Die Verfolgung und Ermordung der Juden bleibt das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert. Wie sehr die Frage "Wie war es möglich?" bis heute drängend aktuell geblieben ist, zeigen die Diskussionen in der Publizistik der letzten Jahre. Peter Longrich stellt diese Frage in einem grundlegenden Kontext. Seit der Öffnung der Archive in Moskau, Ostberlin und anderswo ist es möglich, die Politik gegen die Juden als ein Gesamtgeschehen darzustellen. Ging es früher allzuoft in der Forschung um Details und Einzelergebnisse, nimmt der Autor hier das Ganze in den Blick. Longerich gelingt es, die Verzahnung von Politik und Gewalt, die Logik des Geschehens, ganz neu herauszuarbeiten, unabhängig von "Internationalisten" und " Funktionalisten" und anderen Grabenkämpfen der Zeitgeschichtsforschung. Er hat damit ein Standardwerk geschaffen, das in seiner Darstellung die zeitgeschichtliche Diskussion der nächsten Jahre bestimmen wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.1999Schlüsselrolle des Hasses
Der Mord an den Juden: Peter Longerichs Darstellung zum Entscheidungsprozess
Peter Longerich: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Piper Verlag, München 1998. 772 Seiten, 78 Mark.
Longerichs Buch beginnt mit den Worten "Thema der vorliegenden Studie ist der Entscheidungsprozeß, der zu der Ermordung der Juden Europas durch das NS-Regime geführt hat". Ziel der Arbeit sei nicht eine Darstellung der Ermordung der europäischen Juden an sich. Die im Untertitel des Buches angekündigte "Gesamtdarstellung" ist also nicht beabsichtigt. Warum dann die vollmundige Ankündigung? Longerich beschreibt das Geschehen hauptsächlich aus der Sicht und aus den Akten der Täter, und zwar Entscheidungen und Befehle der höchstrangigen Machthaber des Regimes. Die Reaktion der jüdischen Opfer und Gegner wird nur dann geschildert, wenn sie Rückschlüsse auf die Täter erlaubt.
Gestützt auf eine breite Aktenlage und bisherige Forschungen vieler Historiker, gibt der Autor detailliert die Hintergründe und Entscheidungen wieder, die in der Entrechtung, Beraubung, Deportationen, Exekutionen und Massenmorden im Osten und in den Lagern, kurz: in der Endlösung, resultierten. Longerich bestätigt in seiner Einführung, dass diese Darstellungsart ungleichgewichtig und einseitig ist, weil eine einmal begonnene Phase der Vernichtung der Juden, deren es viele gab, nur kursorisch behandelt wird. Longerich beweist, dass es sich bei der Ermordung der europäischen Juden um das historisch Einzigartige und Besondere an der Nazidiktatur handelt, nicht um einen Nebeneffekt, sondern um ihr zentrales Thema.
Diese Zentralität des Rassismus und Antisemitismus war seiner Meinung nach die Schlüsselfunktion für die Durchdringung der deutschen Gesellschaft. In einer späteren Phase waren die Verbündeten Nazideutschlands durch ihre Mithilfe und Beteiligung am Massenmord an den Juden ein wichtiger Faktor bei der Beherrschung ganz Europas. Der Genozid an den Juden ist damit auch zur Klammer der deutschen Besatzungs- und Bündnispolitik mutiert. Eine der Stärken des Buches ist die systematische Periodisierung des Verfolgungs- und später des Vernichtungsprozesses.
Über ein Drittel seines Werkes widmet Longerich den Maßnahmen des NS-Regimes gegen die deutschen Juden von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Der Autor teilt das Geschehen der ersten knapp sieben Jahre der Naziherrschaft in drei Epochen ein, deren Meilensteine der Judenboykott von 1933, die Nürnberger Gesetze von 1935 und die Pogromnacht vom 9. November 1938 sind. Es ist eine überzeugende Analyse der vielen Etappen in der Verfolgung der deutschen Juden anhand neuer, bisher unbekannter Quellen, wie der Akten des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", kurz CV, die in einem Moskauer Sonderarchiv gefunden wurden.
