Ohne Unterlass durchstreift Englebert Munyambonwa, ein sechsundsechzig-jähriger Tutsi, die Straßen und Kneipen von Nyamata im Süden Ruandas - stets einen Witz auf den Lippen, ständig in Bewegung. Im Gehen weiche er der Schwarzseherei aus, sagt er. Er wolle sich nicht mehr erinnern.Doch nach ein paar Bier und aus Freundschaft zu dem französischen Journalisten, mit dem er so gern plaudert, beginnt Englebert zu erzählen: von einem Leben voller Brüche und Neuanfänge, von den ersten Verfolgungen durch Hutu in den sechziger Jahren und von den Hoffnungen junger afrikanischer Intellektueller. Immer wieder flammt der Hass zwischen Hutu und Tutsi auf und treibt Englebert mit seiner Familie zur Flucht. Und immer wieder kehren sie zurück - bis zum Massaker von Nyamata, bei dem 1994 mehr als 45.000 Menschen niedergemetzelt werden. Englebert überlebt in den Sümpfen, vier Wochen lang, jeden Tag aufs Neue bedroht.Kaum jemand hat sich der Aufarbeitung des Genozids in Ruanda derart verschrieben wie der französische Journalist und Romancier Jean Hatzfeld. Bei seinen Recherchen in Nyamata lernte Hatzfeld auch Englebert kennen. Nun leiht er ihm seine Stimme - für das so beeindruckende wie bedrückende Porträt eines Lebens und der ausweglosen Flucht vor der Erinnerung.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Cornelius Wüllenkemper liest Jean Hatzfelds Bericht über den Genozid an den Tutis in Ruanda im Sommer 1994 mit Grauen. Was dort vor sich ging, meint er, entzieht sich der menschlichen Vorstellungskraft. Umso willkommener scheint ihm Hatzfelds Versuch, mittels der Erinnerung eines Überlebenden und Ausflügen in die Vorgeschichte ein verdichtetes Bild des Geschehens und einen Blick auf die Veränderung des Einzelnen unter dem Eindruck kollektiver Gewalterfahrung zu werfen. Angst und Verdrängung werden für Wüllenkemper im unkommentierten Zeugenbericht sichtbar, der für ihn zum Besten des Buches gehört. Wucht aber entfaltet auch dessen Montage mit Hatzfelds Erkundungen, meint der Rezensent, der Frage etwa, wie man über menschliche Tragödien spricht und wie man mit ihnen weiterlebt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Das Gespenst des Genozids irrt durchs Dorf
Beim Völkermord in Ruanda habe der Journalismus versagt, glaubt der französische Kriegsreporter Jean Hatzfeld. Deshalb schreibt er jetzt Bücher und Erzählungen über seine Begegnungen mit Tätern, Opfern und deren Kindern.
Als Jean Hatzfeld Ende Juli 1994 in Ruanda eintraf, fielen ihm zuerst die Menschenmassen auf, die in endlosen Kolonnen mit ihrer Habe auf den Schultern durch die Straßen zogen. Die Landschaften waren zerstört, die Häuser abgebrannt. "Alle hatten Angst: die Hutus vor den Strafen, die Tutsis, dass es wieder losgeht." Hatzfeld beobachtete die Blauhelme und die französischen Soldaten. Die Helfer der humanitären Organisationen und die Milizen mit ihren Macheten. "Und ich sah die verstümmelten Leichen, die überall herumlagen." So erzählt er es heute im Gespräch.
Vom Genozid hatte der 1949 geborene französische Kriegsreporter erst im Nachhinein Kenntnis genommen. Er war für die Tageszeitung "Libération" in Bosnien, wo er 1992 durch Schüsse aus einer Kalaschnikow lebensgefährlich verletzt wurde. Im Juni 1994 verließ er Sarajevo, um in Amerika über die Fußballweltmeisterschaft zu schreiben - Hatzfeld hatte bei der von Jean-Paul Sartre mitbegründeten Zeitung den Sportteil aufgebaut. Im amerikanischen Fernsehen sah er dann die ersten Bilder aus Ruanda. Nach der WM fuhr er für zwei Monate dorthin. In seinen Artikeln beschrieb Hatzfeld das Chaos und den Exodus von zwei Millionen Hutus in den Kongo. Zwei Drittel der Bevölkerung waren Frauen.
