Als am 9. November 2014 der 25. Jahrestag des Mauerfalls mit Reden, Feuerwerk und Musik am Brandenburger Tor gefeiert wurde, stand auch Michael Ruetz in der Menge. Fassungslos verfolgte er, wie kein Wort darüber fiel, dass der 9. November auch der Tag der Pogrome des Jahres 1938 ist - der «Reichskristallnacht», wie die Nazis ihren Terror nannten. Dieses neuerliche Erlebnis deutscher Geschichtsverdrängung veranlasste ihn, auf die Suche nach Bilddokumenten und Augenzeugenberichten zum 9. November 1938 zu gehen.Zusammen mit Astrid Köppe hat er mehr als tausend lokale, regionale und internationale Archive kontaktiert, um eine konkrete Vorstellung davon zu gewinnen, was an jenem Tag des Jahres 1938 geschehen ist: Was der 'ganz normale' Bürger getan, gebilligt und gesehen hat bzw. gewusst haben muss. Die Recherche förderte eine ungeahnte Fülle an Bildern und Zeitzeugenberichten zutage, die eine weitreichende Komplizenschaft von Tätern und Mitläufern zeigen: hier die Zerstörungswut und triumphierende Häme des entfesselten Mob, dort die feige Neugier der Zuschauer mit den Händen in den Taschen. Die Fotos aus ganz Deutschland dokumentieren, wie leicht auch und gerade in der 'Provinz', wo jeder jeden kannte, die Gewaltbereitschaft zu entfesseln war - und wie wenig Mut und Zivilcourage sich dagegen erhob. So markiert der 9. November 1938 den Probelauf und Anfangspunkt des Holocaust - unter aller Augen. Dem Band ist eine Rede von Christoph Stölzl, dem Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, vom 9. November 1988 beigegeben, die sich der Frage widmet, wie das kollektive Gedenken an einen solchen Tag des Verbrechens aussehen könnte - oder müsste. Denn selbst hier droht eine Gedenktags-Routine, als wäre dieser Tag ein historisches Datum wie viele andere - zumal seit dem 9. November 1989 das neue deutsche Einigkeitsgefühl diese Frage in den Hintergrund drängt. Ein Essay von Michael Ruetz über den deutschen Umgang mit dem Datum des 9. November beschließt den Band.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2018Täter, Zeugen
Ein Band dokumentiert zerstörte
deutsche Synagogen
In der Pogrom-Nacht vom 9. November auf den 10. November 1938 blieb die Synagoge in Siegen unberührt. Verschont wurde sie nicht. Der Kreisleiter der NSDAP hatte von ihrer Existenz nichts gewusst. Mit Verspätung wurde sie am 10. November von SA-Leuten in Brand gesetzt. So berichtet es Walter Berg, dessen Lebenserinnerungen im Stadtarchiv Siegen liegen. „Frau Schlemper, eine Nachbarin, weinte und sagte: ‚Das kann nicht gut gehen. Die Juden sind das Volk Gottes.‘“
Die bildende Künstlerin Astrid Köppe hat für das Projekt „Pogrom 1938“, das der Fotograf Michael Ruetz angestoßen und mit Unterstützung der Berliner Akademie der Künste realisiert hat, die Erinnerung aus dem Siegener Stadtarchiv gezogen. Bilder vom Brand und Einsturz der Kuppel hat der Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein beigesteuert. Auf Basis der Liste der zerstörten deutschen Synagogen hat Astrid Köppe mit über tausend Archiven, Gemeinden, Vereinen und Privatpersonen Kontakt aufgenommen und nach Textzeugnissen und Fotografien recherchiert. Eine wissenschaftliche Dokumentation ist daraus nicht geworden, schon weil häufig exakte Datierungen fehlen und die beigefügte Deutschlandkarte sich auf die heutige Bundesrepublik beschränkt. So kommen zum Beispiel die niedergebrannten Synagogen von Breslau und Beuthen nicht vor. 115 Schauplätze, überwiegend kleine und mittlere Städte mit einem Übergewicht in West- und Südwestdeutschland, sind aufgenommen.
Es ist eine Text-Bild-Collage entstanden, in der Akteure und Zuschauer auf das Geschehen, seine Resultate und nicht selten in die Kameras blicken, von denen unklar bleibt, wer hinter ihnen stand. Männer mit Spitzhacken haben das Demolieren der Synagoge von Ludwigsburg unterbrochen, um mit ihren Spitzhacken und Hämmern zu posieren, Passanten versammeln sich vor den eingeschlagenen Schaufenstern, Kultgegenstände und Inventar aus den Synagogen werden auf Marktplätzen oder Wiesen verbrannt. Der mit stolzgeschwellter Brust verfasste Bericht eines SA-Mannes in Brühl über sein Zerstörungswerk in einem jüdischen Privathaus, der aus Prozessakten des Jahres 1945 stammt, gibt Einblick in die Innenwelt eines Täters. Der in roter Farbe den Texten und Fotografien hinzugefügten Abscheubekundungen des Herausgebers hätte es nicht bedurft. Die Recherche ist beklemmend genug.