Aus ihnen erfährt man Einzelheiten über den alltäglichen Judenhass, Habgier und Terror der Nazis, die mitleidslose Passivität der Gaffer und die aktive Mittäterschaft der Nutznießer des Regimes bei der Beraubung und Entrechtung ihrer einstigen Nachbarn und Mitbürger. Der angeblich nur von oben befohlene Terror gegen die Juden wird damit zu Gunsten - oder zu Lasten, je nachdem - von Tausenden von einfachen Volksgenossen relativiert. Longerich schildert ausführlich die zahlreichen antisemitischen Aussschreitungen nach dem Abschluss des Münchener Abkommens im Oktober 1938, die in den November-Pogrom mündeten. Um die Finanzierung der enorm gesteigerten Rüstung bei leeren Kassen zu ermöglichen, wurden die Juden mit brutalsten Mitteln aus der gesamten Wirtschaft entfernt und um Milliardenwerte beraubt. Dies war der wirkliche Grund für die forcierte Auswanderung und Vertreibung der ausgeplünderten deutschen, österreichischen und tschechischen Juden.
Mit der Schilderung der Verbrechen an Polen und Juden während des Polen-Feldzuges im September 1939 nähert sich Longerich seinem eigentlichen Thema. Jedem Oberkommando der fünf in Polen im Einsatz befindlichen Armeen der Wehrmacht war je eine Einsatzgruppe unterstellt, die Massenmorde an Zehntausenden von Juden und Polen ohne jegliche militärische Notwendigkeit durchführte. Es geschah zum ersten Male in der Geschichte der Kriege, dass eine reguläre Armee Massenmorde nicht nur zuließ, sondern sie teilweise selbst verübte, zum Beispiel bei der Ermordung von polnisch-jüdischen Kriegsgefangenen. Neben diesen im Kriege begangenen Verbrechen wird die Judenverfolgung im Generalgouvernement Polen und in den eingegliederten Gebieten geschildert.
Der Vernichtungspolitik und der Endlösung in Osteuropa nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 widmet der Autor auf über 200 Seiten den wichtigsten und aufschlussreichsten Teil seines Werkes. Erst im Kriege konnten die Vernichtungspläne in die grausige Wirklichkeit, in die Endlösung, umgesetzt werden. Bereits in den ersten Monaten des Krieges im Osten ermordeten die Einsatzgruppen und die Polizei-Bataillone Hunderttausende von jüdischen Männern. Später wurden Frauen und Kinder in Massenexekutionen erschossen. Longerich schildert auch die Beteiligung der Wehrmacht an den Morden, auch an jüdischen Kriegsgefangenen.
Im Schatten des Krieges wurden im Sommer 1941 die Juden aus Frankreich und später aus ganz Ost-, Südost- und Westeuropa deportiert. Im Herbst 1941 begannen die Deportationen der deutschen Juden, was als Drohgebärde gegen die Vereinigten Staaten gedeutet wurde. Die nach der Beendigung der Euthanasie-Aktionen im Reich arbeitslos gewordenen Mörder, mit dem Oberdienstleiter Viktor Brack von der Führerkanzlei an der Spitze, wurden zum Aufbau einer Massenmord-Struktur eingesetzt, zuerst mit Gaswagen und später durch den Bau von Vernichtungslagern mit Gaskammern und Krematorien. Das Kapitel "Genesis der Endlösung 1941" bildet einen wichtigen und spannenden Teil des Buches.
Am 12. Dezember 1941 versammelten sich in der Wohnung Hitlers in der Alten Reichskanzlei die Spitzen des Nazireiches. Hitler kündigte die Ermordung der europäischen Juden als Geiseln für das Wohlverhalten der Westmächte an, weil er ahnte, dass der Krieg verloren war. Longerich verneint zwar, dass diese Rede Hitlers die Grundsatzentscheidung zur Ermordung aller Juden war, aber zwei Tage später, am 14. Dezember, instruierte Himmler den Euthanasiespezialisten SS-Oberführer Viktor Brack über den neuen Befehl. Am 16. Dezember teilte Generalgouverneur Frank in Krakau diese Mord-Entscheidung seinen engsten Mitarbeitern mit. Hitler selbst lieferte dem Architekten des Holocaust Himmler in einer Besprechung am 18. Dezember 1941 das Tarnwort zur Ermordung der Juden. Himmler vermerkte handschriftlich in seinem Diensttagebuch: "Führerhauptquartier Wolfsschanze 18.XII.41 16 h Führer Judenfrage, als Partisanen auszurotten".
