Der abschließende Band der kritischen Ausgabe von Scaligers 'Poetik' enthält an erster Stelle den überaus detaillierten Index der Erstausgabe, der die Rezeption des Werkes in maßgeblicher Weise steuerte und beeinflusste. Hierbei sind die Verweise auf die vorliegende Ausgabe umgestellt worden. Darüber hinaus wird das Gesamtwerk durch eine Reihe von Indices im modernen Wortsinn erschlossen: Es wird ein Stellenregister geboten, dem ein Sach-, Namen-, rhetorisches und metrisches Register an die Seite treten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.1995Der Mann mit dem eisernen Magen
Eine Kunstlehre für Jahrhunderte: Julius Cäsar Scaligers monumentale Poetik auf deutsch
Eines der ehrgeizigsten und aufwendigsten Unternehmen der neueren Übersetzungsgeschichte ist das Projekt, das monumentale poetologische Standardwerk der europäischen Spätrenaissance ins Deutsche zu übertragen. Julius Cäsar Scaligers lateinisches Kompendium, aus sieben Büchern bestehend und zuerst 1561 gedruckt, wirkt auf den ersten Blick unrettbar fremd und vergangen. Doch bis ins 18. Jahrhundert galt Scaliger als Papst einer Literaturtheorie, die das zeitlose, aus der Antike abzuleitende "Wesen" der Dichtung erfaßt zu haben glaubte.
Sein Ruhm wurde kaum verdunkelt von den konzeptionellen Widersprüchen des Werkes und seiner manchmal naiven Kritiklosigkeit. Da wurde der Dichter als Schöpfer einer neuen Wirklichkeit gerühmt, und doch blieb diese platonische Huldigung an den Genius durchaus folgenlos. Denn Scaliger wollte dem poetischen Handwerker zur Seite stehen. Er destillierte die literarische Überlieferung des Altertums und stellte Modelle zu gefälliger "Nachahmung" vor. Der Dichter hatte sich nicht auf die Erfahrung des unmittelbar "Natürlichen" einzulassen, sondern einem sozialen Auftrag zu gehorchen, der moralisch definiert war. Daß Dichtung "nützlich" zu sein habe, wurde aus Horaz entnommen, und indem Poesie mit dem rhetorischen Regelwerk des eleganten Stils verschmolz, trat bald in den Hintergrund, was Scaliger zumeist mit aristotelischen Kategorien zu erläutern suchte. Denn die Theorie der fiktiven "Wahrscheinlichkeit" wurde in kleine pädagogische Münze gewechselt. Der Dichter hat idealisierend darzustellen, was geschehen soll, nicht aber Möglichkeiten des Vorstellbaren zu erkunden.
Nur die moralisch gezähmte Natur bietet sich so der poetischen Nachahmung dar. Sie ist aufgehoben in den großen Dichtern der abendländischen Zivilisation, in Vergil vor allem. Indem der moderne Autor in die Fußstapfen seiner großen Vorgänger tritt, vereinigt er, was sich aus heutiger Sicht kaum harmonisieren läßt: das Postulat einer quasi natürlichen Wirklichkeit von Gnaden der ästhetischen Einbildungskraft und jene krude Zweckbestimmung der Poesie, die sich dem "Geziemenden" anpaßt.
Was immer noch fasziniert, ist, daß dieser Thesaurus alles in einem sein wollte: ein Register der poetischen Gattungen bis hin zu den Kleinformen der Lyrik, ein Fundus von Beispielen und Techniken bis hin zur elementaren Verslehre, nicht zuletzt ein kritisches Inventar von Rezensionen antiker und moderner Autoritäten, das mit schlagkräftigen Definitionen und kühnen, wenn auch schiefen Urteilen keineswegs haushälterisch umging. So zog Scaligers Mammutwerk trotz seiner offenen Nahtstellen und eklatanten Schwächen eine polyhistorische Bilanz der frühneuzeitlichen Literaturtheorie und Literaturgeschichte.
