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Im Gespräch mit Peter Engelmann skizziert Jacques Rancière die Stationen seiner intellektuellen Biografie und entfaltet die zentralen Begriffe seines Denkens. So werden die Konturen einer philosophischen Position deutlich, die die Perspektiven auf Politik und Ästhetik im aktuellen Diskurs maßgeblich geprägt hat.Ausgehend von seinem Bruch mit dem strukturalistischen Marxismus skizziert Rancière die Entwicklung seines Denkens: Von seinen frühen Studien zur Arbeiteremanzipation bis hin zu seinen jüngeren Untersuchungen zu Literatur, Film und bildender Kunst wird dabei die durchgängige Verbindung…mehr

Produktbeschreibung
Im Gespräch mit Peter Engelmann skizziert Jacques Rancière die Stationen seiner intellektuellen Biografie und entfaltet die zentralen Begriffe seines Denkens. So werden die Konturen einer philosophischen Position deutlich, die die Perspektiven auf Politik und Ästhetik im aktuellen Diskurs maßgeblich geprägt hat.Ausgehend von seinem Bruch mit dem strukturalistischen Marxismus skizziert Rancière die Entwicklung seines Denkens: Von seinen frühen Studien zur Arbeiteremanzipation bis hin zu seinen jüngeren Untersuchungen zu Literatur, Film und bildender Kunst wird dabei die durchgängige Verbindung von ästhetischen und politischen Fragestellungen in seinem Schaffen sichtbar. Gegen die von ihm diagnostizierte Konstruktion eines gesellschaftlichen Konsenses bringt er das Politische als Dissens, als Störung der etablierten Aufteilung des Sinnlichen, in Stellung. Dabei beharrt er in Abgrenzung zu Althusser und Bourdieu auf der egalitären Dimension der ästhetischen Erfahrung und versteht seine Bestimmung der Ästhetik als "Regime der Erfahrung" als Revision der etablierten kunstgeschichtlichen Epochenbildung und Kritik am modernistischen Dogma. Abschließend wird mit Blick auf aktuelle soziale Bewegungen und Kunstpraktiken nach deren kritischen Potenzial gefragt und eine mögliche Annäherung künstlerischer und politischer Strategien thematisiert.
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Autorenporträt
Jacques Rancière, geboren 1940, lehrte zwischen 1969 und 2000 Philosophie und Kunsttheorie an der Universität Paris VIII.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Entschlossenheit zum Verrat

Am Anfang jeder Revolte muss der Blick frei werden für das Schöne: Der französische Philosoph Jacques Rancière über das Verhältnis von Ästhetik und Politik

Der Tischler Gauny arbeitet um 1830 in Frankreich in einer prächtigen Villa. Gauny verlegt dort das Parkett und ist mit seiner Aufmerksamkeit ganz an die Arbeit seiner Hände am Boden gefesselt. Bis es einen Moment gibt, in dem er den Blick von der Arbeit löst. Sein Blick wandert zum Fenster und erfasst die Perspektive, die Gebäude, die Gärten drum herum. Für den Philosophen Jacques Rancière tritt mit diesem Moment des von den Händen in die Schönheit der Gärten abgewanderten Blicks die ästhetische Dimension in der Emanzipation zutage, das Bestreben, in einer anderen sinnlichen Welt zu leben. Es sei im Grunde Immanuel Kants interesseloser Blick, der hier in der Villa im Tischler erwache. Für Rancière war die Beschreibung dieses die konkrete Umsetzung von Kants interesselosem Blick. Es ist allerdings nicht der Blick des Ästheten vor einem schönen Gemälde, der den Klassenkampf vergisst. Im Gegenteil.

Der Tischler Gauny gehörte zu den Aktivisten der ersten Arbeiteremanzipationskämpfe in Frankreich und da vor allem in Paris. Nur waren diese Klassenkämpfe keine Kämpfe zweier Welten um die Existenz nur einer Welt. Es waren eher und im Kern Aneignungskämpfe. Kämpfe, die damit begannen, dass die Arbeiter die Fähigkeit erlangten, den Blick von den Händen zu trennen und sich konkret und ästhetisch die Welt anzueignen, in der sie ihre Arbeitskraft verkauften. Der Tischler verkauft die Arbeit seiner Hände zugunsten des Profits eines Chefs und zum Nutzen eines Eigentümers, und doch geschieht es in dieser Welt, dass der Arbeiter den Blick eines Ästheten, das Denken eines Ästheten einnimmt. Der Arbeiterkörper, der dafür gemacht ist, tagtäglich seine Arbeit zu verkaufen, sein Brot zu verdienen, nachts zu schlafen, sich auszuruhen und am nächsten Tag neu zu beginnen, ist durch den Blick in den Garten einer anderen Welt in Unruhe verfallen. In eine Unruhe, die alles andere als folgenlos blieb.

