Woher kommen unsere Werte und Vorstellungen? Wird eine Nation durch ihre Grenzen, Sprachen oder gar die Abstammung ihrer Bürger definiert? Als neugieriger Entdecker führt Raoul Schrott in vier großen Essays hinein in die Welt unseres Zusammenlebens. Am Beispiel des Hochdeutschen zeigt er, wie Kultur überhaupt erst entsteht. Welche Sprengkraft Ideen haben, demonstriert er an der Politik des Heiligen, wie sie etwa die Papstwahl vorführt. "Nichts Abgeschlossenes vermag auf Dauer zu bestehen." Dieser Satz erlangt neue Bedeutung, betrachtet man die Gesellschaft als Ergebnis jahrtausendelanger Prozesse. Hier blickt ein Universalgelehrter weiter als nur bis zum nächsten politischen Grabenkampf.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2018Die Götter sind so schrecklich
Teufelskenner: Raoul Schrott versteigt sich im Heiligen
Raoul Schrott ist ein Autor, der schon hinlänglich bewiesen hat, dass ihm zu vielen Dingen vieles einfällt. Im jüngsten Buch (Raoul Schrott: "Politiken & Ideen". Vier Essays. Hanser Verlag, München 2018. 251 S., geb., 23,- [Euro]) sind es "Politiken", nämlich jene des Nationalen, des Heiligen, der Sprache und des Kulturellen. Weil das ein weites Feld ist, versuchen wir uns nicht am Überblick über diese vier Essays, sondern steigen statt dessen gleich in jenen ein, in dem Schrott vom hartnäckigen Weiterleben des Heiligen in einer sich eigentlich weitgehend säkular fühlenden Gesellschaft handelt.
Mit der Idee Gottes gehe es bergab, konstatiert er dort, weshalb die Idee des Bösen, das Teuflische, Konjunktur habe. Das sehe man an der "Typisierung Hitlers", der "weltweit unzweifelhaft das fleischgewordene Böse darstellt". Merkwürdig, denken wir an dieser Stelle, lasen wir nicht öfter von ganz anderen Bildern Hitlers in einigen Weltgegenden? Aber es geht halt darum, sehen wir dann gleich, dass Hitler eine "Umkehrfigur" sein soll, weil nämlich "die Auseinandersetzung mit ihm vom selben Horror und derselben Faszination geprägt (ist) wie vor dem Heiligen". Ganz einfach.
Und damit geht's gleich zur nächsten Umkehrung. Denn die von Hitler betriebene Vernichtung der Juden könne unter der nun einmal nicht loszuwerdenden christlichen Perspektive "auch an die Stelle der Kreuzigung treten: wo der Eine sich für die Menschen opferte, wurden hier Menschen für einen Einzelnen ausgelöscht. Sieht man darin einen kollektiven Opfertod, wird daraus das Schicksal einer spiegelverkehrten Heilsgeschichte."
Haben wir richtig gelesen? Aber es steht tatsächlich so da: Wo Jesus sich für die Menschen am Kreuz opferte, wurden hier Menschen, nämlich Juden, für einen Einzelnen, nämlich Hitler, ausgelöscht. Wobei diese Auslöschung im nächsten Satz doch noch zur Opferung wird. Die gleich darauf eingeschobene rhetorische Frage, ob dieser Blickwinkel einem Massenmord auch wirklich gerecht werde, unterstreicht durch ihre Folgenlosigkeit, dass der Autor ebendiese Sichtweise festhält.
Und als ob Schrott ahnte, dass uns die Raffinesse der so erkannten Symmetrie, die spiegelverkehrte Heilsgeschichte, oder vielmehr das Schicksal derselben durchaus nicht einleuchtet, gibt er gleich einen anschaulichen Beleg für die solcherart anvisierte "sakrale Dimension" der Judenvernichtung. Die Architektur des von Daniel Libeskind entworfenen Jüdischen Museums in Berlin nämlich. Denn was sehen wir schließlich dort: Nicht nur kreuzen sich dessen Achsen, selbst die Fenster weisen Kreuzform auf, "gleichsam als Zeichen dafür, wie schwer es uns fällt, Geschichte ohne die gewohnten Symbole des Heiligen zu verstehen". Wer jetzt nicht einsieht, dass die Judenvernichtung die Kreuzigung vertritt, dem kann keiner mehr helfen.