So kohärent, systematisch, spannend, und faktenreich das Geschehen auch geschildert wird, leistet das Buch einen weiteren Beitrag zur Entpersonalisierung der Geschichte, weil der Leser kaum etwas über die Biographien der Täter und der Opfer erfährt. Trotzdem ist es ein wichtiger Beitrag zu verschiedenen, noch wenig erforschten Aspekten des Holocaust.
ARNO LUSTIGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Mord an den Juden: Peter Longerichs Darstellung zum Entscheidungsprozess
Peter Longerich: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Piper Verlag, München 1998. 772 Seiten, 78 Mark.
Longerichs Buch beginnt mit den Worten "Thema der vorliegenden Studie ist der Entscheidungsprozeß, der zu der Ermordung der Juden Europas durch das NS-Regime geführt hat". Ziel der Arbeit sei nicht eine Darstellung der Ermordung der europäischen Juden an sich. Die im Untertitel des Buches angekündigte "Gesamtdarstellung" ist also nicht beabsichtigt. Warum dann die vollmundige Ankündigung? Longerich beschreibt das Geschehen hauptsächlich aus der Sicht und aus den Akten der Täter, und zwar Entscheidungen und Befehle der höchstrangigen Machthaber des Regimes. Die Reaktion der jüdischen Opfer und Gegner wird nur dann geschildert, wenn sie Rückschlüsse auf die Täter erlaubt.
Gestützt auf eine breite Aktenlage und bisherige Forschungen vieler Historiker, gibt der Autor detailliert die Hintergründe und Entscheidungen wieder, die in der Entrechtung, Beraubung, Deportationen, Exekutionen und Massenmorden im Osten und in den Lagern, kurz: in der Endlösung, resultierten. Longerich bestätigt in seiner Einführung, dass diese Darstellungsart ungleichgewichtig und einseitig ist, weil eine einmal begonnene Phase der Vernichtung der Juden, deren es viele gab, nur kursorisch behandelt wird. Longerich beweist, dass es sich bei der Ermordung der europäischen Juden um das historisch Einzigartige und Besondere an der Nazidiktatur handelt, nicht um einen Nebeneffekt, sondern um ihr zentrales Thema.
Diese Zentralität des Rassismus und Antisemitismus war seiner Meinung nach die Schlüsselfunktion für die Durchdringung der deutschen Gesellschaft. In einer späteren Phase waren die Verbündeten Nazideutschlands durch ihre Mithilfe und Beteiligung am Massenmord an den Juden ein wichtiger Faktor bei der Beherrschung ganz Europas. Der Genozid an den Juden ist damit auch zur Klammer der deutschen Besatzungs- und Bündnispolitik mutiert. Eine der Stärken des Buches ist die systematische Periodisierung des Verfolgungs- und später des Vernichtungsprozesses.
Über ein Drittel seines Werkes widmet Longerich den Maßnahmen des NS-Regimes gegen die deutschen Juden von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Der Autor teilt das Geschehen der ersten knapp sieben Jahre der Naziherrschaft in drei Epochen ein, deren Meilensteine der Judenboykott von 1933, die Nürnberger Gesetze von 1935 und die Pogromnacht vom 9. November 1938 sind. Es ist eine überzeugende Analyse der vielen Etappen in der Verfolgung der deutschen Juden anhand neuer, bisher unbekannter Quellen, wie der Akten des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", kurz CV, die in einem Moskauer Sonderarchiv gefunden wurden.
Aus ihnen erfährt man Einzelheiten über den alltäglichen Judenhass, Habgier und Terror der Nazis, die mitleidslose Passivität der Gaffer und die aktive Mittäterschaft der Nutznießer des Regimes bei der Beraubung und Entrechtung ihrer einstigen Nachbarn und Mitbürger. Der angeblich nur von oben befohlene Terror gegen die Juden wird damit zu Gunsten - oder zu Lasten, je nachdem - von Tausenden von einfachen Volksgenossen relativiert. Longerich schildert ausführlich die zahlreichen antisemitischen Aussschreitungen nach dem Abschluss des Münchener Abkommens im Oktober 1938, die in den November-Pogrom mündeten. Um die Finanzierung der enorm gesteigerten Rüstung bei leeren Kassen zu ermöglichen, wurden die Juden mit brutalsten Mitteln aus der gesamten Wirtschaft entfernt und um Milliardenwerte beraubt. Dies war der wirkliche Grund für die forcierte Auswanderung und Vertreibung der ausgeplünderten deutschen, österreichischen und tschechischen Juden.
