Adam Zagajewski, der große polnische Dichter, begibt sich auf die ewige, nie abgeschlossene Suche nach dem Wesen der Dichtung.
Adam Zagajewski, der große polnische Lyriker und Essayist, stellt in diesem wunderbar luziden Band für ihn wichtige Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ein erstaunlich neues, zum Teil ganz persönliches Licht. Seine Essays über Czeslaw Milosz, W.G. Sebald, Wislawa Szymborska und viele mehr sind kleine Offenbarungen. Über das Werk, die Zeit und das Leben der Porträtierten. Aber auch über das eigene Schreiben und den Essay selbst, diese bedrohte Form, die wie keine andere die Beweglichkeit der Gedanken verteidigt. In feinster Prosa entspinnt Zagajewski seine Suche nach dem Wesen der Dichtung, nach ihren Bedingungen und ihrer Aufgabe.
Adam Zagajewski, der große polnische Lyriker und Essayist, stellt in diesem wunderbar luziden Band für ihn wichtige Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ein erstaunlich neues, zum Teil ganz persönliches Licht. Seine Essays über Czeslaw Milosz, W.G. Sebald, Wislawa Szymborska und viele mehr sind kleine Offenbarungen. Über das Werk, die Zeit und das Leben der Porträtierten. Aber auch über das eigene Schreiben und den Essay selbst, diese bedrohte Form, die wie keine andere die Beweglichkeit der Gedanken verteidigt. In feinster Prosa entspinnt Zagajewski seine Suche nach dem Wesen der Dichtung, nach ihren Bedingungen und ihrer Aufgabe.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Marta Kijowska schätzt die Essays von Adam Zagajewski. Daher begrüßt sie diesen Band mit letzten Texten des Dichters über das eigene Schreiben, den Prozess des Schreibens an sich und das Schreiben der Anderen. Neben Einblicken in den Schaffensprozess gewährt der Autor der Rezensentin immer wieder auch Einblicke in seine Persönlichkeit und sein Verhältnis zur Dichtung als Lebenselixier. Porträts bekannter polnischer Kollegen wie Czeslaw Milosz oder Aleksander Wat oder weniger bekannter Dichter wie Julian Kornhauser oder Hanna Malewska, aber auch von Dichterstars wie Rilke und Konstantinos Kavafis runden den Band ab, so Kijowska. Zagajewskis "müheloser" Verbindung von Werkanalysen und Biografischem folgt die Rezensentin mit Freude.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2021Schatten über
der Welt
In seinen letzten Essays beklagt
Adam Zagajewski den Zustand Europas
VON CHRISTOPH BARTMANN
Es gibt Wörter, moderne oder modische, für die Adam Zagajewski nur sanften Spott übrighat: „interdisziplinär“, „Algorithmus“ oder „diachron“. Er ist zwar selbst ein Modernist, aber eher ein Modernist im Sinne Rilkes – und damit fast auch schon ein Anti-Modernist. Er hat studiert, Philosophie und Psychologie, sich aber vom akademischen Schreiben ferngehalten. Er war Dissident, im Polen der Siebzigerjahre, aber er kann sich für den künstlerischen Gesellschaftsaktivismus von heute nicht erwärmen. Er hat Bekanntschaft mit der großen Geschichte gemacht (oder sie mit ihm), aber als Lyriker lebt er ebenso sehr von der Kontemplation. Ohne Schönheit, ohne die zumindest geahnte „beauté du monde“ (hier zitiert Zagajewski den großen Kritiker Jean Starobinski) ist an Poesie nicht zu denken. Das wäre vielleicht die erste Lektion seines letzten Buches, des Essaybandes „Poesie für Anfänger“.
Im März ist Adam Zagajewski, Polens bedeutendster Lyriker, in Krakau gestorben. Gleich nach seiner Geburt in Lemberg 1945, war die Familie ins oberschlesische Gliwice/Gleiwitz umgesiedelt worden. Die von Stalin betriebene Westverschiebung Polens hatte Churchill auf eine markante Formel gebracht: „Wie Soldaten, die seitlich wegtreten“. Zagajewskis persönliche Westverschiebung ins preußisch geprägte Oberschlesien und die Erfahrungen unter dem Kommunismus haben seinen Sinn für Tatsachen und Ideologien ebenso geschärft wie den Fluchtreflex aus einer allzu dominanten Wirklichkeit.