Die Emanzipation der Arbeiter beginne in dem Moment, "in dem die Arbeiter beschließen, nicht zu schlafen, sondern andere Dinge zu tun, zu lesen, zu schreiben, sich nachts zu versammeln", fasst Rancière seine Forschungen zum Beginn der Arbeiterbewegung um 1830 anschaulich zusammen. "Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums" heißt denn auch sprechend das 2013 auf Deutsch erschienene Buch, in dem Rancière die Ergebnisse seiner Recherchen in französischen und holländischen Arbeiterarchiven veröffentlichte. Das Buch, das keine These enthielt und in Paris 1981 als philosophische Habilitationsschrift erschienen war, basierte allein auf den schriftlichen Selbstzeugnissen der Arbeiter jener Jahre. Und der Eindruck, der einem beim Lesen zuerst befällt, ist schlicht jener, dass man mit seinem heutigen Leben ein fauler Sack ist. Denn wie die Protagonisten sich nach zehn bis zwölf Stunden Handarbeit aufmachen, um sich die Errungenschaften einer Welt anzueignen, sich Politik, Kunst und Wissenschaft in Zeitungen und Büchern aneignen, um selbst Zeitungen, Briefe oder Flugblätter zu verfassen, das raubt einem den Atem. Und als politische Folgerung kann man diesen Zeugnissen auch entnehmen, dass es den Arbeitern damals nicht darum ging, so etwas wie eine Arbeiterkultur zu entwickeln, sondern eher ein allgemeines Schönes, dessen Vorbilder sie in den bürgerlichen Kunst- und Gestaltungsformen fanden.

Für Rancière verleiht dieser Drang der Nachtarbeiter zu einer interesselosen ästhetischen Praxis den kanonischen Texten der Ästhetik einen anderen und neuen Sinn. Wenn Kant im zweiten Paragraphen der "Kritik der Urteilskraft" die Art und Weise untersuche, wie die Fassade eines Palastes betrachtet werden müsse, um zu einem ästhetischen Urteil zu gelangen, gehe er im Grunde ähnlich vor wie die frühen Arbeiteraktivisten, sagt Rancière. Kant betone zwar, man könne darauf hinweisen, dass dieser Palast mit dem Schweiße des Volkes und für die Eitelkeit der Reichen erbaut worden sei, doch bestehe das ästhetische Urteil genau darin, das nicht zu berücksichtigen, sondern einen interesselosen Blick einzunehmen und sich zu fragen, ob einem dieser Palast gefalle oder nicht. Ein Vorgang, der im Blick des Tischlers Gauny in den Garten der Villa, in der er gerade arbeitet, praktisch und zum Ausgangspunkt einer Befreiungsbewegung wird.

Und genau in dieser Bewegung des interesselos freiwerdenden Blicks für das Schöne sieht Rancière den ästhetischen Impuls jeder politischen Revolte. Auch wegen der tiefliegenden Verbindung von Ästhetik und Politik in seinem Denken gehört Rancière zu den bedeutendsten und bekanntesten Philosophen des 21. Jahrhunderts. Seinen Denkweg kann man jetzt in einem kleinen, aber äußerst konzentrierten Gespräch nachlesen, das der Philosoph und Verleger des Passagen-Verlags, Peter Engelmann, mit Rancière geführt hat. Das Angenehme an dem Band ist, dass Rancière darin seine Gedanken in jargonfreier Sprache ausführt, ohne dabei an Detailgenauigkeit zu verlieren. Seine Lebensthemen kreisen in beständigem Wechsel um die Dialektik von Wissen und Macht, Politik und Polizei, Ästhetik und Demokratie.