Erst zu Hause, in Paris, wurde Hatzfeld bewusst, dass er sich "total getäuscht" hatte: "In meinen Reportagen fehlten die Tutsis. Wir hatten manchmal den einen oder anderen gesehen. Doch in den Artikeln kamen sie nicht vor." Das "Versagen des Journalismus" hatte nichts mit dem "Schweigen der Überlebenden" zu tun. "Eine Tutsi sagte mir später: Die Reporter aus der ganzen Welt gingen an unseren Türen vorbei und klopften nicht an."
1998 reiste Hatzfeld wieder nach Ruanda. Wie er vorgehen würde, war ihm nicht klar: "Ich wusste nur, mit den Mitteln des Journalismus war das nicht möglich." Von "Libération" ließ er sich beurlauben, zunächst für ein Jahr. In Nyamata, wo 50 000 der 59 000 ansässigen Tutsis mit Macheten gemeuchelt worden waren, lebte er unter den Einheimischen. Seine ersten Gesprächspartner waren Bäuerinnen, die Intellektuellen misstrauten ihm. Die Überlebenden hatten sich während der Massaker in den Sümpfen versteckt, wie gejagte Tiere lebten sie, nackt, verdreckt, voller Ungeziefer. Eine von ihnen sprach erst von sechs Monaten und dann von sechs Stunden. Die Zeit war aufgehoben. Hatzfeld merkte, dass "die Lügen so wichtig waren wie die Wahrheit".
Er sprach Französisch, für die Interviews in der Landessprache Kinyarwanda zog er einen Übersetzer bei. Er schwärmt von den Umschreibungen, Gleichnissen, Bildern, Fabeln und dem blumigen Stil der Schilderungen, die seinen Protokollen einen literarischen Charakter vermitteln: "Ohne diese Schönheit der Sprache hätte ich bald wieder aufgehört." 2000 erschien sein Bericht "Nichts als das nackte Leben".
Damit hielt Hatzfeld das Thema für ausgeschöpft. Bei Lesungen und Interviews wurde er immer wieder nach den Tätern gefragt, "die mehr faszinieren als die Opfer". Die Mörder saßen inzwischen in Rilima im Gefängnis. Eher zufällig eröffnete ihm ein Lehrer, bei dem einige von ihnen in die Schule gegangen waren, einen Zugang zu ihnen. Zwei Jahre lang hatten sie in Flüchtlingslagern im Kongo gelebt, "stets unter sich", anderen Einflüssen als ihren eigenen Überzeugungen waren sie nie ausgesetzt. Keiner glaubte, dass er jemals wieder die Freiheit erlangen würde. Sie hatten nichts zu verlieren. Die Gespräche mit dem Schriftsteller waren eine Abwechslung und mit ein paar Privilegien - eine Flasche Bier, ein bisschen frische Luft - verbunden.
Zur Vorbereitung hatte Hatzfeld Christopher Brownings Buch über die Einsatzgruppen der deutschen Polizei im Zweiten Weltkrieg gelesen. Aus Bosnien, Algerien, Tschetschenien wusste er, dass die Verbrechen bei den Tätern Spuren hinterlassen: Sie wurden Alkoholiker, Extremisten, wahnsinnig. Die Hutus aber waren von jedem Schuldgefühl verschont geblieben: "Keiner berichtete je von einem Albtraum. Nie kam es zu einem Selbstmordversuch. Sie bedauerten, die Arbeit nicht vollendet zu haben. Sie beklagten den Verlust ihres Besitzes. Dass sie ihren Familien geschadet haben." Sie fühlten sich unschuldig, als zu Unrecht verurteilte "Rädchen einer Maschine, auf die sie keinen Einfluss hatten". Doch es war wie bei den Einsatzgruppen: Wer sich dem Morden verweigerte, wurde keineswegs selbst umgebracht. Kneifende Hutus mussten am Abend eine Kiste Bier spendieren.