Bisher konnte man Scaliger schon in dem von August Buck besorgten und souverän eingeleiteten Nachdruck der Erstausgabe lesen. Nun also der ganze Scaliger zum ersten Male in eine moderne Sprache übersetzt! Drei von den fünf geplanten Bänden liegen vor und bestätigen, daß das Projekt zu Recht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Mit dem Übersetzer Luc Deitz (für die vorliegenden Bände) und dem Konstanzer Latinisten Manfred Fuhrmann als Berater geriet Scaliger in sachkundige Hände, was bereits die Einleitung illustriert. Sie widmet sich der Differentialdiagnose der verschiedenen älteren Ausgaben und läßt an philologischer und buchgeschichtlicher Penibilität nichts zu wünschen übrig. Von dem Autor ist allerdings kaum die Rede.
Ein Quentchen an human interest hätte dem strengen Ernst der wissenschaftlichen Leistung gewiß keinen Abbruch getan. Denn das wünschenswerte Porträt hätte wohl begonnen mit der Tatsache, daß Scaliger eigentlich gar nicht Scaliger hieß. Der nachmals so berühmte Gelehrte usurpierte den Namen eines Gönners, wurde tatsächlich aber 1484 in Padua als Sohn des Barbiers Benedetto Bordon geboren. Scaligers stolze Ableitung seines Namens vom Adelsgeschlecht der della Scala trug ihm und noch seinem Sohn, dem berühmten Philologen Joseph Justus Scaliger, den Spott der Wissenden ein.
Julius Cäsar war also ein Aufsteiger mit dem notorischen Habitus des Pedanten und Dilettanten. Das mag seine Sammelwut, seine Energie und sein Selbstbewußtsein erklären. Die philologischen Interessen wurden zeitweilig dem Studium der Medizin und der aristotelischen Naturkunde untergeordnet. Die sieben Bücher der Poetik bildeten den Abschluß eines Schaffens, das beachtliche, auch poetologisch aufschlußreiche Lyrik umfaßte und mit Vorliebe in die zeitgenössischen Diskussionen eingriff: in den sogenannten Ciceronianismus-Streit etwa und in naturphilosophische Auseinandersetzungen, die mit dem Namen Cardano verknüpft waren.
Als Scaliger kurz vor seinem Tode einen Verleger für sein opus maximum suchte, erhielt er zunächst eine Abfuhr. Kaum zu vermuten war, daß sein Werk bis 1617 in zahlreichen Auflagen erscheinen würde. Deren Geschichte, die sich bis auf Spuren der verlorenen Handschrift und spätere Korrekturen verfolgen läßt, wird von den Herausgebern akribisch begutachtet. Aus plausiblen Gründen entschied man sich, für die historisch-kritische Fassung neben der Erstausgabe die Edition von 1607 heranzuziehen. Der Druckgeschichte folgt in der Einleitung ein Grundriß der Rezeptionswege im Spektrum der Nationalliteraturen. Daß Scaliger gerade in Deutschland, nämlich durch Martin Opitz' Buch von der "Deutschen Poeterey" (1624), die Vorstellung von Poesie und von ihren Gattungen prägte, ist mit Recht hervorgehoben.
Bedenklich stimmt die These, Scaligers Werk sei zu seiner Zeit schon anachronistisch gewesen, weil es die aufkommende Literatur der Nationalsprachen links liegen ließ und nur den lateinischen Dichter ins Auge faßte. Wieso "anachronistisch"? Die klassische Literatur der Niederlande zum Beispiel oder gar die internationale Jesuitenliteratur entfaltete sich im Medium des Lateinischen. An welche muttersprachlichen Exempel hätte Scaliger denn das tüftelige Tableau seiner Verslehre anlehnen können, in welcher Muttersprache das Spektrum der Stilmittel und Genera verdeutlichen sollen? Ganz abgesehen davon, daß sich die neuen Nationalliteraturen jedenfalls in Nordeuropa ausdrücklich auf die Umsetzung des antiken und humanistischen Formenkanons kaprizierten.
