Die Leichtigkeit der gemeinsamen Sommerabende trügt: Während aus den Radios Discobeats tönen und das Glitzern der 1970er Jahre allgegenwärtig scheint, fühlt sich Ben Schneider am falschen Ort. Er weiß, dass die Träume seiner Freunde in einem kleinen Ort im Ruhrgebiet nicht seine Träume sind. Dennoch haben alle eines gemeinsam: sie wollen bald raus. Nur eben anders. Wann immer es geht, setzt er sich ans Klavier und schreibt Songs. Aber er spielt auch Beethoven und Chopin und verliebt sich in Rebecca und erkennt, welche tiefen Gräben bestehen zwischen einem, der dem Arbeitermilieu entwachsen, und einer, die aus bürgerlicher Familie stammt, wo man Brahms zum Abendessen hört. Eine Band zu gründen, um die Stumpfheit der Zeit und des Milieus zu überwinden, ist sicher keine schlechte Idee. Wird Ben der Ausstieg aus dem Alten und der Aufstieg zu etwas Neuem gelingen? Davon erzählt Andreas Heidtmann in seinem zweiten großen Roman.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.2023Lippfelder Elend
Andreas Heidtmann inspiziert eine Jugend
Der Autor Andreas Heidtmann besitzt eine beneidenswerte Gabe: Er findet immer wieder Sätze, die seinen Lesern ein Lächeln ins Gesicht zaubern, leichte Formulierungen voller Wahrheit und Melancholie. "Meine Eltern saßen in der Hollywoodschaukel, als säßen sie dort schon seit letztem Sommer" ist so ein Satz, den er seinem jugendlichen Ich-Erzähler Ben in den Stift legt. Auf einer Zugfahrt fällt ihm auf, "wie das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit wuchs, wenn man von Lippfeld nach Berlin fuhr", und als er wenig später in einer Welt sitzt, die ihm als Arbeiterkind fremd ist: "Ich glaubte mich in eine Szene versetzt, die nicht für mich geschrieben war."
Man kann diesen Sätzen vorhalten, zu glatt und sentimental und nostalgisch zu sein. Und wer mag, kann auch jetzt dieselbe Frage stellen wie Rezensenten beim Vorgängerroman "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde": Braucht es wirklich noch Bücher über eine Jugend am Rande des Ruhrgebiets?
Aber es gibt eben genug Leute, die solch ein Buch brauchen, weil es sie in den Kopf ihrer Jugend zurückbringt. Denen das Melancholische und doch auch Euphorische und Möchtegern-Coole und Jugendpoetische dieser Sprache charmante Lesestunden beschert (ein Kuss im Antiquariat: "zwischen S wie Scarlatti und P wie Prokofjew", "zwischen all dem Wissen der Jahrhunderte, das nichts war im Vergleich zur Aufregung unserer Lippen"). Und manche Bücher müssen einfach geschrieben werden - Heidtmann stammt nun mal wie sein Romanheld von der Lippe nördlich von Bottrop, er wuchs in Schermbeck und Dorsten auf und steuerte wie Ben im Roman auf eine Ausbildung als Pianist und Germanist zu.
Wobei es in "Plötzlich waren wir sterblich" noch nicht so weit ist. Heidtmanns Held geht auch im neuen Band zur Schule, die aber nur noch am Rande auftaucht, weil die Geschichte - die keine wirkliche Geschichte ist, mehr eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen - durchweg um Bens Bandprojekt "Crazy Hearts", seinen Eifer als Klavierschüler, zwei Mädchen und die Angst vor der "Endstation Lippfeld" kreist.
Verluste werden zum Thema, und damit ist nicht nur die mit einem Faustschlag ihres neuen Partners Kai Hendricksen markierte Abkehr von Susanna oder die Trauer um den verstorbenen Freund Jan-Henri oder der Umzug der neuen Flamme Rebecca nach Berlin gemeint - sondern auch die Trennung von den Eltern, die eines Tages unausweichlich erfolgen muss, entweder durch den Auszug von Ben oder den Tod.