Ein weiteres Buch wollte Hatzfeld gar nicht mehr schreiben. Doch dann kam 2003 eine Amnestie, Zehntausende von Gefangenen wurden in die Freiheit entlassen: "Das konnte ich mir nicht entgehen lassen." Er wartete am Ausgang des Gefängnisses und begleitete die Freigelassenen zu ihren Familien. Sein Buch darüber, "Die Strategie der Antilopen", handelt von der "Animalisierung" auch "eher sympathischer" Täter.
Dieses Werk zeichnet das Porträt einer Generation, die nach dem Staatsstreich von Juvénal Habyarimana 1973 in Ruanda zwanzig Jahre lang der Hass-Propaganda der Hutu-Ideologen ausgesetzt und an der zunehmenden Diskriminierung der Tutsis beteiligt war. Diese wurden aus Armee, Universität und anderen Institutionen ausgeschlossen. Es kam zu Pogromen und ersten Massakern, die ungestraft blieben. Die deutschen Kolonisatoren hatten die Tutsis als "schwarze Arier" bezeichnet, die Belgier stützten sich während ihrer Herrschaft auf sie. Angesichts der Verfolgungen nach der Unabhängigkeit gingen viele Tutsis ins Exil nach Uganda, wo Paul Kagame eine Rebellenarmee bildete, die schließlich in Ruanda einmarschierte. Von 1992 an herrschte Bürgerkrieg. Der von langer Hand vorbereitete Genozid begann noch in der Nacht, in der Habyarimana einem Attentat zum Opfer fiel.
Jean Hatzfelds nun erschienenes viertes Buch ist erstmals ausschließlich einer Person gewidmet. Englebert Munyambonwa hatte ihn unmittelbar nach der Ankunft in Nyamata auf der Straße angesprochen. Er spricht perfekt Französisch, kann Griechisch und Latein. Zwei Jahrzehnte lang wollte Englebert nicht in Hatzfelds Berichten vorkommen. Eines Tages fuhr ihn der Schriftsteller nach Hause. Nach dem Sonnenuntergang und ein paar Flaschen Bier begann Englebert zu reden: von seiner Familie, den ersten Diskriminierungen, der Entlassung, dem Tod seiner Angehörigen, den Prozessen, dem Leben seither. Er hat keine Kinder und keine Illusionen, vom frühen Nachmittag an ist er betrunken, er lebt wie ein Clochard und akzeptiert sein Schicksal. "Ich bin das Grauen", sagt er einmal zu Hatzfeld, für den er zum besten Freund in Ruanda geworden ist. Englebert ist das Gespenst des Genozids, das jeden Tag durch das Dorf und die Kneipen irrt.
Aus eigener Initiative hat der deutsche Historiker Ahlrich Meyer, der Autor von "Täter im Verhör", das neue Hatzfeld-Buch unter dem Titel "Plötzlich umgab uns Stille" ins Deutsche übertragen und für die abgeschlossene Übersetzung einen Verlag gesucht. Mit der Veröffentlichung bekommt die bislang nicht optimal verlaufene Rezeption Hatzfelds hierzulande eine neue Chance.
In Ruanda werden nur seine Bücher über die Überlebenden gelesen - vor allem von diesen selbst: "Sie zeigen ihnen, dass sie nicht die einzigen sind, die so denken und fühlen." Die Täter indes, so Hatzfelds Erfahrung, "interessieren in Ruanda selbst niemanden, vor allem nicht die Tutsis". Und die Hutus schweigen: "Jetzt sind sie frei und reden nicht mehr. Aber keiner hat die Aussagen in meinen Büchern dementiert." Keines wurde bislang in die Landessprache übersetzt. Es gab in den dortigen Medien nur wenige Berichte über Jean Hatzfeld, was ihm sehr recht ist. Er hält sich nie in Kigali auf und vermeidet es, sich über das zunehmend totalitäre Regime, auf dessen Visum er angewiesen ist, zu äußern.
