Die interdisziplinäre Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" und ihre Mitglieder haben die geistes- und kulturwissenschaftliche Landschaft der alten Bundesrepublik geprägt wie vielleicht sonst nur noch die Kritische Theorie.Zahlreiche Interviews mit den wichtigsten noch lebenden Akteuren erlauben einen ebenso erkenntnisreichen wie unterhaltsamen Blick hinter die Kulissen von Poetik & Hermeneutik. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten wurde die Gruppe von Hans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß ursprünglich gegründet? Wie entfalteten sich Diskussionen und Kontroversen? Wie kam P&H zur Blüte und warum scheiterte ein möglicher Generationenwechsel? Als Zeitzeugen gehört werden Aleida und Jan Assmann, Ferdinand Fellmann, Manfred Frank, Gerhart von Graevenitz, Hans Ulrich Gumbrecht, Anselm Haverkamp, Dieter Henrich, Helga Jauß-Meyer, Renate Lachmann, Thomas Luckmann, Hermann Lübbe, Christian Meier, Jürgen Schlaeger, Gabriele Schwab, Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle, Rainer Warning und Harald Weinrich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2017Es konnte einen fast so etwas wie Examensgefühl befallen
Wie war eigentlich die Stimmung bei "Poetik und Hermeneutik"? Ein Interviewband mit Teilnehmern zieht eine kritische Bilanz der legendären Forschungsgruppe
Was ist "Interdisziplinarität"? Wer Geisteswissenschaftlern diese Frage stellt, wird häufig folgende Antwort erhalten: ein Förderkriterium zur Beantragung von Forschungsgeldern. Mag interdisziplinäres Arbeiten mittlerweile auch als unverzichtbar gelten - in der Praxis gerät es häufig zur Pflichtübung. Denn: Damit der Dialog über Fächergrenzen hinweg gelingt, ist mehr vonnöten als die raumzeitliche Zusammenkunft von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen. Worin genau aber besteht dieses "mehr"?
Eine erste Antwort auf diese Frage liefert jetzt ein Band, der Interviews mit Teilnehmern der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" versammelt. Petra Boden und Rüdiger Zill haben mit den wichtigsten noch lebenden Akteuren dieser Unternehmung gesprochen. In den deutschen Geisteswissenschaften bleibt sie ein singuläres Ereignis. Bei "Poetik und Hermeneutik" kamen insbesondere Literaturwissenschaftler, Philosophen und Historiker zusammen, später auch Soziologen und Religionswissenschaftler. Gegründet Anfang der sechziger Jahre von dem Germanisten Clemens Heselhaus, dem Philosophen Hans Blumenberg, dem Romanisten Hans Robert Jauß und dem Anglisten Wolfgang Iser, organisierte die Gruppe zwischen 1963 und 1994 siebzehn Kolloquien. Interessant ist das nicht nur aus wissenschaftshistorischer Perspektive: Die Gruppe wurde, so Jürgen Kaube in dieser Zeitung, ein "Zentrum der intellektuellen Nachkriegsgeschichte" (F.A.Z. vom 18. Juni 2003). Noch heute faszinieren die Tagungsbände, insbesondere jene der frühen Jahre, mit ihren ungewöhnlich substantiellen Beiträgen, der Weite ihres Horizonts und der konzentrierten Arbeit am Begriff. Bei der Wiederlektüre erstaunt vor allem, wie grundsätzlich hier Themen angegangen wurden, denen sich heute ganze Forschungszweige widmen.
In den Interviews tritt diese Wegscheide wissenschaftlicher Ausdifferenzierung plastisch hervor. Es ist zu erfahren, welche Gruppierungen innerhalb des Zirkels entstanden, mit welchen Motiven die Beteiligten agierten, welche Strategien sie vorantrieben und wer bei wem wie hoch im Kurs stand. Zwar fehlen die Perspektiven der bereits verschiedenen Gründer, ebenso jene Jurij Striedters, Jacob Taubes oder Odo Marquards. Gerade vom pointensicheren Marquard, der 2015 verstorben ist, hätte man sich einen Beitrag gewünscht. Eine repräsentative Auswahl wurde es trotzdem: Neben tragenden Figuren wie Karlheinz Stierle, Dieter Henrich, Harald Weinrich und Rainer Warning kommen auch spät Hinzugestoßene zu Wort, beispielsweise Manfred Frank, Renate Lachmann oder Anselm Haverkamp.