Umso rührender sind die Skizzen, mit denen Heidtmann den hart schuftenden Vater und die immer tiefer in Depressionen versinkende Mutter beschreibt. Die kleine Welt mit grünem Telefon, Ledergarnitur, Schwarzbrot und Rübenkraut. Die Scheibe Eis von der "Königsrolle", mit der der Vater, ein fast sprachloser Mann, anstelle vieler Worte seine Zuneigung zu den Söhnen ausdrückt. Einer Klavierdarbietung des Sohnes wohnen die Eltern bei, als sei sie allein schon der Beweis für den geglückten Klassenaufstieg (zumindest des Sohnes): "Dein Vater ist stolz auf dich, sagte mein Vater. Ich blieb gefasst und dachte, jetzt müsste eigentlich kommen: Deine Mutter natürlich auch. Und deine Mutter natürlich auch, sagte mein Vater."
Das Politische der Zeit geht Heidtmann hingegen ab. Es schimmert nur gelegentlich auf, wenn RAF-Schriften kursieren, kurz vor der Bundestagswahl 1976 eine CDU-Anzeige im heimischen Sozi-Blatt auftaucht oder Köpckes "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau" die gedrückte Stimmung in Bens Zuhause auflöst: "Immerhin geschah in der Welt Schlimmeres als bei uns zwischen Schrankwandwand und Spiegelkommode. Anschläge, Hungersnöte, Massenkarambolagen. Was dagegen war die Weltverlorenheit meiner Mutter?"
Kein Problem. Noch steckt der Held im selbst gesponnenen Kokon aus Musik und Literatur und Verzweiflung am "Lippfelder Elend". Wenn er im nächsten Band herausschlüpft, spürt man von den politischen Debatten der Siebziger hoffentlich mehr. MATTHIAS HANNEMANN
Andreas Heidtmann: "Plötzlich waren wir sterblich". Roman.
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andreas Heidtmann inspiziert eine Jugend
Der Autor Andreas Heidtmann besitzt eine beneidenswerte Gabe: Er findet immer wieder Sätze, die seinen Lesern ein Lächeln ins Gesicht zaubern, leichte Formulierungen voller Wahrheit und Melancholie. "Meine Eltern saßen in der Hollywoodschaukel, als säßen sie dort schon seit letztem Sommer" ist so ein Satz, den er seinem jugendlichen Ich-Erzähler Ben in den Stift legt. Auf einer Zugfahrt fällt ihm auf, "wie das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit wuchs, wenn man von Lippfeld nach Berlin fuhr", und als er wenig später in einer Welt sitzt, die ihm als Arbeiterkind fremd ist: "Ich glaubte mich in eine Szene versetzt, die nicht für mich geschrieben war."
Man kann diesen Sätzen vorhalten, zu glatt und sentimental und nostalgisch zu sein. Und wer mag, kann auch jetzt dieselbe Frage stellen wie Rezensenten beim Vorgängerroman "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde": Braucht es wirklich noch Bücher über eine Jugend am Rande des Ruhrgebiets?
Aber es gibt eben genug Leute, die solch ein Buch brauchen, weil es sie in den Kopf ihrer Jugend zurückbringt. Denen das Melancholische und doch auch Euphorische und Möchtegern-Coole und Jugendpoetische dieser Sprache charmante Lesestunden beschert (ein Kuss im Antiquariat: "zwischen S wie Scarlatti und P wie Prokofjew", "zwischen all dem Wissen der Jahrhunderte, das nichts war im Vergleich zur Aufregung unserer Lippen"). Und manche Bücher müssen einfach geschrieben werden - Heidtmann stammt nun mal wie sein Romanheld von der Lippe nördlich von Bottrop, er wuchs in Schermbeck und Dorsten auf und steuerte wie Ben im Roman auf eine Ausbildung als Pianist und Germanist zu.