Als Franzose verweist er aber auf die Verantwortung seines Heimatlandes, das die Hutus aufgerüstet hatte. Präsident Mitterrand nennt er einen "salopard absolu". Die antitotalitären Intellektuellen, die aus der französischen Vergangenheitsbewältigung einen Imperativ des prophylaktischen militärischen Eingreifens gegen Genozide hergeleitet hatten, in dessen Namen mehrere Kriege geführt wurden, engagierten sich 1994 lieber für Bosnien. Den realen Genozid in Ruanda, der leicht hätte gestoppt werden können und an dem ihr Land eine Mitschuld hat, verpassten sie. Als Erklärung für diese Blindheit nennt Hatzfeld nicht nur "Verachtung für Afrika": "Als Juden wollten sie nicht anerkennen, dass es einen zweiten Genozid gibt."
Mit "Englebert" hielt Jean Hatzfeld sein Werk wieder einmal für abgeschlossen. Doch die Reden der Politiker und die Reportagen der Journalisten über das aufblühende Ruanda und dessen exemplarische Vergangenheitsbewältigung lösten einen neuerlichen Schock bei ihm aus: Die Wirklichkeit und die Menschen, die Hatzfeld in den Hügeln um Nyamata erlebte, kamen darin nicht vor. Es ist verboten, die Ethnie zu erwähnen: "Doch sie wissen genau, ob sie Hutus sind oder Tutsis, und sie fühlen sich als solche. Und sie wissen es von den anderen."
Die Tutsis, so hat Hatzfeld gelernt, reden in ihren Familien über die Verbrechen. Gegen Ende unseres zweistündigen Gesprächs stellt er unvermittelt einen Bezug zur eigenen Biographie her: "Meine Eltern hatten uns immer gesagt: Das ist unsere Geschichte, wir wollen euch nicht mir ihr belasten. Du fragst nach deinem Großvater? Wir werden dir nichts von ihm erzählen. Bei den Tutsis wird über all das frei gesprochen."
Aus seinen Gesprächen mit den Nachgeborenen beider Ethnien ist dann "Un papa de sang" (erschienen bei Gallimard) entstanden. Den Kindern der Mörder wurde deren Abwesenheit mit Lügen erklärt. Sie erzählen Hatzfeld von den Prozessen gegen die Väter und deren Rückkehr aus dem Gefängnis. Sie erzählen von der Schule und der Familie, von ihren Liebesgeschichten und Geldnöten. Jean-Pierre musste als Siebenjähriger in die Schule rennen, weil er mit Steinen beworfen wurde. Das Verdrängen der Ethnie empfindet er als "Verleugnen einer natürlichen Wahrheit", die nur Verwirrung stiften kann: "Ich verstehe die Opfer, für sie ist es wichtig zu wissen, wer die Täter und wer die Opfer sind."
Nie aber haben die Nachfahren miteinander über die Verbrechen der Vergangenheit gesprochen, stellt Jean Hatzfeld fest und zieht Bilanz: "Kein Tutsi kann vergessen. Alle sagen: Mein Leben wurde zerstört. Keiner hat vergeben. Nicht wegen der Toten, die man vergisst, mit denen man leben kann. Sondern weil man sie alle hat ausmerzen wollen und zu einem Leben wie Tiere verdammt hat."
JÜRG ALTWEGG
Jean Hatzfeld: "Plötzlich umgab uns Stille". Das Leben des Englebert Munyambonwa. Erzählung.
Aus dem Französischen von Ahlrich Meyer. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 114 S., br., 9,90 [Euro].
Jean Hatzfeld: "Un papa de sang".
Editions Gallimard, Paris 2015. 272 S., br., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beim Völkermord in Ruanda habe der Journalismus versagt, glaubt der französische Kriegsreporter Jean Hatzfeld. Deshalb schreibt er jetzt Bücher und Erzählungen über seine Begegnungen mit Tätern, Opfern und deren Kindern.
Als Jean Hatzfeld Ende Juli 1994 in Ruanda eintraf, fielen ihm zuerst die Menschenmassen auf, die in endlosen Kolonnen mit ihrer Habe auf den Schultern durch die Straßen zogen. Die Landschaften waren zerstört, die Häuser abgebrannt. "Alle hatten Angst: die Hutus vor den Strafen, die Tutsis, dass es wieder losgeht." Hatzfeld beobachtete die Blauhelme und die französischen Soldaten. Die Helfer der humanitären Organisationen und die Milizen mit ihren Macheten. "Und ich sah die verstümmelten Leichen, die überall herumlagen." So erzählt er es heute im Gespräch.