Ein paar Absätze weiter - nachdem wir im Vorbeigehen gelernt haben, dass auch ein Großteil moderner Kunstgeschichte im Bann des Heiligen steht, weil Bilder Rahmen haben, die sie von der Umgebung abheben, und die Abgrenzung vom Alltäglichen nun einmal die Grundbestimmung des Heiligen sei - diagnostiziert der Autor mit Blick auf Peter Eisenmans Berliner Stelenfeld, dass "das Ästhetische eines Mahnmals nur sehr bedingt dazu in der Lage ist, das subjektive Erlebnis von Todesschrecken wachzurufen". Sehen wir auch so, wir würden sogar hinzufügen, dass auch das Unästhetische nicht heranreichte, selbst wenn wir uns unter einem objektiven Erleben dieses Schreckens nichts vorstellen können.
Aber weiter im Text: "Ohne die sie begleitende gesellschaftliche Erinnerungskultur (. . .) hätte deshalb Auschwitz lediglich die Eindrücklichkeit einer leerstehenden Fabrik." Nebbich, natürlich muss man davon wissen, was dort geschah. Und wie geschieht den Besuchern dort nach Schrott: Sie reagieren auf "diese dämonischen genius loci ähnlich wie auf das numinos Göttliche - ebenso sehr tremendum wie fascinans, in der Angstlust der Götterschau. Denn Götter sind so schrecklich, wie sie Schreckliches zulassen oder auch es selbst erleiden - ob der alttestamentarische Jahwe, Apollon, der Marsyas langsam die Haut in Streifen abzieht, oder Jesus an seinem Kreuz."
So schwadroniert er dahin. Und wir gestehen, uns packte das tremendum, doch nicht fasziniert. Während unweigerlich Fragen vor uns auftauchten, die weder mit dem Heiligen noch seiner Umkehrfigur Hitler zu tun haben, sondern sehr viel bescheidener ausfallen: Wie etwa diejenige, ob ein renommierter Verlag denn seinem Autor nicht schonend mitteilen kann, dass er sich ja gerne da und dort versteigen darf, aber doch vielleicht eher nicht, wenn es um die Judenvernichtung geht. Und wir beließen es beim Eindruck, den diese Passagen uns von der Tiefgründigkeit des Autors gaben.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Teufelskenner: Raoul Schrott versteigt sich im Heiligen
Raoul Schrott ist ein Autor, der schon hinlänglich bewiesen hat, dass ihm zu vielen Dingen vieles einfällt. Im jüngsten Buch (Raoul Schrott: "Politiken & Ideen". Vier Essays. Hanser Verlag, München 2018. 251 S., geb., 23,- [Euro]) sind es "Politiken", nämlich jene des Nationalen, des Heiligen, der Sprache und des Kulturellen. Weil das ein weites Feld ist, versuchen wir uns nicht am Überblick über diese vier Essays, sondern steigen statt dessen gleich in jenen ein, in dem Schrott vom hartnäckigen Weiterleben des Heiligen in einer sich eigentlich weitgehend säkular fühlenden Gesellschaft handelt.
Mit der Idee Gottes gehe es bergab, konstatiert er dort, weshalb die Idee des Bösen, das Teuflische, Konjunktur habe. Das sehe man an der "Typisierung Hitlers", der "weltweit unzweifelhaft das fleischgewordene Böse darstellt". Merkwürdig, denken wir an dieser Stelle, lasen wir nicht öfter von ganz anderen Bildern Hitlers in einigen Weltgegenden? Aber es geht halt darum, sehen wir dann gleich, dass Hitler eine "Umkehrfigur" sein soll, weil nämlich "die Auseinandersetzung mit ihm vom selben Horror und derselben Faszination geprägt (ist) wie vor dem Heiligen". Ganz einfach.