Als Gymnasiast kommt ihm die polnische Übersetzung von Rilkes „Duineser Elegien“ in die Hände. „Ich stand auf dem Gehweg“, schreibt Zagajewski, „erfüllt von den Geräuschen eines gewöhnlichen kommunistischen Nachmittags, und las zum ersten Mal die magischen Sätze: ‚Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen‘ (…) Die Straße war plötzlich verschwunden, die politischen Systeme hatten sich verflüchtigt, der Tag stand über der Zeit, ich berührte die Ewigkeit, die Poesie erwachte.“ Nun ist Zagajewski, auch wenn er sich von Rilke fast mystisch aus der kommunistischen Wirklichkeit hinaustragen lässt, selbst kein Mystiker, kein Schwärmer – nicht einmal für Rilke, den er sehr bewundert. Seine Lyrik, und die Essays ebenso, halten eine elegante Schwebe zwischen Pragmatismus und Entrückung, „Tag“ und „Nacht“.
Die Texte, die in diesem Band versammelt sind, berühren die Stationen eines unruhigen Lebenswegs. Als junger Mann hatte Zagajewski aktiv an der lebendigen und liberalen Studentenkultur in Krakau teilgenommen. Mit den März-Unruhen von 1968 und der neuen antisemitischen und anti-intellektuellen Tendenz in Polen wurden Zagajewski und viele seiner Freude fast zwangsläufig zu „Regimekritikern“. Mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 wird dann auch diese prekäre Position unhaltbar. Wie vor ihm schon Dichter wie Zbigniew Herbert oder Czesław Miłosz entscheidet sich auch Zagajewski für den Gang ins Exil, aus dem er nach längeren Aufenthalten in Frankreich und den USA erst 2002 zurückkehrt. Muss man als Pole ins Exil gegangen sein, um wie Joseph Conrad, wie Miłosz oder Zagajewski, ein „Weltschriftsteller“ zu werden? Möglicherweise, aber Polens berühmteste Dichterin, Wisława Szymborska, enge Freundin und Vertraute von Zagajewski, hat ein Leben lang Krakau trotz aller Widrigkeiten kaum verlassen. Auch für Zagajewski, den Lemberger im Exil, ist Krakau mit seinem geistigen und literarischen Leben der Mittelpunkt der Welt geblieben. Das hindert ihn nicht, in den späten Texten dieses Buches deutliche Kritik zu äußern am aktuellen National-Konservatismus und -Katholizismus der polnischen Regierung. „Eine nationalistische, xenophobe Gruppierung“, schreibt er, sei „an die Macht gekommen und verkündet die Notwendigkeit, angesichts einer Invasion der ‚Moderne‘ die ‚traditionellen Werte‘ zu verteidigen.“ Aus Erfahrung und aus Neigung betrachtet er sich als „Europäer“ – warum findet diese Haltung, fragt sich Zagajewski, nicht mehr Zustimmung, in Polen und anderswo? Sein Antwortversuch führt ihn zurück zu „Tag“ und „Nacht“, Realitätssinn und Offenbarung. „Wir haben“, meint Zagajewski, „Probleme mit der Koordinierung von religiösem Erlebnis und kühler Überlegung, von Leidenschaft und Menschenrechten.“ Das ist vielleicht doch mehr als nur noch ein Versuch, Europa „eine Seele zu geben“. Zagajewskis Plädoyer für ein, sagen wir, spirituell empfängliches Europa ist gedeckt durch eigene Erfahrungen mit den Tatsachen und einen über alle Tatsachen hinausgreifenden Möglichkeitssinn. Die Zeiten sind nicht gut, weder für Poesie noch für politische Veränderungen, aber man darf nicht aufhören, sagt er, „die stummen, beharrlichen Ereignisse mit unserer eigenen Musik zu sättigen“. Man findet unter den vorwiegend zustimmenden Texten zu bekannten (Rilke, die Manns und andere) und weniger bekannten (Barańczak, Kornhauser, Czapski) Autoren zum Glück auch die eine oder andere kritische Einlassung. Zagajewski ist nicht mild, wenn er Anlass zur Kritik sieht, und er findet ihn etwa bei dem sonst vielgelobten W. G. Sebald.