Vom Genozid hatte der 1949 geborene französische Kriegsreporter erst im Nachhinein Kenntnis genommen. Er war für die Tageszeitung "Libération" in Bosnien, wo er 1992 durch Schüsse aus einer Kalaschnikow lebensgefährlich verletzt wurde. Im Juni 1994 verließ er Sarajevo, um in Amerika über die Fußballweltmeisterschaft zu schreiben - Hatzfeld hatte bei der von Jean-Paul Sartre mitbegründeten Zeitung den Sportteil aufgebaut. Im amerikanischen Fernsehen sah er dann die ersten Bilder aus Ruanda. Nach der WM fuhr er für zwei Monate dorthin. In seinen Artikeln beschrieb Hatzfeld das Chaos und den Exodus von zwei Millionen Hutus in den Kongo. Zwei Drittel der Bevölkerung waren Frauen.
Erst zu Hause, in Paris, wurde Hatzfeld bewusst, dass er sich "total getäuscht" hatte: "In meinen Reportagen fehlten die Tutsis. Wir hatten manchmal den einen oder anderen gesehen. Doch in den Artikeln kamen sie nicht vor." Das "Versagen des Journalismus" hatte nichts mit dem "Schweigen der Überlebenden" zu tun. "Eine Tutsi sagte mir später: Die Reporter aus der ganzen Welt gingen an unseren Türen vorbei und klopften nicht an."
1998 reiste Hatzfeld wieder nach Ruanda. Wie er vorgehen würde, war ihm nicht klar: "Ich wusste nur, mit den Mitteln des Journalismus war das nicht möglich." Von "Libération" ließ er sich beurlauben, zunächst für ein Jahr. In Nyamata, wo 50 000 der 59 000 ansässigen Tutsis mit Macheten gemeuchelt worden waren, lebte er unter den Einheimischen. Seine ersten Gesprächspartner waren Bäuerinnen, die Intellektuellen misstrauten ihm. Die Überlebenden hatten sich während der Massaker in den Sümpfen versteckt, wie gejagte Tiere lebten sie, nackt, verdreckt, voller Ungeziefer. Eine von ihnen sprach erst von sechs Monaten und dann von sechs Stunden. Die Zeit war aufgehoben. Hatzfeld merkte, dass "die Lügen so wichtig waren wie die Wahrheit".
Er sprach Französisch, für die Interviews in der Landessprache Kinyarwanda zog er einen Übersetzer bei. Er schwärmt von den Umschreibungen, Gleichnissen, Bildern, Fabeln und dem blumigen Stil der Schilderungen, die seinen Protokollen einen literarischen Charakter vermitteln: "Ohne diese Schönheit der Sprache hätte ich bald wieder aufgehört." 2000 erschien sein Bericht "Nichts als das nackte Leben".
Damit hielt Hatzfeld das Thema für ausgeschöpft. Bei Lesungen und Interviews wurde er immer wieder nach den Tätern gefragt, "die mehr faszinieren als die Opfer". Die Mörder saßen inzwischen in Rilima im Gefängnis. Eher zufällig eröffnete ihm ein Lehrer, bei dem einige von ihnen in die Schule gegangen waren, einen Zugang zu ihnen. Zwei Jahre lang hatten sie in Flüchtlingslagern im Kongo gelebt, "stets unter sich", anderen Einflüssen als ihren eigenen Überzeugungen waren sie nie ausgesetzt. Keiner glaubte, dass er jemals wieder die Freiheit erlangen würde. Sie hatten nichts zu verlieren. Die Gespräche mit dem Schriftsteller waren eine Abwechslung und mit ein paar Privilegien - eine Flasche Bier, ein bisschen frische Luft - verbunden.