Die überragende Leistung der Herausgeber liegt in der Auseinandersetzung mit dem Text. Scaligers Latein orientierte sich am damals modischen Geschmack einer lakonischen Syntax. Das spürt man auch im Deutschen, wobei der schmale Korridor zwischen Ausgangs- und Zielsprache so genau getroffen ist, daß dem Lateinischen zwar bisweilen das Mieder gelockert wird, die Genauigkeit der Diktion aber nicht darunter leidet. Aus dem "corpus exercitatum" wird so ein "durchtrainierter Körper", und die Formel "rebus agendis praeest" heißt nun "und gern die Initiative zum Handeln ergreift". Dabei war nicht nur Scaliger zu übersetzen, sondern zugleich die Masse der lateinischen und griechischen Zitate und das antiquarische Gewirr der manchmal seltsamen Termini und Distinktionen. Das ist glänzend gelungen. Zudem wird dem Leser durch den Nachweis der Zitate gedient, wenn nötig auch durch die kritische Diskussion von Varianten oder zitierten Textausgaben.
Wer Informationen über den poetologischen Gehalt, die Quellen und die Anlage des Werkes sucht, sieht sich an die den einzelnen Büchern beigegebenen Einleitungen verwiesen. Während sich das erste Buch über Wesen und Entwicklung der Poesie ausläßt, bietet das zweite kuriose Lehrstücke der Metrik, wobei deren Versfüße wie in einer Käfersammlung ausgestellt werden: nach Arten geordnet und in aufsteigender Linie zum Studium aufgespießt. Das dritte, berühmteste Buch behandelt die Darstellung von "Personen, Sachen und Begleitumständen", also die gedankliche Arbeit des Autors in der Spannung von "Wörtern" und "Sachen", demgemäß auch die Figurenlehre und die Gattungsvorschriften. Das vierte Buch befaßt sich mit dem Stil, den Wortfiguren und dem Klang der Wörter.
Den Herausgebern ist es gelungen, ungeahnte Blicke in Scaligers schriftstellerische Werkstatt zu werfen. Wir erfahren viel Neues über seine Quellen: manchmal polymathische Kompendien, also Material aus zweiter Hand, manchmal entlegene, heute kaum bekannte Verfasser der Spätantike. Der Frage nach den verwendeten Ausgaben wird viel Scharfsinn zugewandt. Daß gerade Scaligers komplex strukturiertes drittes Buch mit seinen Bestimmungen des Epos, des Dramas und des Epigramms zu den einflußreichsten der Poetik gehörte, ist im Rekurs auf die Forschung unterstrichen.
Es berührt sympathisch, daß die außerordentliche Mühe und Sorgfalt der Herausgeber durchaus nicht auf eine kritiklose Identifikation mit Scaligers Werk hinausläuft. Sie machen klar, wo Scaliger originell war, und schlagen doch keinen Bogen um drastisch benannte Abgründe seiner alexandrinischen Zitierwut. "Spätantiker Lexikonfluß, verknöcherte und beinahe schon scholastisch anmutende Grammatikerelukubrate, häufig widersprüchliches Scholienmaterial unbestimmter Provenienz, dickleibige Renaissancekompilationen, die schon zur Zeit ihres Erscheinens eines fortlaufenden Kommentars bedurften" - all dies hat der Mann, der sich Scaliger nannte, mit eisernem Magen mehr oder weniger verdaut. Vor diesem manchmal auch tristen Hintergrund läßt sich würdigen, was an intellektueller Anstrengung in die "Poetices libri septem" eingegangen ist. Die Übersetzer und Herausgeber, vor allem also Luc Deitz, sind beiden Aspekten gerecht geworden - mit bewundernswerter Ausdauer, mit Distanz und doch der notwendigen Liebe zum fernen Gegenstand und mit einer historiographischen wie sprachlichen Souveränität, die Respekt gebietet. Man wird es ihnen nach den vorliegenden Bänden und erst recht nach dem Erscheinen der folgenden Bücher danken, nicht nur im bloßen Wort, sondern in Lektüre und Konsultation. WILHELM KÜHLMANN
Julius Cäsar Scaliger: "Poetices libri septem". Sieben Bücher über die Dichtkunst. Lateinisch-deutsch. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann herausgegeben von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Band I: Buch 1 und 2; Band II: Buch 3, Kapitel 1 - 94; Band III: Buch 3, Kapitel 95 - 126 und Buch 4. Jeweils hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Verlag frommann-holzboog, Stuttgart/Bad Cannstatt 1994 und 1995. 633, 575 und 653 S., geb., je Band 380,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Kunstlehre für Jahrhunderte: Julius Cäsar Scaligers monumentale Poetik auf deutsch
Eines der ehrgeizigsten und aufwendigsten Unternehmen der neueren Übersetzungsgeschichte ist das Projekt, das monumentale poetologische Standardwerk der europäischen Spätrenaissance ins Deutsche zu übertragen. Julius Cäsar Scaligers lateinisches Kompendium, aus sieben Büchern bestehend und zuerst 1561 gedruckt, wirkt auf den ersten Blick unrettbar fremd und vergangen. Doch bis ins 18. Jahrhundert galt Scaliger als Papst einer Literaturtheorie, die das zeitlose, aus der Antike abzuleitende "Wesen" der Dichtung erfaßt zu haben glaubte.