Mit der Schilderung der Verbrechen an Polen und Juden während des Polen-Feldzuges im September 1939 nähert sich Longerich seinem eigentlichen Thema. Jedem Oberkommando der fünf in Polen im Einsatz befindlichen Armeen der Wehrmacht war je eine Einsatzgruppe unterstellt, die Massenmorde an Zehntausenden von Juden und Polen ohne jegliche militärische Notwendigkeit durchführte. Es geschah zum ersten Male in der Geschichte der Kriege, dass eine reguläre Armee Massenmorde nicht nur zuließ, sondern sie teilweise selbst verübte, zum Beispiel bei der Ermordung von polnisch-jüdischen Kriegsgefangenen. Neben diesen im Kriege begangenen Verbrechen wird die Judenverfolgung im Generalgouvernement Polen und in den eingegliederten Gebieten geschildert.
Der Vernichtungspolitik und der Endlösung in Osteuropa nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 widmet der Autor auf über 200 Seiten den wichtigsten und aufschlussreichsten Teil seines Werkes. Erst im Kriege konnten die Vernichtungspläne in die grausige Wirklichkeit, in die Endlösung, umgesetzt werden. Bereits in den ersten Monaten des Krieges im Osten ermordeten die Einsatzgruppen und die Polizei-Bataillone Hunderttausende von jüdischen Männern. Später wurden Frauen und Kinder in Massenexekutionen erschossen. Longerich schildert auch die Beteiligung der Wehrmacht an den Morden, auch an jüdischen Kriegsgefangenen.
Im Schatten des Krieges wurden im Sommer 1941 die Juden aus Frankreich und später aus ganz Ost-, Südost- und Westeuropa deportiert. Im Herbst 1941 begannen die Deportationen der deutschen Juden, was als Drohgebärde gegen die Vereinigten Staaten gedeutet wurde. Die nach der Beendigung der Euthanasie-Aktionen im Reich arbeitslos gewordenen Mörder, mit dem Oberdienstleiter Viktor Brack von der Führerkanzlei an der Spitze, wurden zum Aufbau einer Massenmord-Struktur eingesetzt, zuerst mit Gaswagen und später durch den Bau von Vernichtungslagern mit Gaskammern und Krematorien. Das Kapitel "Genesis der Endlösung 1941" bildet einen wichtigen und spannenden Teil des Buches.
Am 12. Dezember 1941 versammelten sich in der Wohnung Hitlers in der Alten Reichskanzlei die Spitzen des Nazireiches. Hitler kündigte die Ermordung der europäischen Juden als Geiseln für das Wohlverhalten der Westmächte an, weil er ahnte, dass der Krieg verloren war. Longerich verneint zwar, dass diese Rede Hitlers die Grundsatzentscheidung zur Ermordung aller Juden war, aber zwei Tage später, am 14. Dezember, instruierte Himmler den Euthanasiespezialisten SS-Oberführer Viktor Brack über den neuen Befehl. Am 16. Dezember teilte Generalgouverneur Frank in Krakau diese Mord-Entscheidung seinen engsten Mitarbeitern mit. Hitler selbst lieferte dem Architekten des Holocaust Himmler in einer Besprechung am 18. Dezember 1941 das Tarnwort zur Ermordung der Juden. Himmler vermerkte handschriftlich in seinem Diensttagebuch: "Führerhauptquartier Wolfsschanze 18.XII.41 16 h Führer Judenfrage, als Partisanen auszurotten".
So kohärent, systematisch, spannend, und faktenreich das Geschehen auch geschildert wird, leistet das Buch einen weiteren Beitrag zur Entpersonalisierung der Geschichte, weil der Leser kaum etwas über die Biographien der Täter und der Opfer erfährt. Trotzdem ist es ein wichtiger Beitrag zu verschiedenen, noch wenig erforschten Aspekten des Holocaust.
ARNO LUSTIGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main