Das Türkische ist ein Kosmos für sich und beschränkt sich geografisch nicht nur auf das Staatsgebiet der Türkischen Republik, wie man es heute kennt. Vom Balkan bis in den Osten Sibiriens leben und fördern Dynastien die türkische Kultur und Literatur in ihrer ganzen Bandbreite. Wolfgang Günter Lerch folgt in chronologischer Weise dem reichhaltigen Schrifttum dieser Turkvölker und erschließt damit erstmals das kaum behandelte Thema der facettenreichen türkischen Literatur außerhalb der Türkei.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2013Ein Zeitalter in einer Person
Wolfgang Günter Lerch über Yahya Kemal Beyatli
Als das mazedonische Skopje noch Üsküp hieß und im Osmanischen Reich lag, kam dort Ahmet Agâh (1884 bis 1958), der sich später Yahya Kemal Beyatli nennen sollte, zur Welt. Der Dichter-Diplomat ist hier ein Unbekannter. In der Türkei gilt er als bedeutender Autor. Nun hat Wolfgang Günter Lerch ihm die Monographie "Poesie und Geschichte" gewidmet.
Lerch, bis zu seiner Pensionierung im vorigen Jahr Redakteur im Politikteil dieser Zeitung, hat seine profunden Kenntnisse türkischer Literatur bereits in mehreren Veröffentlichungen vermittelt. So leitet er den Leser auch hier anhand seines Wissens in die Fährten eines exemplarischen Dichterlebens. "Wer sich mit Person und Werk dieses Dichters beschäftigt, kann mit Fug und Recht sagen, ein Zeitalter werde in seiner Person besichtigt. Ein Zeitalter der Um- und Aufbrüche, rasender Veränderungen und tiefer Einschnitte im Leben und Denken der Türken", schreibt Lerch. Darüber hinaus spiegelt für ihn die Tatsache, dass Kemal heutzutage mehr und mehr zum Kanon der Literatur gehöre, viel über die gegenwärtige türkische Gesellschaft.
Die Epoche Yahya Kemals war wesentlich von Mustafa Kemal Atatürk geprägt, der bekanntlich mit seinem laizistischen Nationalstaatsentwurf einen radikalen Gegenentwurf zum abgedankten orientalisch und religiös verankerten Osmanischen Reich schuf. Die Veränderungen, die das für die Sprache bedeutete, gehen dabei weit über die Umstellung von arabischer auf lateinische Schrift hinaus - auch die ganzen Traditionen des Sprachgebrauchs änderten sich. Lerch zitiert Max Horten, der im Vorwort seiner 1916 publizierten türkischen Sprachlehre noch schrieb: "Wer das Türkische erlernen will, muss ... drei überaus verschiedene Sprachen sich aneignen: Türkisch, Persisch und Arabisch, denn aus diesen dreien besteht das Türkisch-Osmanische." Im Zuge des durch Atatürk geprägten nationalbewussten Sprachgebrauchs wurden die persischen und arabischen Einflüsse des multikulturellen Osmanischen Reichs jedoch bald weitestgehend zurückgedrängt. Solche Entwicklungen gehen auch an der Dichtung nicht vorüber.
Yahya Kemal schien aber ein interessantes Doppelleben zu führen: einerseits als französisch geprägter Literat, der neun Jahre seines Lebens im Paris der Symbolisten verbrachte, andererseits als Dichter, der am klassischen, orientalisch geprägten Formenkanon festhielt. Oder auch: einerseits als Jungtürken- und Atatürk-Sympathisant, anderseits als "letzter osmanischer Dichter" der Divantradition. Verweisreich führt Lerch deren Bezüge von Panegyrik über türkische Anakreontik und an Rumi orientierter Mystik aus. Gedichtbeispiele belegen dabei vor allem auf inhaltlicher Ebene die Einflüsse. Wie Kemal Prosodie und Versmaß arabisch-persischer Ausprägung kongenial dem Türkischen anverwandelt habe, das lässt sich allein durch eine deutsche Übersetzung natürlich nicht nachvollziehen, sondern nur als Forschungsinteresse aufnehmen.