Sein Ruhm wurde kaum verdunkelt von den konzeptionellen Widersprüchen des Werkes und seiner manchmal naiven Kritiklosigkeit. Da wurde der Dichter als Schöpfer einer neuen Wirklichkeit gerühmt, und doch blieb diese platonische Huldigung an den Genius durchaus folgenlos. Denn Scaliger wollte dem poetischen Handwerker zur Seite stehen. Er destillierte die literarische Überlieferung des Altertums und stellte Modelle zu gefälliger "Nachahmung" vor. Der Dichter hatte sich nicht auf die Erfahrung des unmittelbar "Natürlichen" einzulassen, sondern einem sozialen Auftrag zu gehorchen, der moralisch definiert war. Daß Dichtung "nützlich" zu sein habe, wurde aus Horaz entnommen, und indem Poesie mit dem rhetorischen Regelwerk des eleganten Stils verschmolz, trat bald in den Hintergrund, was Scaliger zumeist mit aristotelischen Kategorien zu erläutern suchte. Denn die Theorie der fiktiven "Wahrscheinlichkeit" wurde in kleine pädagogische Münze gewechselt. Der Dichter hat idealisierend darzustellen, was geschehen soll, nicht aber Möglichkeiten des Vorstellbaren zu erkunden.
Nur die moralisch gezähmte Natur bietet sich so der poetischen Nachahmung dar. Sie ist aufgehoben in den großen Dichtern der abendländischen Zivilisation, in Vergil vor allem. Indem der moderne Autor in die Fußstapfen seiner großen Vorgänger tritt, vereinigt er, was sich aus heutiger Sicht kaum harmonisieren läßt: das Postulat einer quasi natürlichen Wirklichkeit von Gnaden der ästhetischen Einbildungskraft und jene krude Zweckbestimmung der Poesie, die sich dem "Geziemenden" anpaßt.
Was immer noch fasziniert, ist, daß dieser Thesaurus alles in einem sein wollte: ein Register der poetischen Gattungen bis hin zu den Kleinformen der Lyrik, ein Fundus von Beispielen und Techniken bis hin zur elementaren Verslehre, nicht zuletzt ein kritisches Inventar von Rezensionen antiker und moderner Autoritäten, das mit schlagkräftigen Definitionen und kühnen, wenn auch schiefen Urteilen keineswegs haushälterisch umging. So zog Scaligers Mammutwerk trotz seiner offenen Nahtstellen und eklatanten Schwächen eine polyhistorische Bilanz der frühneuzeitlichen Literaturtheorie und Literaturgeschichte.
Bisher konnte man Scaliger schon in dem von August Buck besorgten und souverän eingeleiteten Nachdruck der Erstausgabe lesen. Nun also der ganze Scaliger zum ersten Male in eine moderne Sprache übersetzt! Drei von den fünf geplanten Bänden liegen vor und bestätigen, daß das Projekt zu Recht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Mit dem Übersetzer Luc Deitz (für die vorliegenden Bände) und dem Konstanzer Latinisten Manfred Fuhrmann als Berater geriet Scaliger in sachkundige Hände, was bereits die Einleitung illustriert. Sie widmet sich der Differentialdiagnose der verschiedenen älteren Ausgaben und läßt an philologischer und buchgeschichtlicher Penibilität nichts zu wünschen übrig. Von dem Autor ist allerdings kaum die Rede.