Ihre Erinnerungen fangen die Atmosphäre der Tagungen differenziert ein: Elan und intellektueller Aufbruch, aber auch inhaltliche und persönliche Differenzen, Konkurrenzverhältnisse, Spannungen. Es ist mehr als ein Schönheitsfehler, dass der Kriegsverbrecher Jauß bis zum Schluss das Organisatorische übernahm. Einen offiziell deklarierten Forschungsleiter aber hat es bei "Poetik und Hermeneutik" nie gegeben, auch wenn sich zwischen den Normalsterblichen und dem inneren Kreis der sogenannten "Archonten" durchaus eine klare Hierarchie abzeichnete. Gerade von den - auf den Tagungen erst spät und spärlich vertretenen - Forscherinnen ist zu hören, sie hätten "Poetik und Hermeneutik" nicht nur als aufregend, sondern auch als steif, beklemmend, ja zeremoniell empfunden. "Es konnte einen fast so etwas wie ein Examensgefühl befallen", bemerkt Renate Lachmann. Wer seine Theorie-Heroen bislang nur zweidimensional und vom Papier her kannte, für den nehmen sie in der Vielfalt der rückblickenden Urteile dreidimensionale Gestalt an. Wir lesen von Blumenbergs Distanziertheit, von der unzureichenden Thematisierung der Metapher, aber auch von der Einschätzung der um Iser gescharten Theorie-Puristen, Jauß und seine Schüler nutzten die Tagungen zielstrebig zum Zweck der eigenen "Reputationsmehrung". Niemals dominiert dabei ein voyeuristischer Blick: Sachkundig rücken Boden und Zill die gruppendynamischen und theoriegeschichtlichen Hintergründe der Äußerungen in den Fokus. So spiegelt sich in der Gelehrten- die Geistes-, Fach- und Zeithistorie.
Ein Rezept für die Gegenwart bietet der Band trotzdem nicht. Aleida Assmann meint: "Poetik und Hermeneutik wäre heute nicht mehr möglich." In Zeiten wissenschaftlicher Überproduktion gehören die Bedingungen, unter denen hier gearbeitet wurde, in den Bereich des Unvorstellbaren. Als Erstes fällt auf, wie viel Zeit man sich nahm: Die Kolloquien erstreckten sich über eine ganze Woche und erforderten ein beträchtliches Maß an Präparation, da die Texte nicht vor Ort präsentiert, sondern in Form sogenannter "Vorlagen" an die Teilnehmer versendet wurden. Diese ausführlichen Ausarbeitungen waren penibel vorzubereiten, in ihrer Diskussion bestand der eigentliche Zweck der Tagungen. Eine Einladung, so Assmann, habe bedeutet: "So, du musst dein Leben ändern! Ab jetzt darfst du nur noch an dieses Thema denken, guck mal, wo du irgendetwas findest, womit du dich auf dem Kolloquium nicht blamierst." Im heutigen Tagungswesen dagegen, wo jeden Monat mehrere solcher Termine im Kalender stehen, muss kontemplative Muße nicht selten gegen die Verpflichtung zur Außenwirkung verteidigt werden.
Prägend für "Poetik und Hermeneutik" war nicht zuletzt die historische Situation. Die Gründer kamen in den Nachkriegsjahren an die Universitäten. Ihnen gemeinsam war das Gefühl, in der Zeit des Dritten Reichs etwas verpasst zu haben, insbesondere die Begegnung mit der ästhetischen und philosophischen Moderne. Einige waren im Krieg gewesen, wofür Hans Robert Jauß' Vergangenheit in der Waffen-SS ein besonders verstörendes Beispiel gibt. Andere wurden, wie Hans Blumenberg, verfolgt. Sie alle hatten einen "Heißhunger nach Welt und Idee" (Henrich), dem sich mit der Öffnung des Landes endlich das lang ersehnte Material bot. Als sie dann in den sechziger Jahren an den Universitäten in leitende Positionen aufstiegen, sahen sich die Vertreter dieser Generation in der Pflicht, auch akademisch neue Wege zu gehen. In diese Zeit fällt auch die Gründung von "Poetik und Hermeneutik". So kamen auf Betreiben von Jauß, der hierher einen Ruf erhalten hatte, gleich mehrere Mitglieder der Forschungsgruppe an die 1966 gegründete Reformuniversität Konstanz.