Zur Vorbereitung hatte Hatzfeld Christopher Brownings Buch über die Einsatzgruppen der deutschen Polizei im Zweiten Weltkrieg gelesen. Aus Bosnien, Algerien, Tschetschenien wusste er, dass die Verbrechen bei den Tätern Spuren hinterlassen: Sie wurden Alkoholiker, Extremisten, wahnsinnig. Die Hutus aber waren von jedem Schuldgefühl verschont geblieben: "Keiner berichtete je von einem Albtraum. Nie kam es zu einem Selbstmordversuch. Sie bedauerten, die Arbeit nicht vollendet zu haben. Sie beklagten den Verlust ihres Besitzes. Dass sie ihren Familien geschadet haben." Sie fühlten sich unschuldig, als zu Unrecht verurteilte "Rädchen einer Maschine, auf die sie keinen Einfluss hatten". Doch es war wie bei den Einsatzgruppen: Wer sich dem Morden verweigerte, wurde keineswegs selbst umgebracht. Kneifende Hutus mussten am Abend eine Kiste Bier spendieren.
Ein weiteres Buch wollte Hatzfeld gar nicht mehr schreiben. Doch dann kam 2003 eine Amnestie, Zehntausende von Gefangenen wurden in die Freiheit entlassen: "Das konnte ich mir nicht entgehen lassen." Er wartete am Ausgang des Gefängnisses und begleitete die Freigelassenen zu ihren Familien. Sein Buch darüber, "Die Strategie der Antilopen", handelt von der "Animalisierung" auch "eher sympathischer" Täter.
Dieses Werk zeichnet das Porträt einer Generation, die nach dem Staatsstreich von Juvénal Habyarimana 1973 in Ruanda zwanzig Jahre lang der Hass-Propaganda der Hutu-Ideologen ausgesetzt und an der zunehmenden Diskriminierung der Tutsis beteiligt war. Diese wurden aus Armee, Universität und anderen Institutionen ausgeschlossen. Es kam zu Pogromen und ersten Massakern, die ungestraft blieben. Die deutschen Kolonisatoren hatten die Tutsis als "schwarze Arier" bezeichnet, die Belgier stützten sich während ihrer Herrschaft auf sie. Angesichts der Verfolgungen nach der Unabhängigkeit gingen viele Tutsis ins Exil nach Uganda, wo Paul Kagame eine Rebellenarmee bildete, die schließlich in Ruanda einmarschierte. Von 1992 an herrschte Bürgerkrieg. Der von langer Hand vorbereitete Genozid begann noch in der Nacht, in der Habyarimana einem Attentat zum Opfer fiel.
Jean Hatzfelds nun erschienenes viertes Buch ist erstmals ausschließlich einer Person gewidmet. Englebert Munyambonwa hatte ihn unmittelbar nach der Ankunft in Nyamata auf der Straße angesprochen. Er spricht perfekt Französisch, kann Griechisch und Latein. Zwei Jahrzehnte lang wollte Englebert nicht in Hatzfelds Berichten vorkommen. Eines Tages fuhr ihn der Schriftsteller nach Hause. Nach dem Sonnenuntergang und ein paar Flaschen Bier begann Englebert zu reden: von seiner Familie, den ersten Diskriminierungen, der Entlassung, dem Tod seiner Angehörigen, den Prozessen, dem Leben seither. Er hat keine Kinder und keine Illusionen, vom frühen Nachmittag an ist er betrunken, er lebt wie ein Clochard und akzeptiert sein Schicksal. "Ich bin das Grauen", sagt er einmal zu Hatzfeld, für den er zum besten Freund in Ruanda geworden ist. Englebert ist das Gespenst des Genozids, das jeden Tag durch das Dorf und die Kneipen irrt.
Aus eigener Initiative hat der deutsche Historiker Ahlrich Meyer, der Autor von "Täter im Verhör", das neue Hatzfeld-Buch unter dem Titel "Plötzlich umgab uns Stille" ins Deutsche übertragen und für die abgeschlossene Übersetzung einen Verlag gesucht. Mit der Veröffentlichung bekommt die bislang nicht optimal verlaufene Rezeption Hatzfelds hierzulande eine neue Chance.