„Winfried Georg Sebald, der die schweren hegelianisch-wagnerianischen Vornamen (…) zugunsten eines leichten, kosmopolitischen Namens ablegte und der fortan für seine Freunde nur noch ‚Max‘ war“, müsse im Lichte dieser Namens-„Transaktion“ gelesen werden, schreibt Zagajewski eingangs. Trotz seiner Bewunderung für Sebald als Stilisten hat Zagajewski mit diesem Autor ein eher vielleicht „ethisches“ Problem: Sebald habe sich ganz und gar in die Schreibrolle des Holocaust-„Survivors“ hineinfantasiert, die man als Deutscher seiner Generation sich allenfalls negativ „erträumen“ konnte. Auf der Strecke geblieben sei bei diesem Exzess an Melancholie und Trauer nicht die Schönheit (über die Sebald reichlich gebot), aber die Freude, oder auch der Witz, die nur Sebald fehlten, nicht aber notwendigerweise einer empirischen Holocaust-Überlebenden. Zagajewskis Argument gegen Sebald und damit wohl auch gegen Adorno heißt: „Doch die Shoah hat die Substanz der Welt nicht vollkommen verändert; sie wirft einen Schatten auf die Welt und alles, was in der Welt geschieht.“ Der Autor dieses Schattens sei Sebald.
Zagajewskis poetischer Gegenbefund aus dem Krakau seiner Tage, etwa von „Frühlingsbäume(n) und elegant gekleideten Abiturienten“ im Planty-Park ist aber dieser: „Die Welt existiert weiterhin.“ Und weiter: „Und es existiert unsere Rührung“ – angesichts einer Welt, die auch im vollen Bewusstsein des Schattens nicht aufhört, schön zu sein.
In Polen sei eine nationalistische,
xenophobe Gruppierung
an die Macht gekommen
Zagajewski ist nicht mild,
wenn er Anlass zur Kritik sieht,
etwa bei W. G. Sebald
Adam Zagajewski:
Poesie für Anfänger.
Essays. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
280 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Welt
In seinen letzten Essays beklagt
Adam Zagajewski den Zustand Europas
VON CHRISTOPH BARTMANN
Es gibt Wörter, moderne oder modische, für die Adam Zagajewski nur sanften Spott übrighat: „interdisziplinär“, „Algorithmus“ oder „diachron“. Er ist zwar selbst ein Modernist, aber eher ein Modernist im Sinne Rilkes – und damit fast auch schon ein Anti-Modernist. Er hat studiert, Philosophie und Psychologie, sich aber vom akademischen Schreiben ferngehalten. Er war Dissident, im Polen der Siebzigerjahre, aber er kann sich für den künstlerischen Gesellschaftsaktivismus von heute nicht erwärmen. Er hat Bekanntschaft mit der großen Geschichte gemacht (oder sie mit ihm), aber als Lyriker lebt er ebenso sehr von der Kontemplation. Ohne Schönheit, ohne die zumindest geahnte „beauté du monde“ (hier zitiert Zagajewski den großen Kritiker Jean Starobinski) ist an Poesie nicht zu denken. Das wäre vielleicht die erste Lektion seines letzten Buches, des Essaybandes „Poesie für Anfänger“.
Im März ist Adam Zagajewski, Polens bedeutendster Lyriker, in Krakau gestorben. Gleich nach seiner Geburt in Lemberg 1945, war die Familie ins oberschlesische Gliwice/Gleiwitz umgesiedelt worden. Die von Stalin betriebene Westverschiebung Polens hatte Churchill auf eine markante Formel gebracht: „Wie Soldaten, die seitlich wegtreten“. Zagajewskis persönliche Westverschiebung ins preußisch geprägte Oberschlesien und die Erfahrungen unter dem Kommunismus haben seinen Sinn für Tatsachen und Ideologien ebenso geschärft wie den Fluchtreflex aus einer allzu dominanten Wirklichkeit.