Dem kam entgegen, dass die Philologie in Deutschland zu diesem Zeitpunkt ein mehr oder weniger theoriefreier Raum war. Eine eigene Sprache musste entwickelt werden, erstmals übersah man ein noch nicht vollständig kartographiertes Gebiet. Auch deshalb lag "Poetik und Hermeneutik" nie ein gemeinsamer theoretischer Entwurf zugrunde. Vielmehr war man sich darin einig, dass es galt, den Gegenstand auf hohem Reflexionsniveau zu durchdringen und von hier aus zur Theoriebildung voranzuschreiten. Die Heterogenität der Beteiligten wurde durch einen gemeinsamen Bildungshorizont zusammengehalten und einem Ethos der Gesprächsführung unterworfen. Mehr als eine einheitliche Theorie bildete sich so ein Habitus der Genauigkeit heraus, ein Hang zum kultivierten Streit. "Diese Intensität der Hingabe an den Gedanken habe ich nirgendwo anders wiedergefunden", so Jürgen Schlaeger.
Dauerhaft allerdings war diese Intensität nicht aufrechtzuerhalten. Prestige und Verpflichtungen der Protagonisten wuchsen, während die Tagungen den Erfordernissen des sich professionalisierenden und ausdifferenzierenden Universitätsbetriebs angepasst wurden. Es verwundert deshalb nicht, wenn die Beteiligten darin übereinstimmen, man sei mit der Zeit "braver" geworden. Die Themensetzung büßte ihre Notwendigkeit ein: Waren Titel wie "Nachahmung und Illusion", "Die nicht mehr schönen Künste" oder "Geschichte - Ereignis, Erzählung" Denkprogramme für alle, die nachher kamen, so scheint für viele Teilnehmer der vierzehnte Band ("Das Fest") einen endgültigen Abstieg zu markieren. Seit den achtziger Jahren war zudem die Rede von Nachwuchsproblemen. Der Generationswechsel wurde verpasst, gerade gegenüber neueren Theorieangeboten wie dem aus Frankreich und den Vereinigten Staaten herüberschwappenden Poststrukturalismus oder kulturwissenschaftlichen Ansätzen mangelte es an Beweglichkeit. Da klang es fast wie eine Selbstbeschreibung, als man dem als Schlusspunkt vorgesehenen Band über das "Ende" noch einen hinzufügte, der den Titel "Kontingenz" trug. Boden und Zill schließen die siebzehn Interviews stets mit derselben Frage ab: Was bleibt? Es macht eine der Stärken des Bandes aus, dass sich dies erst in der Lektüre erschließt.
JAN KNOBLOCH
Petra Boden/Rüdiger Zill (Hrsg.): "Poetik und Hermeneutik im Rückblick". Interviews mit Beteiligten.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017. 619 S.,
2 Abb., geb., 69,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie war eigentlich die Stimmung bei "Poetik und Hermeneutik"? Ein Interviewband mit Teilnehmern zieht eine kritische Bilanz der legendären Forschungsgruppe
Was ist "Interdisziplinarität"? Wer Geisteswissenschaftlern diese Frage stellt, wird häufig folgende Antwort erhalten: ein Förderkriterium zur Beantragung von Forschungsgeldern. Mag interdisziplinäres Arbeiten mittlerweile auch als unverzichtbar gelten - in der Praxis gerät es häufig zur Pflichtübung. Denn: Damit der Dialog über Fächergrenzen hinweg gelingt, ist mehr vonnöten als die raumzeitliche Zusammenkunft von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen. Worin genau aber besteht dieses "mehr"?
Eine erste Antwort auf diese Frage liefert jetzt ein Band, der Interviews mit Teilnehmern der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" versammelt. Petra Boden und Rüdiger Zill haben mit den wichtigsten noch lebenden Akteuren dieser Unternehmung gesprochen. In den deutschen Geisteswissenschaften bleibt sie ein singuläres Ereignis. Bei "Poetik und Hermeneutik" kamen insbesondere Literaturwissenschaftler, Philosophen und Historiker zusammen, später auch Soziologen und Religionswissenschaftler. Gegründet Anfang der sechziger Jahre von dem Germanisten Clemens Heselhaus, dem Philosophen Hans Blumenberg, dem Romanisten Hans Robert Jauß und dem Anglisten Wolfgang Iser, organisierte die Gruppe zwischen 1963 und 1994 siebzehn Kolloquien. Interessant ist das nicht nur aus wissenschaftshistorischer Perspektive: Die Gruppe wurde, so Jürgen Kaube in dieser Zeitung, ein "Zentrum der intellektuellen Nachkriegsgeschichte" (F.A.Z. vom 18. Juni 2003). Noch heute faszinieren die Tagungsbände, insbesondere jene der frühen Jahre, mit ihren ungewöhnlich substantiellen Beiträgen, der Weite ihres Horizonts und der konzentrierten Arbeit am Begriff. Bei der Wiederlektüre erstaunt vor allem, wie grundsätzlich hier Themen angegangen wurden, denen sich heute ganze Forschungszweige widmen.
