schwarzen Nachtigall", 1907 in Berlin aufgenommenen "Negerlieder" mehr der Operettensphäre zuzurechnen sind.
Akribisch zeichnet Knauer den allmählichen Wandel von einer exotisch gefärbten Unterhaltungsmusik zu einer Klangsprache nach, die etwa bei dem Klarinettisten Eric Borchard in seinen Aufnahmen aus dem Jahr 1924 bereits den "Geist des Jazz" spüren lässt. Borchard hatte sich nicht auf das Notenbild verlassen, sondern seinen Musikern amerikanische Platten zu hören empfohlen, "damit ihnen in Fleisch und Blut übergeht, was Synkopen wirklich bedeuten". Die Begeisterung für Jazz und all seine populären Derivate in den Goldenen Zwanzigern bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 wurde allerdings nicht einhellig geteilt. Knauer zitiert Klaus Mann: "Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag verführt Kapriolen."
Wirkliche Kapriolen vollführte der Reichstag wenig später, was nicht ohne Folgen auch für den Jazz geblieben ist, der als "entartete Kunst" eingestuft wurde und dennoch Überlebensstrategien entwickelte, beispielsweise bei den Swing-Heinis in Hamburg oder dem Hot Club in Frankfurt. In zentralen Kapiteln schildert Knauer, wie sich der Jazz in dieser dunklen Zeit entwickelte, zwar strikter Repression unterlag, aber dann wieder zu "Wehrbetreuungszwecken" und als Propagandamittel während der Olympischen Spiele 1936 oder in den Lagerkapellen als Vorzeigeprojekte genutzt wurde. Ähnlich aufschlussreich sind auch die ausführlichen Passagen, die sich mit dem Jazz in der DDR beschäftigen, wo er von oben je nach Opportunität, als kapitalistisch dekadent apostrophiert oder - am Beispiel der Spirituals eines Paul Robeson - zum anklagenden Ausdruck einer in Amerika diskriminierten Bevölkerung stilisiert wird.
Knauer hat alles im Blick und im Ohr: die kulturelle Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg und die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit über eine rebellisch sich mit Jazzmusik emanzipierende Jugend, die Aneignung des Jazz auf dem alten Kontinent zwischen Imitation, Assimilation und Innovation, die ästhetischen Grabenkämpfe zwischen Jazz und Rock in den sechziger Jahren und die Loslösung des Jazz vom amerikanischen Vorbild, spätestens seitdem ein Albert Mangelsdorff die Multiphonics für sich entdeckte und Keith Jarrett seine Aufnahmen lieber von dem Münchner Schallplattenlabel ECM vertreiben lassen wollte. Knauer scheut sich auch nicht, am Beispiel von Wynton Marsalis oder Till Brönner Stellung zu beziehen in der ewigen Konfrontation zwischen Avantgarde und kommerziellem Erfolg. Auf viele Musiker und ihre Projekte richtet sich der Fokus direkt - für alle, die es ganz genau wissen wollen.
Dafür, dass sie es auch verstehen, sorgt eine schon bei früherer Gelegenheit festgestellte Fähigkeit des Autors, Jazzchinesisch zu meiden, ohne die Kenner zu verprellen. Das letzte Kapitel trägt die verheißungsvolle Überschrift "Auf ins 21. Jahrhundert" und bietet ein detailliert belegtes Fazit: Die Jazzszene Deutschlands ist heute eine der aufregendsten weltweit. Und sie wird internationaler, diverser, weiblicher. Und queer, sagt Knauer. Man sollte es mit "merkwürdig" im buchstäblichen Sinne des Wortes übersetzen, was auch für dieses Buch gilt: des Lesens und des sich Merkens würdig. Es wird sich in die Standardliteratur zum Jazz einreihen.
Wolfram Knauer: "Play yourself, man!" Die Geschichte des Jazz in Deutschland.
Reclam Verlag, Ditzingen 2019. 528 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
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»Eine rundum überzeugende Geschichte des Jazz in Deutschland [...] des Lesens und des sich Merkens würdig« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2019 »Überreich an Wissen, akribisch genau und geschmackssicher, dabei stets begeistert und begeisternd.« Deutschlandfunk, Sendung »JazzFacts«, 03.10.2019 »Umfassendste Bestandsaufnahme des Jazz in Deutschland, schlagend aktuell und absolut empfehlenswert« NDR Info, Sendung »Play Jazz!«, 01.10.2019 »Nach hundert Jahren ist der Jazz aus dem kulturellen Leben der Bundesrepublik nicht mehr wegzudenken. Knauer macht das mit seinem kenntnisreichen und flüssig geschriebenen Buch, das das Zeug zum Standardwerk hat, unmissverständlich klar.« Neue Zürcher Zeitung, 25.10.2019 »Die Verbindungen zwischen Stil-Analysen der Musik mit der historischen Erzählung sind frappierend gut gelungen und fügen sich zu einer exemplarischen Kulturgeschichte und einem anregenden Lesestoff.« Frankfurter Rundschau, 30.10.2019 »Knauer versteht es, von einer lebendigen Musik lebendig zu erzählen.« DIE ZEIT, 21.11.2019 »Ein Standardwerk, das in die Bibliothek eines jeden Jazzfans gehört.« RONDO, 6/2019 »Noch nie wurde die Geschichte des Jazz in Deutschland so fakten- und facettenreich erzählt. [...] Jetzt schon ein Standardwerk« BR Klassik, 19.12.2019 »Lesenswert« Jazz thing & blue rhythm, 11/2019-01/2020 »Ein Nachschlagewerk und zugleich ein Lesevergnügen« mdr Kultur, 16. Januar 2020 »Ein kenntnisreiches Buch mit vielen Überraschungen.« Deutschlandfunk, 09.03.2020 »Ein Buch, das Standards setzt in der umfassenden Betrachtung wie auch in der Art der Darstellung. Ein Nachschlagewerk und zugleich ein Lesevergnügen.« SWR2, Sendung »NOWJazz«, 09.01.2020