Als Gymnasiast kommt ihm die polnische Übersetzung von Rilkes „Duineser Elegien“ in die Hände. „Ich stand auf dem Gehweg“, schreibt Zagajewski, „erfüllt von den Geräuschen eines gewöhnlichen kommunistischen Nachmittags, und las zum ersten Mal die magischen Sätze: ‚Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen‘ (…) Die Straße war plötzlich verschwunden, die politischen Systeme hatten sich verflüchtigt, der Tag stand über der Zeit, ich berührte die Ewigkeit, die Poesie erwachte.“ Nun ist Zagajewski, auch wenn er sich von Rilke fast mystisch aus der kommunistischen Wirklichkeit hinaustragen lässt, selbst kein Mystiker, kein Schwärmer – nicht einmal für Rilke, den er sehr bewundert. Seine Lyrik, und die Essays ebenso, halten eine elegante Schwebe zwischen Pragmatismus und Entrückung, „Tag“ und „Nacht“.
Die Texte, die in diesem Band versammelt sind, berühren die Stationen eines unruhigen Lebenswegs. Als junger Mann hatte Zagajewski aktiv an der lebendigen und liberalen Studentenkultur in Krakau teilgenommen. Mit den März-Unruhen von 1968 und der neuen antisemitischen und anti-intellektuellen Tendenz in Polen wurden Zagajewski und viele seiner Freude fast zwangsläufig zu „Regimekritikern“. Mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 wird dann auch diese prekäre Position unhaltbar. Wie vor ihm schon Dichter wie Zbigniew Herbert oder Czesław Miłosz entscheidet sich auch Zagajewski für den Gang ins Exil, aus dem er nach längeren Aufenthalten in Frankreich und den USA erst 2002 zurückkehrt. Muss man als Pole ins Exil gegangen sein, um wie Joseph Conrad, wie Miłosz oder Zagajewski, ein „Weltschriftsteller“ zu werden? Möglicherweise, aber Polens berühmteste Dichterin, Wisława Szymborska, enge Freundin und Vertraute von Zagajewski, hat ein Leben lang Krakau trotz aller Widrigkeiten kaum verlassen. Auch für Zagajewski, den Lemberger im Exil, ist Krakau mit seinem geistigen und literarischen Leben der Mittelpunkt der Welt geblieben. Das hindert ihn nicht, in den späten Texten dieses Buches deutliche Kritik zu äußern am aktuellen National-Konservatismus und -Katholizismus der polnischen Regierung. „Eine nationalistische, xenophobe Gruppierung“, schreibt er, sei „an die Macht gekommen und verkündet die Notwendigkeit, angesichts einer Invasion der ‚Moderne‘ die ‚traditionellen Werte‘ zu verteidigen.“ Aus Erfahrung und aus Neigung betrachtet er sich als „Europäer“ – warum findet diese Haltung, fragt sich Zagajewski, nicht mehr Zustimmung, in Polen und anderswo? Sein Antwortversuch führt ihn zurück zu „Tag“ und „Nacht“, Realitätssinn und Offenbarung. „Wir haben“, meint Zagajewski, „Probleme mit der Koordinierung von religiösem Erlebnis und kühler Überlegung, von Leidenschaft und Menschenrechten.“ Das ist vielleicht doch mehr als nur noch ein Versuch, Europa „eine Seele zu geben“. Zagajewskis Plädoyer für ein, sagen wir, spirituell empfängliches Europa ist gedeckt durch eigene Erfahrungen mit den Tatsachen und einen über alle Tatsachen hinausgreifenden Möglichkeitssinn. Die Zeiten sind nicht gut, weder für Poesie noch für politische Veränderungen, aber man darf nicht aufhören, sagt er, „die stummen, beharrlichen Ereignisse mit unserer eigenen Musik zu sättigen“. Man findet unter den vorwiegend zustimmenden Texten zu bekannten (Rilke, die Manns und andere) und weniger bekannten (Barańczak, Kornhauser, Czapski) Autoren zum Glück auch die eine oder andere kritische Einlassung. Zagajewski ist nicht mild, wenn er Anlass zur Kritik sieht, und er findet ihn etwa bei dem sonst vielgelobten W. G. Sebald.