Ein Quentchen an human interest hätte dem strengen Ernst der wissenschaftlichen Leistung gewiß keinen Abbruch getan. Denn das wünschenswerte Porträt hätte wohl begonnen mit der Tatsache, daß Scaliger eigentlich gar nicht Scaliger hieß. Der nachmals so berühmte Gelehrte usurpierte den Namen eines Gönners, wurde tatsächlich aber 1484 in Padua als Sohn des Barbiers Benedetto Bordon geboren. Scaligers stolze Ableitung seines Namens vom Adelsgeschlecht der della Scala trug ihm und noch seinem Sohn, dem berühmten Philologen Joseph Justus Scaliger, den Spott der Wissenden ein.
Julius Cäsar war also ein Aufsteiger mit dem notorischen Habitus des Pedanten und Dilettanten. Das mag seine Sammelwut, seine Energie und sein Selbstbewußtsein erklären. Die philologischen Interessen wurden zeitweilig dem Studium der Medizin und der aristotelischen Naturkunde untergeordnet. Die sieben Bücher der Poetik bildeten den Abschluß eines Schaffens, das beachtliche, auch poetologisch aufschlußreiche Lyrik umfaßte und mit Vorliebe in die zeitgenössischen Diskussionen eingriff: in den sogenannten Ciceronianismus-Streit etwa und in naturphilosophische Auseinandersetzungen, die mit dem Namen Cardano verknüpft waren.
Als Scaliger kurz vor seinem Tode einen Verleger für sein opus maximum suchte, erhielt er zunächst eine Abfuhr. Kaum zu vermuten war, daß sein Werk bis 1617 in zahlreichen Auflagen erscheinen würde. Deren Geschichte, die sich bis auf Spuren der verlorenen Handschrift und spätere Korrekturen verfolgen läßt, wird von den Herausgebern akribisch begutachtet. Aus plausiblen Gründen entschied man sich, für die historisch-kritische Fassung neben der Erstausgabe die Edition von 1607 heranzuziehen. Der Druckgeschichte folgt in der Einleitung ein Grundriß der Rezeptionswege im Spektrum der Nationalliteraturen. Daß Scaliger gerade in Deutschland, nämlich durch Martin Opitz' Buch von der "Deutschen Poeterey" (1624), die Vorstellung von Poesie und von ihren Gattungen prägte, ist mit Recht hervorgehoben.
Bedenklich stimmt die These, Scaligers Werk sei zu seiner Zeit schon anachronistisch gewesen, weil es die aufkommende Literatur der Nationalsprachen links liegen ließ und nur den lateinischen Dichter ins Auge faßte. Wieso "anachronistisch"? Die klassische Literatur der Niederlande zum Beispiel oder gar die internationale Jesuitenliteratur entfaltete sich im Medium des Lateinischen. An welche muttersprachlichen Exempel hätte Scaliger denn das tüftelige Tableau seiner Verslehre anlehnen können, in welcher Muttersprache das Spektrum der Stilmittel und Genera verdeutlichen sollen? Ganz abgesehen davon, daß sich die neuen Nationalliteraturen jedenfalls in Nordeuropa ausdrücklich auf die Umsetzung des antiken und humanistischen Formenkanons kaprizierten.
Die überragende Leistung der Herausgeber liegt in der Auseinandersetzung mit dem Text. Scaligers Latein orientierte sich am damals modischen Geschmack einer lakonischen Syntax. Das spürt man auch im Deutschen, wobei der schmale Korridor zwischen Ausgangs- und Zielsprache so genau getroffen ist, daß dem Lateinischen zwar bisweilen das Mieder gelockert wird, die Genauigkeit der Diktion aber nicht darunter leidet. Aus dem "corpus exercitatum" wird so ein "durchtrainierter Körper", und die Formel "rebus agendis praeest" heißt nun "und gern die Initiative zum Handeln ergreift". Dabei war nicht nur Scaliger zu übersetzen, sondern zugleich die Masse der lateinischen und griechischen Zitate und das antiquarische Gewirr der manchmal seltsamen Termini und Distinktionen. Das ist glänzend gelungen. Zudem wird dem Leser durch den Nachweis der Zitate gedient, wenn nötig auch durch die kritische Diskussion von Varianten oder zitierten Textausgaben.