Die Begeisterung dafür ist sprachlich-musikalisch nachvollziehbar. Die Themen dieser Lyrik werden es - abgesehen von der kunstvollen Naturmystik und fast obligatorischen Istanbul-Anbetung - nicht für jeden sein: Historisierender Patriotismus, Schlachtgesänge, metaphernreiches Begehren - das wirkt, trotz Lerchs Kontextualisierung, von hier und heute aus gesehen ein bisschen wie ein Hölderlin, dem der Äther ausgegangen ist.
Wenn dieser Dichter, der zu seinen Lebzeiten nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, heute noch und wieder verlegt wird, dann mag das, so kann aus Lerchs Darstellungen geschlossen werden, einerseits an seinem nationalistischen, konservativen Impetus liegen. Andererseits zeigt der Autor anhand bekannter Gegenwartsschriftsteller, wie gerade die Schulung durch traditionelle Formenkanons auch in der Türkei wieder zum Thema geworden ist und jenseits von neo-osmanischen Tendenzen das Interesse an verdrängtem türkisch-osmanischem Vokabular wächst. "Die Summe eines Dichterlebens" im hinteren Teil der Monographie wird anhand solcher gegenteiliger Interessen, die dennoch auf dieselbe historische Schnittstelle gerichtet sind, zum Brennpunkt türkischer Gegenwart. Das Bild des Osmanischen Reiches bedürfe nun dringend einer Korrektur und Differenzierung, "jenseits von ideologischem Popanz". Und als informierter Beobachter landet der Autor auf seinem intellektuellen Streifzug durch das Zeitalter eines toten Dichters, ohne dass dies explizit intendiert gewesen wäre, dann fast zwangsläufig vor den Diskurs-Toren des derzeit so umkämpften Istanbuler Gezi-Parks.
ASTRID KAMINSKI
Wolfgang Günter Lerch: "Poesie und Geschichte". Über den türkischen Dichter Yahya Kemal Beyatli.
Verlag Allitera, München 2013. 113 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Günter Lerch über Yahya Kemal Beyatli
Als das mazedonische Skopje noch Üsküp hieß und im Osmanischen Reich lag, kam dort Ahmet Agâh (1884 bis 1958), der sich später Yahya Kemal Beyatli nennen sollte, zur Welt. Der Dichter-Diplomat ist hier ein Unbekannter. In der Türkei gilt er als bedeutender Autor. Nun hat Wolfgang Günter Lerch ihm die Monographie "Poesie und Geschichte" gewidmet.
Lerch, bis zu seiner Pensionierung im vorigen Jahr Redakteur im Politikteil dieser Zeitung, hat seine profunden Kenntnisse türkischer Literatur bereits in mehreren Veröffentlichungen vermittelt. So leitet er den Leser auch hier anhand seines Wissens in die Fährten eines exemplarischen Dichterlebens. "Wer sich mit Person und Werk dieses Dichters beschäftigt, kann mit Fug und Recht sagen, ein Zeitalter werde in seiner Person besichtigt. Ein Zeitalter der Um- und Aufbrüche, rasender Veränderungen und tiefer Einschnitte im Leben und Denken der Türken", schreibt Lerch. Darüber hinaus spiegelt für ihn die Tatsache, dass Kemal heutzutage mehr und mehr zum Kanon der Literatur gehöre, viel über die gegenwärtige türkische Gesellschaft.
Die Epoche Yahya Kemals war wesentlich von Mustafa Kemal Atatürk geprägt, der bekanntlich mit seinem laizistischen Nationalstaatsentwurf einen radikalen Gegenentwurf zum abgedankten orientalisch und religiös verankerten Osmanischen Reich schuf. Die Veränderungen, die das für die Sprache bedeutete, gehen dabei weit über die Umstellung von arabischer auf lateinische Schrift hinaus - auch die ganzen Traditionen des Sprachgebrauchs änderten sich. Lerch zitiert Max Horten, der im Vorwort seiner 1916 publizierten türkischen Sprachlehre noch schrieb: "Wer das Türkische erlernen will, muss ... drei überaus verschiedene Sprachen sich aneignen: Türkisch, Persisch und Arabisch, denn aus diesen dreien besteht das Türkisch-Osmanische." Im Zuge des durch Atatürk geprägten nationalbewussten Sprachgebrauchs wurden die persischen und arabischen Einflüsse des multikulturellen Osmanischen Reichs jedoch bald weitestgehend zurückgedrängt. Solche Entwicklungen gehen auch an der Dichtung nicht vorüber.
