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Álvaro de Campos ist, wie Ricardo Reis vor ihm, an jenem legendären 8. März 1914 aus Pessoas Seele ans Licht getreten, als der Dichter in einem Zug die Triumph-Ode niederschrieb. Campos ist das Gegenstück eines selbstbewußten Männlichkeitsfanatikers, er will nicht ständig überlegen sein, und vielleicht macht ihn gerade das dem Leser sympathisch. Wichtiger aber ist, daß Campos die selbstgestellte Forderung Pessoas erfüllt, "die moderne Kunst müsse mit der gesamten Schönheit der Gegenwart vibrieren, mit der ganzen Woge von Maschinen, Handel und Industrien". Nirgendwo im Werk des großen…mehr

Produktbeschreibung
Álvaro de Campos ist, wie Ricardo Reis vor ihm, an jenem legendären 8. März 1914 aus Pessoas Seele ans Licht getreten, als der Dichter in einem Zug die Triumph-Ode niederschrieb. Campos ist das Gegenstück eines selbstbewußten Männlichkeitsfanatikers, er will nicht ständig überlegen sein, und vielleicht macht ihn gerade das dem Leser sympathisch. Wichtiger aber ist, daß Campos die selbstgestellte Forderung Pessoas erfüllt, "die moderne Kunst müsse mit der gesamten Schönheit der Gegenwart vibrieren, mit der ganzen Woge von Maschinen, Handel und Industrien". Nirgendwo im Werk des großen portugiesischen Dichters rühren gemeinmenschliche Erfahrungen den Leser so stark an wie bei Álvaro de Campos, von dessen spätem Werk zahlreiche Querverbindungen zu den Niederschriften des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares im Buch der Unruhe bestehen. Die Neuübersetzung von Inés Koebel, die gegenüber der alten ein Drittel mehr Text enthält, ermöglicht einen neuen Blick auf die Figur, die neben Bernardo Soares Pessoas liebste war.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2007

Der verrückte Ingenieur ist immer ein moderner Mensch
Diese Gier, gleichzeitig Reisender zu sein in allen Zügen: Die Gedichte Álvaro de Campos’, eine der Dichterfiguren des großen Verwandlungskünstlers Fernando Pessoa, ist sehr glücklich von Inés Koebel ins Deutsche übertragen worden Von Andreas Dorschel
Vom Künstler sagt Nietzsche, er gehe „in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig”. Und: „Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit nicht zu reagieren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten)”. Ob als allgemeine Charakteristik treffend oder nicht: die eigentümliche Sensibilität seines jüngeren Zeitgenossen, des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa (1888-1935) lässt sich kaum besser kennzeichnen.
Die Kunst der Verwandlung, von der Nietzsche in der „Götzen-Dämmerung” spricht, hat erkennbar zwei Aspekte: Einerseits verwandelt der Künstler sich selbst Welt an. Andererseits verwandelt er sich selbst. Unter dem ersten Aspekt erlebt der Leser Pessoa in seiner Dichtung als einen – frei nach Nietzsches Formulierung – bis zur Hysterie wachen Zeitgenossen, dem kein Gegenstand zu gering ist, um ihn nicht zu Poesie zu erheben und ihn so als verwandelte Figur neu sehen zu lassen. Der zweite Aspekt aber, derjenige der Selbstverwandlung, gewinnt bei Pessoa einzigartige Gestalt.
Die klassische Form künstlerischer Selbstverwandlung war das ‚Stirb und werde‘. Goethe hat es an sich vollzogen: Der Künstler muss im Laufe seines Lebens durch eine Kette schmerzhafter Verwandlungen hindurch. Sein Werk lässt erkennen, wie sein Leben verlief: nicht als Befriedigung anekdotischer Neugier, sondern als Spur der inneren Geschichte. Erst die Selbstverwandlung macht den Künstler zur exemplarischen Gestalt. Bleibt sie aus, wird er bloßer Nachahmer seiner selbst; für derartige Selbstimitation gibt es berühmte Beispiele, und gerade für Goethe, den früh Erfolgreichen, könnte sie keine geringe Versuchung gewesen sein.