Wer Informationen über den poetologischen Gehalt, die Quellen und die Anlage des Werkes sucht, sieht sich an die den einzelnen Büchern beigegebenen Einleitungen verwiesen. Während sich das erste Buch über Wesen und Entwicklung der Poesie ausläßt, bietet das zweite kuriose Lehrstücke der Metrik, wobei deren Versfüße wie in einer Käfersammlung ausgestellt werden: nach Arten geordnet und in aufsteigender Linie zum Studium aufgespießt. Das dritte, berühmteste Buch behandelt die Darstellung von "Personen, Sachen und Begleitumständen", also die gedankliche Arbeit des Autors in der Spannung von "Wörtern" und "Sachen", demgemäß auch die Figurenlehre und die Gattungsvorschriften. Das vierte Buch befaßt sich mit dem Stil, den Wortfiguren und dem Klang der Wörter.
Den Herausgebern ist es gelungen, ungeahnte Blicke in Scaligers schriftstellerische Werkstatt zu werfen. Wir erfahren viel Neues über seine Quellen: manchmal polymathische Kompendien, also Material aus zweiter Hand, manchmal entlegene, heute kaum bekannte Verfasser der Spätantike. Der Frage nach den verwendeten Ausgaben wird viel Scharfsinn zugewandt. Daß gerade Scaligers komplex strukturiertes drittes Buch mit seinen Bestimmungen des Epos, des Dramas und des Epigramms zu den einflußreichsten der Poetik gehörte, ist im Rekurs auf die Forschung unterstrichen.
Es berührt sympathisch, daß die außerordentliche Mühe und Sorgfalt der Herausgeber durchaus nicht auf eine kritiklose Identifikation mit Scaligers Werk hinausläuft. Sie machen klar, wo Scaliger originell war, und schlagen doch keinen Bogen um drastisch benannte Abgründe seiner alexandrinischen Zitierwut. "Spätantiker Lexikonfluß, verknöcherte und beinahe schon scholastisch anmutende Grammatikerelukubrate, häufig widersprüchliches Scholienmaterial unbestimmter Provenienz, dickleibige Renaissancekompilationen, die schon zur Zeit ihres Erscheinens eines fortlaufenden Kommentars bedurften" - all dies hat der Mann, der sich Scaliger nannte, mit eisernem Magen mehr oder weniger verdaut. Vor diesem manchmal auch tristen Hintergrund läßt sich würdigen, was an intellektueller Anstrengung in die "Poetices libri septem" eingegangen ist. Die Übersetzer und Herausgeber, vor allem also Luc Deitz, sind beiden Aspekten gerecht geworden - mit bewundernswerter Ausdauer, mit Distanz und doch der notwendigen Liebe zum fernen Gegenstand und mit einer historiographischen wie sprachlichen Souveränität, die Respekt gebietet. Man wird es ihnen nach den vorliegenden Bänden und erst recht nach dem Erscheinen der folgenden Bücher danken, nicht nur im bloßen Wort, sondern in Lektüre und Konsultation. WILHELM KÜHLMANN
Julius Cäsar Scaliger: "Poetices libri septem". Sieben Bücher über die Dichtkunst. Lateinisch-deutsch. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann herausgegeben von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Band I: Buch 1 und 2; Band II: Buch 3, Kapitel 1 - 94; Band III: Buch 3, Kapitel 95 - 126 und Buch 4. Jeweils hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Verlag frommann-holzboog, Stuttgart/Bad Cannstatt 1994 und 1995. 633, 575 und 653 S., geb., je Band 380,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»The publishers are to be commended for completing the edition with this volume [...] in an age when some would give them only online, if at all. Studying and handling the six volumes of this scholarly monument are, I said, real pleasures.« Timothy J. Reiss, Renaissance Quarterly