LOTHAR MÜLLER
Michael Ruetz: Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge. Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2018. 156 Seiten, 29,90 Euro.
Der Brand der Synagoge am Obergraben in Siegen am 10. November 1938. Zu den Augenzeugen gehörte Walter Berg, dessen von 2003 an aufgezeichnete Kindheitserinnerungen im Stadtarchiv Siegen liegen.
Foto: Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein
Zerstörte Schaufenster des jüdischen Konfektionsgeschäfts Gebr. Hirschfeld in der Karmaschstraße 9 – 11 in Hannover, November 1930.
Foto: Historisches Museum Hannover
Die Zerstörung des jüdischen Totenwagens im hessischen Flörsheim am Main im November 1938.
Foto: Paul Flesch, Flörsheim
Nach der Zerstörung des Bauwerks: Verbrennung der Synagogeneinrichtung auf dem Marktplatz im badischen Mosbach, November 1938.
Foto: Stadtarchiv Mosbach, S 1 / 6512
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Ein Band dokumentiert zerstörte
deutsche Synagogen
In der Pogrom-Nacht vom 9. November auf den 10. November 1938 blieb die Synagoge in Siegen unberührt. Verschont wurde sie nicht. Der Kreisleiter der NSDAP hatte von ihrer Existenz nichts gewusst. Mit Verspätung wurde sie am 10. November von SA-Leuten in Brand gesetzt. So berichtet es Walter Berg, dessen Lebenserinnerungen im Stadtarchiv Siegen liegen. „Frau Schlemper, eine Nachbarin, weinte und sagte: ‚Das kann nicht gut gehen. Die Juden sind das Volk Gottes.‘“
Die bildende Künstlerin Astrid Köppe hat für das Projekt „Pogrom 1938“, das der Fotograf Michael Ruetz angestoßen und mit Unterstützung der Berliner Akademie der Künste realisiert hat, die Erinnerung aus dem Siegener Stadtarchiv gezogen. Bilder vom Brand und Einsturz der Kuppel hat der Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein beigesteuert. Auf Basis der Liste der zerstörten deutschen Synagogen hat Astrid Köppe mit über tausend Archiven, Gemeinden, Vereinen und Privatpersonen Kontakt aufgenommen und nach Textzeugnissen und Fotografien recherchiert. Eine wissenschaftliche Dokumentation ist daraus nicht geworden, schon weil häufig exakte Datierungen fehlen und die beigefügte Deutschlandkarte sich auf die heutige Bundesrepublik beschränkt. So kommen zum Beispiel die niedergebrannten Synagogen von Breslau und Beuthen nicht vor. 115 Schauplätze, überwiegend kleine und mittlere Städte mit einem Übergewicht in West- und Südwestdeutschland, sind aufgenommen.
Es ist eine Text-Bild-Collage entstanden, in der Akteure und Zuschauer auf das Geschehen, seine Resultate und nicht selten in die Kameras blicken, von denen unklar bleibt, wer hinter ihnen stand. Männer mit Spitzhacken haben das Demolieren der Synagoge von Ludwigsburg unterbrochen, um mit ihren Spitzhacken und Hämmern zu posieren, Passanten versammeln sich vor den eingeschlagenen Schaufenstern, Kultgegenstände und Inventar aus den Synagogen werden auf Marktplätzen oder Wiesen verbrannt. Der mit stolzgeschwellter Brust verfasste Bericht eines SA-Mannes in Brühl über sein Zerstörungswerk in einem jüdischen Privathaus, der aus Prozessakten des Jahres 1945 stammt, gibt Einblick in die Innenwelt eines Täters. Der in roter Farbe den Texten und Fotografien hinzugefügten Abscheubekundungen des Herausgebers hätte es nicht bedurft. Die Recherche ist beklemmend genug.
LOTHAR MÜLLER
Michael Ruetz: Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge. Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2018. 156 Seiten, 29,90 Euro.
Der Brand der Synagoge am Obergraben in Siegen am 10. November 1938. Zu den Augenzeugen gehörte Walter Berg, dessen von 2003 an aufgezeichnete Kindheitserinnerungen im Stadtarchiv Siegen liegen.
Foto: Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein
Zerstörte Schaufenster des jüdischen Konfektionsgeschäfts Gebr. Hirschfeld in der Karmaschstraße 9 – 11 in Hannover, November 1930.
Foto: Historisches Museum Hannover
Die Zerstörung des jüdischen Totenwagens im hessischen Flörsheim am Main im November 1938.
Foto: Paul Flesch, Flörsheim
Nach der Zerstörung des Bauwerks: Verbrennung der Synagogeneinrichtung auf dem Marktplatz im badischen Mosbach, November 1938.
Foto: Stadtarchiv Mosbach, S 1 / 6512
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