„Winfried Georg Sebald, der die schweren hegelianisch-wagnerianischen Vornamen (…) zugunsten eines leichten, kosmopolitischen Namens ablegte und der fortan für seine Freunde nur noch ‚Max‘ war“, müsse im Lichte dieser Namens-„Transaktion“ gelesen werden, schreibt Zagajewski eingangs. Trotz seiner Bewunderung für Sebald als Stilisten hat Zagajewski mit diesem Autor ein eher vielleicht „ethisches“ Problem: Sebald habe sich ganz und gar in die Schreibrolle des Holocaust-„Survivors“ hineinfantasiert, die man als Deutscher seiner Generation sich allenfalls negativ „erträumen“ konnte. Auf der Strecke geblieben sei bei diesem Exzess an Melancholie und Trauer nicht die Schönheit (über die Sebald reichlich gebot), aber die Freude, oder auch der Witz, die nur Sebald fehlten, nicht aber notwendigerweise einer empirischen Holocaust-Überlebenden. Zagajewskis Argument gegen Sebald und damit wohl auch gegen Adorno heißt: „Doch die Shoah hat die Substanz der Welt nicht vollkommen verändert; sie wirft einen Schatten auf die Welt und alles, was in der Welt geschieht.“ Der Autor dieses Schattens sei Sebald.
Zagajewskis poetischer Gegenbefund aus dem Krakau seiner Tage, etwa von „Frühlingsbäume(n) und elegant gekleideten Abiturienten“ im Planty-Park ist aber dieser: „Die Welt existiert weiterhin.“ Und weiter: „Und es existiert unsere Rührung“ – angesichts einer Welt, die auch im vollen Bewusstsein des Schattens nicht aufhört, schön zu sein.
In Polen sei eine nationalistische,
xenophobe Gruppierung
an die Macht gekommen
Zagajewski ist nicht mild,
wenn er Anlass zur Kritik sieht,
etwa bei W. G. Sebald
Adam Zagajewski:
Poesie für Anfänger.
Essays. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
280 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2021Die lebenslange Suche nach Glanz
Ein letzter Essayband des großen polnischen Dichters Adam Zagajewski
Es ist nicht bekannt, dass der im vergangenen Frühjahr überraschend verstorbene Adam Zagajewski ein klassisches Tagebuch geführt hätte, ein solches also, in dem man unter einem bestimmten Datum aktuelle Ereignisse und Befindlichkeiten notiert. Doch er schrieb einige Essaybände, in denen er reichlich über sich selbst Auskunft gab: "Ich schwebe über Krakau", "Verteidigung der Leidenschaft" oder den 2014 erschienenen Band "Die kleine Ewigkeit der Kunst", den er sogar als "ein Tagebuch ohne Datum" bezeichnete. In jedem dieser Bücher erzählte er über sein ungewöhnliches, ereignisreiches Leben, in dem er beharrlich nach immer höherem Stil und immer tieferen ästhetischen und geistigen Empfindungen strebte - nicht zuletzt aus dem Glauben heraus, dass nur die Kunst vor Vergänglichkeit, Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit schützen kann. Die Kunst, das war in seinem Fall die Poesie, über deren Wesen und Sinn er auch immer wieder nachdachte. "Poesie ist die Suche nach Glanz / Poesie ist der Königsweg, / der uns am weitesten führt", schrieb Zagajewski in einem Gedicht aus dem Band "Unsichtbare Hand". In den fünfundsiebzig Jahren, die ihm vergönnt waren, hatte er genug Zeit zu erkennen, dass dieser Glanz überall zu finden war: an den schönsten Orten der Welt, aber auch in einer grauen, nebligen Herbstlandschaft oder im Alltagsgesicht Krakaus, jener Stadt, für deren Eigenart er besonders empfänglich war.
Diese Suche setzte er in seinem letzten, auf Polnisch 2017 und nun kurze Zeit nach seinem Tod erschienenen Essayband "Poesie für Anfänger" fort. Auch hier denkt er über sein Schreiben nach, etwa darüber, warum es ihn, einen Dichter, immer wieder zum Essay hingezogen habe: Es sei "der Versuch, den Abgrund zwischen den beiden Hauptbestandteilen der poetischen Welt zuzuschütten - zwischen dem Beständigen und dem Unbeständigen, dem Vorhersehbaren und dem Ungezügelten, zwischen Literatur und Epiphanie". Was an diesen selbstbezogenen Passagen besonders besticht, ist die Tatsache, dass Zagajewski zum wiederholten Mal seine Persönlichkeit offenbart, ohne dabei narzisstisch zu wirken.