Als Selbstverwandler nun ist Pessoa ein ganz besonderer Fall. Die Metamorphosen seiner selbst kamen nämlich nicht, wie in der klassischen Bildungsgeschichte, nacheinander zu stehen, sondern nebeneinander. António Mora, Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Ricardo Reis heißen seine Transfigurate. Er sei „nicht nur ein Schriftsteller, sondern eine ganze Literatur”, hat Pessoa ohne falsche Bescheidenheit von sich geäußert. Wenn nicht alles täuscht, war das Verfahren, sich selbst zu zerlegen, so schmerzhaft wie das Goethesche, sich selbst zu erneuern. Und auch dies Vorgehen hat einen exemplarischen Menschen hervorgebracht; Pessoa konnte von sich sagen, was er eines seiner Heteronyme sagen lässt: „Sou quem todos são”, „Ich bin, wer alle sind”.
Pessoa also erfindet nicht nur Gedichte, sondern auch die Dichter dazu. Derjenige der nun vom Ammann Verlag im Rahmen seiner Werkausgabe vorgelegten Poesie heißt Álvaro de Campos. Man hat ihn sich, den „engenheiro doido”, den verrückten Ingenieur, als durchaus modernen Menschen vorzustellen. Er ist unterwegs, ohne recht zu wissen wohin: auf Schiffen, in Eisenbahnen, in „tramways, Drahtseilbahnen und Metros”. Ihn hat die „fúria de estar indo ao mesmo tempo dentro de todos os comboios” gepackt: „die Gier, gleichzeitig Reisender zu sein in allen Zügen”. Irgendwo nicht zu sein, wäre schon Ohnmacht. Moderne Technologie macht ubiquitär. Aber der Triumph über Raum und Zeit hat seinen Preis. Álvaro de Campos beherrscht den Verkehr und ist ihm ausgeliefert; er begehrt Mobilität und ist ihrer überdrüssig.
Die auf Anhieb überwältigendste poetische Leistung Pessoas sind wohl die drei großen Oden Álvaro de Campos’, die „Meeres-Ode”, die „Triumph-Ode”, und die furiose Ode „Gruß an Walt Whitman”, in der Beschimpfung und Verehrung einander so unvergesslich durchdringen. (Hätte Thomas Bernhard zuletzt wieder Gedichte geschrieben, vielleicht wäre etwas dergleichen daraus geworden.) Die sparsamere Sprache der späteren Gedichte de Campos’ indes gibt vielleicht die tieferen Rätsel auf. Am besten, man spielt die einen nicht gegen die anderen aus, sondern begreift sie als Manifestationen dessen, was Pessoa so neu fasste: der Metamorphose.
In der modernen Welt wird Leben als Projekt entworfen. Planung, Kontrolle, Kommunikation und Verkehr sollen verbürgen, dass ihm nichts entgeht. Aber an dieser Sicht der Dinge, so entdeckt Álvaro de Campos, nagt ein am Tag vergessener und in der Nacht sich zu Wort meldender Konditionalis und Irrealis: „Wenn ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt / Nach links gewandt hätte statt nach rechts; / Wenn ich in einem bestimmten Augenblick / Ja gesagt hätte statt nein, oder nein statt ja; / Wenn ich in einem bestimmten Gespräch / Die Sätze geäußert hätte, die ich erst jetzt im Halbschlaf formuliere – / Wenn all dies so gewesen wäre, / Wäre ich ein anderer heute, und das gesamte Universum wäre vielleicht / Unmerklich dazu bewegt worden, ebenfalls anders zu sein”.