Und damit geht's gleich zur nächsten Umkehrung. Denn die von Hitler betriebene Vernichtung der Juden könne unter der nun einmal nicht loszuwerdenden christlichen Perspektive "auch an die Stelle der Kreuzigung treten: wo der Eine sich für die Menschen opferte, wurden hier Menschen für einen Einzelnen ausgelöscht. Sieht man darin einen kollektiven Opfertod, wird daraus das Schicksal einer spiegelverkehrten Heilsgeschichte."
Haben wir richtig gelesen? Aber es steht tatsächlich so da: Wo Jesus sich für die Menschen am Kreuz opferte, wurden hier Menschen, nämlich Juden, für einen Einzelnen, nämlich Hitler, ausgelöscht. Wobei diese Auslöschung im nächsten Satz doch noch zur Opferung wird. Die gleich darauf eingeschobene rhetorische Frage, ob dieser Blickwinkel einem Massenmord auch wirklich gerecht werde, unterstreicht durch ihre Folgenlosigkeit, dass der Autor ebendiese Sichtweise festhält.
Und als ob Schrott ahnte, dass uns die Raffinesse der so erkannten Symmetrie, die spiegelverkehrte Heilsgeschichte, oder vielmehr das Schicksal derselben durchaus nicht einleuchtet, gibt er gleich einen anschaulichen Beleg für die solcherart anvisierte "sakrale Dimension" der Judenvernichtung. Die Architektur des von Daniel Libeskind entworfenen Jüdischen Museums in Berlin nämlich. Denn was sehen wir schließlich dort: Nicht nur kreuzen sich dessen Achsen, selbst die Fenster weisen Kreuzform auf, "gleichsam als Zeichen dafür, wie schwer es uns fällt, Geschichte ohne die gewohnten Symbole des Heiligen zu verstehen". Wer jetzt nicht einsieht, dass die Judenvernichtung die Kreuzigung vertritt, dem kann keiner mehr helfen.
Ein paar Absätze weiter - nachdem wir im Vorbeigehen gelernt haben, dass auch ein Großteil moderner Kunstgeschichte im Bann des Heiligen steht, weil Bilder Rahmen haben, die sie von der Umgebung abheben, und die Abgrenzung vom Alltäglichen nun einmal die Grundbestimmung des Heiligen sei - diagnostiziert der Autor mit Blick auf Peter Eisenmans Berliner Stelenfeld, dass "das Ästhetische eines Mahnmals nur sehr bedingt dazu in der Lage ist, das subjektive Erlebnis von Todesschrecken wachzurufen". Sehen wir auch so, wir würden sogar hinzufügen, dass auch das Unästhetische nicht heranreichte, selbst wenn wir uns unter einem objektiven Erleben dieses Schreckens nichts vorstellen können.
Aber weiter im Text: "Ohne die sie begleitende gesellschaftliche Erinnerungskultur (. . .) hätte deshalb Auschwitz lediglich die Eindrücklichkeit einer leerstehenden Fabrik." Nebbich, natürlich muss man davon wissen, was dort geschah. Und wie geschieht den Besuchern dort nach Schrott: Sie reagieren auf "diese dämonischen genius loci ähnlich wie auf das numinos Göttliche - ebenso sehr tremendum wie fascinans, in der Angstlust der Götterschau. Denn Götter sind so schrecklich, wie sie Schreckliches zulassen oder auch es selbst erleiden - ob der alttestamentarische Jahwe, Apollon, der Marsyas langsam die Haut in Streifen abzieht, oder Jesus an seinem Kreuz."
So schwadroniert er dahin. Und wir gestehen, uns packte das tremendum, doch nicht fasziniert. Während unweigerlich Fragen vor uns auftauchten, die weder mit dem Heiligen noch seiner Umkehrfigur Hitler zu tun haben, sondern sehr viel bescheidener ausfallen: Wie etwa diejenige, ob ein renommierter Verlag denn seinem Autor nicht schonend mitteilen kann, dass er sich ja gerne da und dort versteigen darf, aber doch vielleicht eher nicht, wenn es um die Judenvernichtung geht. Und wir beließen es beim Eindruck, den diese Passagen uns von der Tiefgründigkeit des Autors gaben.
HELMUT MAYER
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"Politiken & Ideen" ist Raoul Schrotts kluge Intervention in die politischen Debatten unserer Zeit." Uwe Schütte, Wiener Zeitung, 23.06.18