Und sie faszinieren wegen der Beharrlichkeit, mit der er sein Anrecht auf die Intensität und Ambivalenz der Empfindungen verteidigt, wegen seiner nicht nachlassenden Lust, Eindrücke, die er dem Umgang mit der Hochkultur verdankt, auf sich ebenso intensiv wirken zu lassen wie alltägliche Bilder und Ereignisse, und nicht zuletzt wegen des ruhigen, zurückhaltenden, oft selbstironischen Tons, in dem er die Welt reflektiert.
Vor allem aber schreibt er diesmal über andere Schriftsteller: Dichter und Prosaisten, die ihm aus dem einen oder anderen Grund wichtig waren. Porträts polnischer Autoren, solcher, die man hierzulande kennt - Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Zbigniew Herbert, Aleksander Wat oder Józef Czapski -, und etlicher, die weniger oder gar nicht bekannt sind wie Stanislaw Baranczak, Julian Kornhauser, Hanna Malewska oder Janusz Szuber, fallen naturgemäß persönlicher aus, weil sie seine Freunde, Kollegen, Mitstreiter waren. Er begegnete ihnen oft über Jahre und an verschiedenen Orten, mit ihnen verband ihn die literarische Tradition und der historische, politische, gesellschaftliche und ideologische Hintergrund, aus dem eine Abneigung gegen jede Vermischung von Literatur und Ideologie erwachsen ist: "In kommunistischen Zeiten" seien "selbst herausragende Intellektuelle für einige Jahre der hegelianisch-marxistischen Illusion" erlegen, die etwas Großartiges, nämlich die Befreiung des Menschen, versprach und in der Praxis zu dessen Demütigung und Unglück führte.
Während er über all diese Dichter schreibt, rekonstruiert Zagajewski manche Episode aus seiner eigenen Dichterbiographie, zumindest aus deren Teil, der 1963 begann, als er aus dem schlesischen Gleiwitz nach Krakau kam, um an der Jagiellonen-Universität zu studieren. Fünf Jahre später wurde er durch die politischen Ereignisse an die Spitze einer Dichtergeneration katapultiert, die sich als "Neue Welle" bezeichnete und hochpolitische Lyrik schrieb. Von hier ging er Ende der Siebzigerjahre nach Berlin, um sich bald in Paris niederzulassen, wo Zagajewski weitere zwei Dekaden verbrachte. Irgendwann begann er zwischen Europa und Amerika zu pendeln - dort lehrte er an den Universitäten Houston und Chicago Creative Writing -, wobei von 2002 an nicht mehr Paris, sondern wieder Krakau sein europäischer Standort war.
Zwischen die Porträts der Polen sind Texte über andere literarische Größen gestreut: über Rilke, die Brüder Mann, Antonio Machado, W. G. Sebald, Tomas Tranströmer, Konstantinos Kavafis, C. K. Williams, Michael Krüger und unzählige andere, wenn man auch diejenigen mitrechnet, die er in jedem Essay nebenbei, in Form von kurzen Episoden, Überlegungen, Assoziationen, Vergleichen erwähnt. Es ist ein pures Vergnügen zu verfolgen, wie mühelos Zagajewski mit Fakten aus dem Leben seiner "Hauptakteure" jongliert, wie gründlich er ihr Werk analysiert und dabei enormes Wissen, Belesenheit und gedankliche Tiefe unter Beweis stellt. Und wie er am Rande all dieser 23 Essays über so vieles nachdenkt, was ihn und jeden anderen Dichter betrifft. Über die Kunst, Inspiration zu finden oder zu empfinden. Über die Balance zwischen Konkretem und Abstraktem, aus der die Motivation der Poesie entsteht. Über den Spagat zwischen der Lust am Rückzug in die eigene Gedankenwelt und der Verpflichtung der echten Welt gegenüber. Über den Kompromiss "zwischen Bild und Begriff, zwischen höchster Ernsthaftigkeit und heiterer Ironie". Über Geschichte, Politik, Philosophie, Metaphysik und vieles mehr.