Begonnen hat er Mitte der sechziger Jahre als Schüler von Louis Althusser und war einer der Mitautoren von Althussers epochalem Werk "Das Kapital lesen", das 1965 erschien. Aber schon in der zweiten Auflage von 1967 fehlte Rancière als Mitautor. Im Zuge jener Bewegungen, die zum Pariser Mai 1968 führen sollten, hatte er komplett mit Althusser gebrochen. Das hing zum einen mit Althussers Treue zur Kommunistischen Partei Frankreichs zusammen, die Rancière als eine vollkommen mittelmäßige, leblose Autoritätsveranstaltung erkannt hatte. Aber auch mit Althussers genereller Gegenüberstellung von Wissenschaft und Ideologie. Für Rancière gab es diese fundamentale Trennung zwischen Wissenschaft als dem Wahrheitsgaranten und Ideologie als dem Verblödungsinstrument nie. Auch die Wissenschaft produzierte Ideologie, und Ideologie konnte als Begriff für alles Falsche schon deshalb nicht taugen, weil zum Beispiel in verdammten Tätigkeiten wie dem Verfassen einer Reportage für eine vermeintlich bürgerliche Zeitung immer genug Möglichkeiten lagen, um den Dingen und Menschen eine dem Gleichheitsgedanken verpflichtete Sichtweise zukommen zu lassen.

Wobei das Gleichheitsaxiom, also die vorausgesetzte und nicht die naturalistisch oder empirisch ermittelte Gleichheit aller Menschen, die durchgängige Richtschnur von Rancières Denken ist. Gleichheit also nicht als zu erreichendes Ziel, sondern als die Bedingung seines Denkens. Eine Gleichheitsvorstellung, die ihn nichts mehr verachten lässt als die Einteilung der Menschen in große und kleine Leute. Aus diesem Impuls hatte sich Rancière auch den Archiven der frühen Arbeiterbewegung zugewandt, und aus dem gleichen Impuls ist er nach 1989 auch zu einem der entschiedensten Demokratietheoretiker geworden. Demokratie ist für ihn im ursprünglichen griechischen Sinn die Macht von allen. Woraus auch folgt, dass die Demokratie immer ein Zustand des Konflikts ist und nicht des Konsens. Denn nichts und niemand, weder eine Institution noch ein Staat, wird es je schaffen, alle in der gleichen Weise am Lauf der Dinge zu beteiligen. Streit und Kampf um die Beteiligungen sind in diesem Konzept der Demokratie also programmiert, und wenn es in diesen Kämpfen zum Eintritt der bisher nicht gezählten Bevölkerungsteile in eine Institution oder eine Gesellschaft kommt, spricht Rancière von Politik.

Politik ist der Moment in der Geschichte, in dem die bisher nicht Gezählten zu zählen beginnen. Es ist der Moment, in dem die normalen Abläufe gestört werden, in dem nicht mehr jeder an dem ihm zugewiesenen Platz bleibt, sondern sich bewegt wie der Tischler beim Blick auf den Garten. Eine Bewegung, die Rancière immer zuerst ästhetisch vorbereitet findet, wie etwa in dem Moment, in dem eine amerikanische Zeitschrift James Agee und Walker Evans beauftragt, inmitten der Krise der dreißiger Jahre verarmte Pächterfamilien in Alabama, Amerikas damaligem Armenhaus, zu porträtieren. Es ist, als sich die beiden auf den Weg machen, um ihr am Ende großartiges Werk "Preisen will ich die großen Männer. Drei Pächterfamilien" zu schaffen, alles entwickelt und klar. Die klassische Reportage mit ihren Bildern und die Forderung, das Elend so zu zeigen, dass es für den Leser nachvollziehbar wird, und nicht zuletzt auf Heilmittel zu verweisen, egal ob diese in religiö-sem Glauben, Reformen der Regierung oder einer proletarischen Revolution bestehen.

Agee und Evans finden die Zurschaustellung des gedemütigten Lebens aber nur obszön und die Heilmittel billig. Also greifen sie im Rahmen der Reportage selbst zum Verrat des Formats. Sie trennen Text und Foto total, kein Bild von Evans zeigt die Risse in den Kommoden in den Häusern, die Agee im Text mit Proustscher Detailversessenheit beschreibt. Für Rancière ein ästhetischer Fortschritt durch Trennung der Methoden - und nicht durch falsche Synthesen und Heilmittel.

CORD RIECHELMANN.

Jacques Rancière: "Politik und Ästhetik. Im Gespräch mit Peter Engelmann". Herausgegeben von Peter Engelmann. Übersetzt von Gwendolin Engels. Passagen, 112 Seiten, 15,30 Euro

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