Yahya Kemal schien aber ein interessantes Doppelleben zu führen: einerseits als französisch geprägter Literat, der neun Jahre seines Lebens im Paris der Symbolisten verbrachte, andererseits als Dichter, der am klassischen, orientalisch geprägten Formenkanon festhielt. Oder auch: einerseits als Jungtürken- und Atatürk-Sympathisant, anderseits als "letzter osmanischer Dichter" der Divantradition. Verweisreich führt Lerch deren Bezüge von Panegyrik über türkische Anakreontik und an Rumi orientierter Mystik aus. Gedichtbeispiele belegen dabei vor allem auf inhaltlicher Ebene die Einflüsse. Wie Kemal Prosodie und Versmaß arabisch-persischer Ausprägung kongenial dem Türkischen anverwandelt habe, das lässt sich allein durch eine deutsche Übersetzung natürlich nicht nachvollziehen, sondern nur als Forschungsinteresse aufnehmen.
Die Begeisterung dafür ist sprachlich-musikalisch nachvollziehbar. Die Themen dieser Lyrik werden es - abgesehen von der kunstvollen Naturmystik und fast obligatorischen Istanbul-Anbetung - nicht für jeden sein: Historisierender Patriotismus, Schlachtgesänge, metaphernreiches Begehren - das wirkt, trotz Lerchs Kontextualisierung, von hier und heute aus gesehen ein bisschen wie ein Hölderlin, dem der Äther ausgegangen ist.
Wenn dieser Dichter, der zu seinen Lebzeiten nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, heute noch und wieder verlegt wird, dann mag das, so kann aus Lerchs Darstellungen geschlossen werden, einerseits an seinem nationalistischen, konservativen Impetus liegen. Andererseits zeigt der Autor anhand bekannter Gegenwartsschriftsteller, wie gerade die Schulung durch traditionelle Formenkanons auch in der Türkei wieder zum Thema geworden ist und jenseits von neo-osmanischen Tendenzen das Interesse an verdrängtem türkisch-osmanischem Vokabular wächst. "Die Summe eines Dichterlebens" im hinteren Teil der Monographie wird anhand solcher gegenteiliger Interessen, die dennoch auf dieselbe historische Schnittstelle gerichtet sind, zum Brennpunkt türkischer Gegenwart. Das Bild des Osmanischen Reiches bedürfe nun dringend einer Korrektur und Differenzierung, "jenseits von ideologischem Popanz". Und als informierter Beobachter landet der Autor auf seinem intellektuellen Streifzug durch das Zeitalter eines toten Dichters, ohne dass dies explizit intendiert gewesen wäre, dann fast zwangsläufig vor den Diskurs-Toren des derzeit so umkämpften Istanbuler Gezi-Parks.
ASTRID KAMINSKI
Wolfgang Günter Lerch: "Poesie und Geschichte". Über den türkischen Dichter Yahya Kemal Beyatli.
Verlag Allitera, München 2013. 113 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Interessant findet Astrid Kaminski das Buch schon, das Wolfgang Günter Lerch, pensionierter FAZ-Redakteur, hier vorlegt. Aber auch ein bisschen speziell. Die Geschichte des im heute mazedonischen, damals osmanisch beherrschten Skopje geborenen Dichters Yahya Kemal Beyatli fällt zusammen mit der Geschichte der Gründung des laizistischen Nationalstaates durch Kemal Atatürk. Damit einher ging auch die Ablösung der arabischen Schrift durch die lateinische. Das bedeutete, so Kaminski, dass Beyatli als Dichter eine Art Doppelleben führte: einerseits war er von der osmanischen Tradition der Dichtkunst geprägt, die ihrerseits von arabischen und persischen Einflüssen bestimmt war, andererseits war er ein Anhänger der Pariser Symbolisten, in deren Kreis er viele Jahre lebte. Den Gedichten selbst kann Kaminski allerdings nicht so viel abgewinnen wie Lerchs "intellektuellem Streifzug" durch diese Zeit des Übergangs.
© Perlentaucher Medien GmbH
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