"Das Bestehende ist oft düster, grausam, misslungen", so eine seiner Thesen, "aber Dichter und Prosaschriftsteller betrachten das, was ist, im Licht eines Streichholzes. Dieses Streichholz, dieses Flämmchen, ist der Wunschtraum, der Wunschtraum von Gerechtigkeit, der fast nie direkt ausgesprochen, nie deklariert wird." Dass sein eigenes Streichholz für immer erloschen ist, kann man immer noch kaum fassen. MARTA KIJOWSKA
Adam Zagajewski: "Poesie für Anfänger". Essays.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Hanser Verlag, München 2021. 280 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein letzter Essayband des großen polnischen Dichters Adam Zagajewski
Es ist nicht bekannt, dass der im vergangenen Frühjahr überraschend verstorbene Adam Zagajewski ein klassisches Tagebuch geführt hätte, ein solches also, in dem man unter einem bestimmten Datum aktuelle Ereignisse und Befindlichkeiten notiert. Doch er schrieb einige Essaybände, in denen er reichlich über sich selbst Auskunft gab: "Ich schwebe über Krakau", "Verteidigung der Leidenschaft" oder den 2014 erschienenen Band "Die kleine Ewigkeit der Kunst", den er sogar als "ein Tagebuch ohne Datum" bezeichnete. In jedem dieser Bücher erzählte er über sein ungewöhnliches, ereignisreiches Leben, in dem er beharrlich nach immer höherem Stil und immer tieferen ästhetischen und geistigen Empfindungen strebte - nicht zuletzt aus dem Glauben heraus, dass nur die Kunst vor Vergänglichkeit, Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit schützen kann. Die Kunst, das war in seinem Fall die Poesie, über deren Wesen und Sinn er auch immer wieder nachdachte. "Poesie ist die Suche nach Glanz / Poesie ist der Königsweg, / der uns am weitesten führt", schrieb Zagajewski in einem Gedicht aus dem Band "Unsichtbare Hand". In den fünfundsiebzig Jahren, die ihm vergönnt waren, hatte er genug Zeit zu erkennen, dass dieser Glanz überall zu finden war: an den schönsten Orten der Welt, aber auch in einer grauen, nebligen Herbstlandschaft oder im Alltagsgesicht Krakaus, jener Stadt, für deren Eigenart er besonders empfänglich war.
Diese Suche setzte er in seinem letzten, auf Polnisch 2017 und nun kurze Zeit nach seinem Tod erschienenen Essayband "Poesie für Anfänger" fort. Auch hier denkt er über sein Schreiben nach, etwa darüber, warum es ihn, einen Dichter, immer wieder zum Essay hingezogen habe: Es sei "der Versuch, den Abgrund zwischen den beiden Hauptbestandteilen der poetischen Welt zuzuschütten - zwischen dem Beständigen und dem Unbeständigen, dem Vorhersehbaren und dem Ungezügelten, zwischen Literatur und Epiphanie". Was an diesen selbstbezogenen Passagen besonders besticht, ist die Tatsache, dass Zagajewski zum wiederholten Mal seine Persönlichkeit offenbart, ohne dabei narzisstisch zu wirken.
Und sie faszinieren wegen der Beharrlichkeit, mit der er sein Anrecht auf die Intensität und Ambivalenz der Empfindungen verteidigt, wegen seiner nicht nachlassenden Lust, Eindrücke, die er dem Umgang mit der Hochkultur verdankt, auf sich ebenso intensiv wirken zu lassen wie alltägliche Bilder und Ereignisse, und nicht zuletzt wegen des ruhigen, zurückhaltenden, oft selbstironischen Tons, in dem er die Welt reflektiert.