In den Interviews tritt diese Wegscheide wissenschaftlicher Ausdifferenzierung plastisch hervor. Es ist zu erfahren, welche Gruppierungen innerhalb des Zirkels entstanden, mit welchen Motiven die Beteiligten agierten, welche Strategien sie vorantrieben und wer bei wem wie hoch im Kurs stand. Zwar fehlen die Perspektiven der bereits verschiedenen Gründer, ebenso jene Jurij Striedters, Jacob Taubes oder Odo Marquards. Gerade vom pointensicheren Marquard, der 2015 verstorben ist, hätte man sich einen Beitrag gewünscht. Eine repräsentative Auswahl wurde es trotzdem: Neben tragenden Figuren wie Karlheinz Stierle, Dieter Henrich, Harald Weinrich und Rainer Warning kommen auch spät Hinzugestoßene zu Wort, beispielsweise Manfred Frank, Renate Lachmann oder Anselm Haverkamp.
Ihre Erinnerungen fangen die Atmosphäre der Tagungen differenziert ein: Elan und intellektueller Aufbruch, aber auch inhaltliche und persönliche Differenzen, Konkurrenzverhältnisse, Spannungen. Es ist mehr als ein Schönheitsfehler, dass der Kriegsverbrecher Jauß bis zum Schluss das Organisatorische übernahm. Einen offiziell deklarierten Forschungsleiter aber hat es bei "Poetik und Hermeneutik" nie gegeben, auch wenn sich zwischen den Normalsterblichen und dem inneren Kreis der sogenannten "Archonten" durchaus eine klare Hierarchie abzeichnete. Gerade von den - auf den Tagungen erst spät und spärlich vertretenen - Forscherinnen ist zu hören, sie hätten "Poetik und Hermeneutik" nicht nur als aufregend, sondern auch als steif, beklemmend, ja zeremoniell empfunden. "Es konnte einen fast so etwas wie ein Examensgefühl befallen", bemerkt Renate Lachmann. Wer seine Theorie-Heroen bislang nur zweidimensional und vom Papier her kannte, für den nehmen sie in der Vielfalt der rückblickenden Urteile dreidimensionale Gestalt an. Wir lesen von Blumenbergs Distanziertheit, von der unzureichenden Thematisierung der Metapher, aber auch von der Einschätzung der um Iser gescharten Theorie-Puristen, Jauß und seine Schüler nutzten die Tagungen zielstrebig zum Zweck der eigenen "Reputationsmehrung". Niemals dominiert dabei ein voyeuristischer Blick: Sachkundig rücken Boden und Zill die gruppendynamischen und theoriegeschichtlichen Hintergründe der Äußerungen in den Fokus. So spiegelt sich in der Gelehrten- die Geistes-, Fach- und Zeithistorie.
Ein Rezept für die Gegenwart bietet der Band trotzdem nicht. Aleida Assmann meint: "Poetik und Hermeneutik wäre heute nicht mehr möglich." In Zeiten wissenschaftlicher Überproduktion gehören die Bedingungen, unter denen hier gearbeitet wurde, in den Bereich des Unvorstellbaren. Als Erstes fällt auf, wie viel Zeit man sich nahm: Die Kolloquien erstreckten sich über eine ganze Woche und erforderten ein beträchtliches Maß an Präparation, da die Texte nicht vor Ort präsentiert, sondern in Form sogenannter "Vorlagen" an die Teilnehmer versendet wurden. Diese ausführlichen Ausarbeitungen waren penibel vorzubereiten, in ihrer Diskussion bestand der eigentliche Zweck der Tagungen. Eine Einladung, so Assmann, habe bedeutet: "So, du musst dein Leben ändern! Ab jetzt darfst du nur noch an dieses Thema denken, guck mal, wo du irgendetwas findest, womit du dich auf dem Kolloquium nicht blamierst." Im heutigen Tagungswesen dagegen, wo jeden Monat mehrere solcher Termine im Kalender stehen, muss kontemplative Muße nicht selten gegen die Verpflichtung zur Außenwirkung verteidigt werden.
