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-Polen, das heißt Nirgendwo-, konnte Alfred Jarry 1896 noch schreiben. Doch ein Vierteljahrhundert später war Polen wieder da - erkämpft, erschlichen und erzwungen. Wie sich der wiedererstandene unabhängige polnische Staat und seine Gesellschaft im Europa des 20.- Jahrhunderts unter inneren und äußeren Zerreißproben behaupteten, ist Gegenstand des Essays von Adam Krzeminski.

Produktbeschreibung
-Polen, das heißt Nirgendwo-, konnte Alfred Jarry 1896 noch schreiben. Doch ein Vierteljahrhundert später war Polen wieder da - erkämpft, erschlichen und erzwungen. Wie sich der wiedererstandene unabhängige polnische Staat und seine Gesellschaft im Europa des 20.- Jahrhunderts unter inneren und äußeren Zerreißproben behaupteten, ist Gegenstand des Essays von Adam Krzeminski.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.1999

Jemandsland
Adam Krzeminskis Essay zur jüngeren Geschichte Polens

Adam Krzeminski: Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay. Beck'sche Reihe 476. C. H. Beck Verlag, München 1998. 240 Seiten, 19,80 Mark.

Drei tatendurstige Männer stürmen voran, eine große Hand auf ihren Schultern tragend. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, daß die Hand, an deren Zeigefinger das Rad der Zeit befestigt ist, in die entgegengesetzte Richtung steuert. Die Umschlagzeichnung des historischen Essays von Adam Krzeminski karikiert die polnische Geschichte als ein paradoxes Spiel der Kräfte, bei dem sich viel bewegt und nichts von der Stelle kommt. Das Buch macht den oft absurd wirkenden Verlauf dieser Geschichte nachvollziehbar, einer Geschichte, die lange Zeit mehr Rückschläge als Fortschritte kannte, die aber letztlich doch aus dem eigenen Schatten herauszutreten vermochte.

Noch zum Beginn des Jahrhunderts war Polens Existenz vom klaffenden Widerspruch zwischen dem Wunschtraum einer unabhängigen Republik und der deprimierenden Wirklichkeit eines unter drei Nachbarstaaten aufgeteilten und besetzten Landes gekennzeichnet. Nach dem "gestohlenen" 19. Jahrhundert, dessen verzweifelte Aufstände gescheitert waren, blieb es auch während des Ersten Weltkriegs ein Pfand der Großmächte und mußte den deutschen, österreichischen und russischen Heeren Hunderttausende von Rekruten opfern. Zwischen Widerstand und Anpassung balancierend, suchte es seinen inneren Zusammenhalt vor allem in der gemeinsamen Geschichte der Auflehnung gegen die Fremdherrschaft oder im nostalgischen Rückbezug auf die polnisch-litauische Adelsrepublik des 16. Jahrhunderts. Erst in den Zwischenkriegsjahren, als der äußere Druck gesprengt und der republikanische Traum sich kurze zwanzig Jahre lang erfüllte, konnten auch die politischen und kulturellen Widersprüche innerhalb der polnischen Gesellschaft aufbrechen und offen ausgetragen werden - bis der deutsche Angriff auf Polen im September 1939, gefolgt vom sowjetischen Einmarsch, allen eigenstaatlichen Ansätzen ein gewaltsames Ende setzte.

Krzeminski beschreibt, wie selbst in den Zeiten der größten Zerstörung das ständige Ringen um ein Selbstverständnis, das ein von außen unterdrücktes Land im Innern erst zusammenzuhalten vermag, nicht aufgegeben wurde. Dabei spielte die im Westen weniger bekannte Tatsache eine Rolle, daß es parallel zur aufständischen "Tradition" in Polen immer auch eine unterirdische zivile Gesellschaftsstruktur gab, die selbst die verheerenden Vernichtungskampagnen des Zweiten Weltkriegs überstand. Auch später, in den düsteren stalinistischen Jahren und während des Kriegszustands 1981/82, knüpfte man teilweise wieder an solche konspirativen Netze an, die schon im geteilten Polen des 19. Jahrhunderts ihre Vorläufer hatten. Daß aber alle Versuche der Selbstbehauptung das Land nach 1945 nicht weiter führten als in die ungeliebte "Volksrepublik", gehört zu den ans Absurde grenzenden Wendungen der polnischen Geschichte, die besonders in der Literatur ihren Niederschlag fand. Es waren von jeher die polnischen Dichter und Schriftsteller, die - häufig aus dem Exil - die Bewußtseinslage und die Gestimmtheit der Gesellschaft, das Gefühl der Vergeblichkeit der eigenen Anstrengung angesichts einer von vornherein ausweglosen Lage zum Ausdruck brachten.

Krzeminskis in deutscher Sprache mit Esprit und Eleganz geschriebener Essay läßt hinter der geläufigen Kulisse des polnischen Nationalismus und Katholizismus einige weniger bekannte polnische Spezialitäten entdecken, die sich über Generationen hinweg in den halblegalen Grauzonen zwischen Erlaubtem und Verbotenem ausbilden konnten. Dazu gehören ein ausgeprägtes Organisationstalent und ein pragmatisches Geschick, zwischen gegensätzlichen Kräften einen Ausgleich zu erzielen. Scheinbar ausweglose Situationen lassen sich "auf polnische Art", meist in Form eines kompliziert geschmiedeten Kompromisses oder eines kunstvollen Gebildes von Halbheiten, lösen oder entdramatisieren. Dieser zwischen Opportunismus und politischer Kunst pendelnde Gleichgewichtssinn macht manche Konfliktbewältigung zwischen der Solidarnosc-Bewegung und dem Regime verständlich.

Gegen Ende eines Jahrhunderts, in dem sein Schicksal als Niemandsland schon besiegelt schien, ist Polen als unabhängige Republik mit nachbarstaatlich anerkannten Grenzen in der gegenwärtigen Wirklichkeit Europas angekommen. Zum ersten Mal hat diese Republik eine Zukunft vor sich, um zu sich selbst zu finden. Der "Wechsel des polnischen Kodes", auf den sich laut Krzeminski die jetzt amtierende Generation verständigt, ist vor allem eine Absage an die Rückschau auf die Geschichte und ein bewußter Aufbruch in die Zukunft. Dazu werden weder die Widerstandsromantik noch der Heldenmythos der Freiheitskämpfer mehr benötigt. Daß auch die Geschichte selbst nicht mehr benötigt wird, ist ein Irrtum, den Krzeminski gleichwohl gelassen kommentiert, pragmatisch, die eigene Kritik fein eingesponnen, also ganz auf polnische Art.

SABINE FRÖHLICH

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