In Ruanda werden nur seine Bücher über die Überlebenden gelesen - vor allem von diesen selbst: "Sie zeigen ihnen, dass sie nicht die einzigen sind, die so denken und fühlen." Die Täter indes, so Hatzfelds Erfahrung, "interessieren in Ruanda selbst niemanden, vor allem nicht die Tutsis". Und die Hutus schweigen: "Jetzt sind sie frei und reden nicht mehr. Aber keiner hat die Aussagen in meinen Büchern dementiert." Keines wurde bislang in die Landessprache übersetzt. Es gab in den dortigen Medien nur wenige Berichte über Jean Hatzfeld, was ihm sehr recht ist. Er hält sich nie in Kigali auf und vermeidet es, sich über das zunehmend totalitäre Regime, auf dessen Visum er angewiesen ist, zu äußern.
Als Franzose verweist er aber auf die Verantwortung seines Heimatlandes, das die Hutus aufgerüstet hatte. Präsident Mitterrand nennt er einen "salopard absolu". Die antitotalitären Intellektuellen, die aus der französischen Vergangenheitsbewältigung einen Imperativ des prophylaktischen militärischen Eingreifens gegen Genozide hergeleitet hatten, in dessen Namen mehrere Kriege geführt wurden, engagierten sich 1994 lieber für Bosnien. Den realen Genozid in Ruanda, der leicht hätte gestoppt werden können und an dem ihr Land eine Mitschuld hat, verpassten sie. Als Erklärung für diese Blindheit nennt Hatzfeld nicht nur "Verachtung für Afrika": "Als Juden wollten sie nicht anerkennen, dass es einen zweiten Genozid gibt."
Mit "Englebert" hielt Jean Hatzfeld sein Werk wieder einmal für abgeschlossen. Doch die Reden der Politiker und die Reportagen der Journalisten über das aufblühende Ruanda und dessen exemplarische Vergangenheitsbewältigung lösten einen neuerlichen Schock bei ihm aus: Die Wirklichkeit und die Menschen, die Hatzfeld in den Hügeln um Nyamata erlebte, kamen darin nicht vor. Es ist verboten, die Ethnie zu erwähnen: "Doch sie wissen genau, ob sie Hutus sind oder Tutsis, und sie fühlen sich als solche. Und sie wissen es von den anderen."
Die Tutsis, so hat Hatzfeld gelernt, reden in ihren Familien über die Verbrechen. Gegen Ende unseres zweistündigen Gesprächs stellt er unvermittelt einen Bezug zur eigenen Biographie her: "Meine Eltern hatten uns immer gesagt: Das ist unsere Geschichte, wir wollen euch nicht mir ihr belasten. Du fragst nach deinem Großvater? Wir werden dir nichts von ihm erzählen. Bei den Tutsis wird über all das frei gesprochen."
Aus seinen Gesprächen mit den Nachgeborenen beider Ethnien ist dann "Un papa de sang" (erschienen bei Gallimard) entstanden. Den Kindern der Mörder wurde deren Abwesenheit mit Lügen erklärt. Sie erzählen Hatzfeld von den Prozessen gegen die Väter und deren Rückkehr aus dem Gefängnis. Sie erzählen von der Schule und der Familie, von ihren Liebesgeschichten und Geldnöten. Jean-Pierre musste als Siebenjähriger in die Schule rennen, weil er mit Steinen beworfen wurde. Das Verdrängen der Ethnie empfindet er als "Verleugnen einer natürlichen Wahrheit", die nur Verwirrung stiften kann: "Ich verstehe die Opfer, für sie ist es wichtig zu wissen, wer die Täter und wer die Opfer sind."
Nie aber haben die Nachfahren miteinander über die Verbrechen der Vergangenheit gesprochen, stellt Jean Hatzfeld fest und zieht Bilanz: "Kein Tutsi kann vergessen. Alle sagen: Mein Leben wurde zerstört. Keiner hat vergeben. Nicht wegen der Toten, die man vergisst, mit denen man leben kann. Sondern weil man sie alle hat ausmerzen wollen und zu einem Leben wie Tiere verdammt hat."
JÜRG ALTWEGG
Jean Hatzfeld: "Plötzlich umgab uns Stille". Das Leben des Englebert Munyambonwa. Erzählung.
Aus dem Französischen von Ahlrich Meyer. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 114 S., br., 9,90 [Euro].
Jean Hatzfeld: "Un papa de sang".
Editions Gallimard, Paris 2015. 272 S., br., 19,- [Euro].
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