Dem Konjunktiv der anderen Möglichkeit antwortet der Indikativ der einen Wirklichkeit: „Doch ich habe mich nicht der unwiederbringlich verlorenen Seite zugewandt; / Ich habe es nicht getan, ja, nicht einmal daran gedacht, und bemerke es erst heute, / Ich habe nicht nein gesagt und nicht ja und erkenne erst heute, was ich nicht sagte; / Und die Sätze, die ich versäumte zu sagen, fallen mir in diesem Augenblick alle ein, / Klar, unweigerlich, wie von allein, / Das Gespräch ist endgültig beendet, / Die Angelegenheit ad acta gelegt”. Indes, ist das nicht auch Gewissheit, negative zwar, aber als Gewissheit doch Revers der positiven des als Projekt entworfenen Lebens?
In Pessoas Dichtung wird der Klang Gedanke und der Gedanke Klang. „Que para dizer é preciso pensar”, „wer dichten will, muß denken”. Man versteht, weshalb das jähe Nebeneinander von Konkretum und Abstraktum zu Álvaro de Campos’ liebsten Kunstgriffen zählt: „Pinheirais! Igualdade das culturas!”, „Pinienhaine! Gleichheit der Kulturen!”; „O descalabro a ócio e estrelas”, „Das Fiasko aus Faulheit und Sternen”; „Preciso de verdade e de aspirina”, „Ich brauche Wahrheit und Aspirin”. Wie, wenn der Kopfschmerz die Wahrheit über den Menschen wäre?
Gegenüber der 1987 von Georg Rudolf Lind bei Ammann herausgegebenen Ausgabe der Gedichte weist die neue Inés Koebels annähernd die Hälfte mehr Text auf. Koebel, die Linds Ausgabe dankbar benutzt hat, erreicht in ihren freien deutschen Versen große Treue zum Sinn der portugiesischen Dichtung. Ihre Übertragung steht auf gleicher Höhe mit dem großen Wurf, der Steffen Dix im Vorjahr mit Pessoas „Rückkehr der Götter” glückte. Was zuweilen wie äußerliche Anlehnung aussehen mag – „Minuto exterior pulsando em mim / Minuciosamente”, „Äußere Minute minutiös in mir / Pulsierend” –, erweist sich bei Erwägung von Alternativen als zwingend; originell sein wollen hieße hier verlieren. Dabei verfährt die Übersetzerin nie schematisch; „eterno” heißt einmal besser „ewig”, das andere Mal besser „endlos”. Koebel vollzieht den Gedanken mit, und weil dieser so verzweigt ist, hing hieran des Gelingen dieser Übertragung. Am Ende ist ja auch dies ein Kunststück und eine Verwandlung: dass sich Álvaro de Campos und Fernando Pessoa, der dieser Álvaro ist und nicht ist, so gut ins Deutsche bringen ließen.
Fernando Pessoa
Álvaro de Campos
Poesia – Poesie. Aus dem Portugiesischen übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Inés Koebel. Ammann Verlag, Zürich 2007. 779 Seiten, 69,90 Euro.
Dem Konjunktiv der anderen Möglichkeit antwortet der Indikativ der einen Wirklichkeit
Pessoa erfindet nicht nur Gedichte, sondern auch gleich die Dichter dazu!
Der Meister der Metamorphose: Ein undatiertes Porträt des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Andreas Dorschel ist ganz verzückt über Fernando Pessoa, sein dichterisches alter Ego Alvaro de Campos und den vorliegenden Band mit Gedichten des "verrückten Ingenieurs", wie Pessoa Campos liebevoll charakterisierte. Als moderner Zeitgenosse will Campos immer in Bewegung sein, ihn treibt "die Gier, gleichzeitig Reisender zu sein in allen Zügen", wie Dorschel Pessoa/Campos zitiert. Auf den ersten Blick beeindrucken vor allem die drei Oden, meint der Rezensent. Eine davon, der "Gruß an Walt Whitman", erinnert ihn in der Verwobenheit von Verehrung und Beschimpfung an Thomas Bernhard. Aber auch die zurückhaltenderen Gedichte der späteren Phase will Dorschel nicht unterschätzt wissen, sie geben ihm "vielleicht" sogar mehr zu denken. Sicher ist er sich dann wieder beim Lob für die Übersetzerin Ines Koebel, deren Arbeit hier "sehr glücklich" verlaufen sei.

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