Vor allem aber schreibt er diesmal über andere Schriftsteller: Dichter und Prosaisten, die ihm aus dem einen oder anderen Grund wichtig waren. Porträts polnischer Autoren, solcher, die man hierzulande kennt - Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Zbigniew Herbert, Aleksander Wat oder Józef Czapski -, und etlicher, die weniger oder gar nicht bekannt sind wie Stanislaw Baranczak, Julian Kornhauser, Hanna Malewska oder Janusz Szuber, fallen naturgemäß persönlicher aus, weil sie seine Freunde, Kollegen, Mitstreiter waren. Er begegnete ihnen oft über Jahre und an verschiedenen Orten, mit ihnen verband ihn die literarische Tradition und der historische, politische, gesellschaftliche und ideologische Hintergrund, aus dem eine Abneigung gegen jede Vermischung von Literatur und Ideologie erwachsen ist: "In kommunistischen Zeiten" seien "selbst herausragende Intellektuelle für einige Jahre der hegelianisch-marxistischen Illusion" erlegen, die etwas Großartiges, nämlich die Befreiung des Menschen, versprach und in der Praxis zu dessen Demütigung und Unglück führte.
Während er über all diese Dichter schreibt, rekonstruiert Zagajewski manche Episode aus seiner eigenen Dichterbiographie, zumindest aus deren Teil, der 1963 begann, als er aus dem schlesischen Gleiwitz nach Krakau kam, um an der Jagiellonen-Universität zu studieren. Fünf Jahre später wurde er durch die politischen Ereignisse an die Spitze einer Dichtergeneration katapultiert, die sich als "Neue Welle" bezeichnete und hochpolitische Lyrik schrieb. Von hier ging er Ende der Siebzigerjahre nach Berlin, um sich bald in Paris niederzulassen, wo Zagajewski weitere zwei Dekaden verbrachte. Irgendwann begann er zwischen Europa und Amerika zu pendeln - dort lehrte er an den Universitäten Houston und Chicago Creative Writing -, wobei von 2002 an nicht mehr Paris, sondern wieder Krakau sein europäischer Standort war.
Zwischen die Porträts der Polen sind Texte über andere literarische Größen gestreut: über Rilke, die Brüder Mann, Antonio Machado, W. G. Sebald, Tomas Tranströmer, Konstantinos Kavafis, C. K. Williams, Michael Krüger und unzählige andere, wenn man auch diejenigen mitrechnet, die er in jedem Essay nebenbei, in Form von kurzen Episoden, Überlegungen, Assoziationen, Vergleichen erwähnt. Es ist ein pures Vergnügen zu verfolgen, wie mühelos Zagajewski mit Fakten aus dem Leben seiner "Hauptakteure" jongliert, wie gründlich er ihr Werk analysiert und dabei enormes Wissen, Belesenheit und gedankliche Tiefe unter Beweis stellt. Und wie er am Rande all dieser 23 Essays über so vieles nachdenkt, was ihn und jeden anderen Dichter betrifft. Über die Kunst, Inspiration zu finden oder zu empfinden. Über die Balance zwischen Konkretem und Abstraktem, aus der die Motivation der Poesie entsteht. Über den Spagat zwischen der Lust am Rückzug in die eigene Gedankenwelt und der Verpflichtung der echten Welt gegenüber. Über den Kompromiss "zwischen Bild und Begriff, zwischen höchster Ernsthaftigkeit und heiterer Ironie". Über Geschichte, Politik, Philosophie, Metaphysik und vieles mehr.
"Das Bestehende ist oft düster, grausam, misslungen", so eine seiner Thesen, "aber Dichter und Prosaschriftsteller betrachten das, was ist, im Licht eines Streichholzes. Dieses Streichholz, dieses Flämmchen, ist der Wunschtraum, der Wunschtraum von Gerechtigkeit, der fast nie direkt ausgesprochen, nie deklariert wird." Dass sein eigenes Streichholz für immer erloschen ist, kann man immer noch kaum fassen. MARTA KIJOWSKA
Adam Zagajewski: "Poesie für Anfänger". Essays.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Hanser Verlag, München 2021. 280 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Und wie man es von diesem wunderbar bescheidenen, lakonischen, witzigen und absolut uneitlen Dichter erwarten durfte, spricht er darin nur ganz selten von sich selbst und viel lieber über andere: über Bekannte (W.G. Sebald, Zbigniew Herbert) und - zumindest hierzulande - Unbekannte (Janusz Szuber, Utz Rachowski). Wer danach keine Lust verspürt, die Werke dieser Autoren selbst zur Hand zu nehmen, ist für die Poesie vermutlich für immer verloren." Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 10.07.21