Wobei es in "Plötzlich waren wir sterblich" noch nicht so weit ist. Heidtmanns Held geht auch im neuen Band zur Schule, die aber nur noch am Rande auftaucht, weil die Geschichte - die keine wirkliche Geschichte ist, mehr eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen - durchweg um Bens Bandprojekt "Crazy Hearts", seinen Eifer als Klavierschüler, zwei Mädchen und die Angst vor der "Endstation Lippfeld" kreist.
Verluste werden zum Thema, und damit ist nicht nur die mit einem Faustschlag ihres neuen Partners Kai Hendricksen markierte Abkehr von Susanna oder die Trauer um den verstorbenen Freund Jan-Henri oder der Umzug der neuen Flamme Rebecca nach Berlin gemeint - sondern auch die Trennung von den Eltern, die eines Tages unausweichlich erfolgen muss, entweder durch den Auszug von Ben oder den Tod.
Umso rührender sind die Skizzen, mit denen Heidtmann den hart schuftenden Vater und die immer tiefer in Depressionen versinkende Mutter beschreibt. Die kleine Welt mit grünem Telefon, Ledergarnitur, Schwarzbrot und Rübenkraut. Die Scheibe Eis von der "Königsrolle", mit der der Vater, ein fast sprachloser Mann, anstelle vieler Worte seine Zuneigung zu den Söhnen ausdrückt. Einer Klavierdarbietung des Sohnes wohnen die Eltern bei, als sei sie allein schon der Beweis für den geglückten Klassenaufstieg (zumindest des Sohnes): "Dein Vater ist stolz auf dich, sagte mein Vater. Ich blieb gefasst und dachte, jetzt müsste eigentlich kommen: Deine Mutter natürlich auch. Und deine Mutter natürlich auch, sagte mein Vater."
Das Politische der Zeit geht Heidtmann hingegen ab. Es schimmert nur gelegentlich auf, wenn RAF-Schriften kursieren, kurz vor der Bundestagswahl 1976 eine CDU-Anzeige im heimischen Sozi-Blatt auftaucht oder Köpckes "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau" die gedrückte Stimmung in Bens Zuhause auflöst: "Immerhin geschah in der Welt Schlimmeres als bei uns zwischen Schrankwandwand und Spiegelkommode. Anschläge, Hungersnöte, Massenkarambolagen. Was dagegen war die Weltverlorenheit meiner Mutter?"
Kein Problem. Noch steckt der Held im selbst gesponnenen Kokon aus Musik und Literatur und Verzweiflung am "Lippfelder Elend". Wenn er im nächsten Band herausschlüpft, spürt man von den politischen Debatten der Siebziger hoffentlich mehr. MATTHIAS HANNEMANN
Andreas Heidtmann: "Plötzlich waren wir sterblich". Roman.
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Viele wahre, glücklichmachende Sätze findet Rezensent Matthias Hannemann in Andreas Heidtmanns neuem Roman. Manche werden in ihnen nur Klischees sehen, konzediert Hannemann, aber sie entsprechen einem Bedürfnis nach nostalgischer Jugendreflexion. Die Jugend, führt der Kritiker aus, hat ihren Ort in Bottrop, woher auch Heidtmann stammt. Die jugendliche Hauptfigur interessiert sich für Literatur und Musik, lernen wir, und will dringend aus Bottrop raus. Bis es soweit ist, geht es laut Hannemann eher episodisch um Bands, Mädchen und auch um Schwierigkeiten im Elternhaus. Eindringliche Szenen entstehen dabei gerade da, wo es um das Verhältnis der Hauptfigur zum Vater geht, so der Kritiker. Was politisch zur Zeit der Handlung, in den 1970ern, so los war, kommt freilich nur selten zur Sprache, was sich, so die Hoffnung des Rezensenten, in einem möglichen Folgeroman ändern könnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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