Prägend für "Poetik und Hermeneutik" war nicht zuletzt die historische Situation. Die Gründer kamen in den Nachkriegsjahren an die Universitäten. Ihnen gemeinsam war das Gefühl, in der Zeit des Dritten Reichs etwas verpasst zu haben, insbesondere die Begegnung mit der ästhetischen und philosophischen Moderne. Einige waren im Krieg gewesen, wofür Hans Robert Jauß' Vergangenheit in der Waffen-SS ein besonders verstörendes Beispiel gibt. Andere wurden, wie Hans Blumenberg, verfolgt. Sie alle hatten einen "Heißhunger nach Welt und Idee" (Henrich), dem sich mit der Öffnung des Landes endlich das lang ersehnte Material bot. Als sie dann in den sechziger Jahren an den Universitäten in leitende Positionen aufstiegen, sahen sich die Vertreter dieser Generation in der Pflicht, auch akademisch neue Wege zu gehen. In diese Zeit fällt auch die Gründung von "Poetik und Hermeneutik". So kamen auf Betreiben von Jauß, der hierher einen Ruf erhalten hatte, gleich mehrere Mitglieder der Forschungsgruppe an die 1966 gegründete Reformuniversität Konstanz.
Dem kam entgegen, dass die Philologie in Deutschland zu diesem Zeitpunkt ein mehr oder weniger theoriefreier Raum war. Eine eigene Sprache musste entwickelt werden, erstmals übersah man ein noch nicht vollständig kartographiertes Gebiet. Auch deshalb lag "Poetik und Hermeneutik" nie ein gemeinsamer theoretischer Entwurf zugrunde. Vielmehr war man sich darin einig, dass es galt, den Gegenstand auf hohem Reflexionsniveau zu durchdringen und von hier aus zur Theoriebildung voranzuschreiten. Die Heterogenität der Beteiligten wurde durch einen gemeinsamen Bildungshorizont zusammengehalten und einem Ethos der Gesprächsführung unterworfen. Mehr als eine einheitliche Theorie bildete sich so ein Habitus der Genauigkeit heraus, ein Hang zum kultivierten Streit. "Diese Intensität der Hingabe an den Gedanken habe ich nirgendwo anders wiedergefunden", so Jürgen Schlaeger.
Dauerhaft allerdings war diese Intensität nicht aufrechtzuerhalten. Prestige und Verpflichtungen der Protagonisten wuchsen, während die Tagungen den Erfordernissen des sich professionalisierenden und ausdifferenzierenden Universitätsbetriebs angepasst wurden. Es verwundert deshalb nicht, wenn die Beteiligten darin übereinstimmen, man sei mit der Zeit "braver" geworden. Die Themensetzung büßte ihre Notwendigkeit ein: Waren Titel wie "Nachahmung und Illusion", "Die nicht mehr schönen Künste" oder "Geschichte - Ereignis, Erzählung" Denkprogramme für alle, die nachher kamen, so scheint für viele Teilnehmer der vierzehnte Band ("Das Fest") einen endgültigen Abstieg zu markieren. Seit den achtziger Jahren war zudem die Rede von Nachwuchsproblemen. Der Generationswechsel wurde verpasst, gerade gegenüber neueren Theorieangeboten wie dem aus Frankreich und den Vereinigten Staaten herüberschwappenden Poststrukturalismus oder kulturwissenschaftlichen Ansätzen mangelte es an Beweglichkeit. Da klang es fast wie eine Selbstbeschreibung, als man dem als Schlusspunkt vorgesehenen Band über das "Ende" noch einen hinzufügte, der den Titel "Kontingenz" trug. Boden und Zill schließen die siebzehn Interviews stets mit derselben Frage ab: Was bleibt? Es macht eine der Stärken des Bandes aus, dass sich dies erst in der Lektüre erschließt.
JAN KNOBLOCH
Petra Boden/Rüdiger Zill (Hrsg.): "Poetik und Hermeneutik im Rückblick". Interviews mit Beteiligten.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017. 619 S.,
2 Abb., geb., 69,- [Euro].
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