Gustav Stresemann, Reichstagsabgeordneter ab 1907, 1923 Reichskanzler und bis zu seinem Tod 1929 Außenminister der Weimarer Republik, hatdem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts seinen Stempel aufgedrückt. Der machtbewusste Nationalliberale war schon zu Lebzeiten nicht unumstritten. Und bis heute polarisieren seine Politik und seine Person die Forschungen zur (Nach-) Geschichte Weimars. Als Würdigung seiner Friedensaktivitäten (Friedensnobelpreis 1926 als erster Deutscher) steht neben Kritik an aggressiver nationaler Großmachtpolitik, Zweifel am Wandel vom Monarchisten zum Republikaner neben der Anerkennung seiner Bemühungen um Stabilisierung der Republik. Das neu erwachte Interesse an politischer Kultur und bürgerlicher Prägung der Weimarer Republik ist Ausgangspunkt dieses Bandes mit dem internationalen Forschungsstand zur Biografie und Wirken des Politikers.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2002Gustav der Grenzgänger?
Alte Fragen der Stresemann-Forschung werden neu gestellt
Karl-Heinrich Pohl (Herausgeber): Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 311 Seiten, 25,- Euro.
Jede Generation schreibt ihre Geschichte neu: Diente die Weimarer Republik jahrzehntelang als Negativfolie für die Selbstvergewisserung der Bonner Bundesrepublik, so haben sich die Perspektiven nach 1989/90 verschoben. Im Lichte neuer Gegenwartserfahrungen - von der neuerlichen Frage nach der Stellung Deutschlands in Europa und der Welt bis zu den Problemen der sozialen Sicherungssysteme - ebenso wie neuer Forschungsansätze stellen sich die alten Fragen wieder neu.
So bereitet Karl-Heinrich Pohl eine neue Stresemann-Biographie vor und gibt jetzt flankierend einen Sammelband heraus, den er mit einem Blick in seine Werkstatt eröffnet. Dort sieht es allerdings noch recht unaufgeräumt aus: Selbstverständlichkeiten und Absichtserklärungen - es "darf und sollte auf keinen Fall ein neuer Held geboren werden" - liegen ebenso herum wie Forschungsansätze und Untersuchungsgegenstände, die "möglicherweise" zu neuen Erkenntnissen führen könnten, vor allem der Topos des "Grenzgängers": "Vielleicht kann man damit - bei aller gebotenen Vorsicht - einen ,Schlüssel' zur Analyse seiner Persönlichkeit gewinnen."
Während man sich fragt, ob solch selbstreferentielles making of wirklich der separaten Publikation bedarf, und während auch ein rein deskriptiver, immer wieder in Vermutungen endender Beitrag über Stresemanns Dresdner Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Nachweis schuldig bleibt, daß von ihrer Untersuchung "ein ganz neuer Eindruck vom Leben Stresemanns" ausgehe, versammeln die anderen Beiträge immerhin den Stand der Stresemann-Forschung. Mit der Souveränität angelsächsischer Biographik skizziert Jonathan Wright das Charakterbild des Reichsaußenministers der Jahre 1923 bis 1929 und Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei (DVP): der wesentliche Gesichtszug der "Maske" des stets Außenseiter gebliebenen Sozialaufsteigers war der "Drang zum Kompromiß", den auch Christian Baechler in der Essenz seiner Biographie aus dem Jahre 1996 im Zentrum der Persönlichkeit sieht. Entgegen dem weitverbreiteten, schon zeitgenössischen Vorwurf des Opportunismus oder der Camouflage attestiert er ihm - trotz aller Wandlungen - Authentizität und Aufrichtigkeit der jeweiligen Überzeugungen: "ein Realist, kein Zyniker".
Stresemanns spezifische und für die deutsche Geschichte alles andere als typische Verbindung von Realitätssinn und Kompromißbereitschaft erstreckte sich von der Innenpolitik über die internationalen Wirtschaftsbeziehungen und das Staatensystem bis hin zur Sozialpolitik. Mit seiner Fähigkeit zu systemischem Denken verfolgte er - so Peter Krüger - deutsche Interessenpolitik nicht durch offensiven, nationalistischen Revisionismus, sondern durch Mäßigung, friedlichen Interessenausgleich und institutionalisierte Kooperation auf europäischer Ebene. Aus der Erkenntnis der "Verflochtenheit der Interessen und Beziehungen" habe Stresemann einen neuen Begriff von Macht und Staatenordnung abgeleitet. Krüger warnt jedoch vor einer Überstrapazierung der Interpretationsfigur von der "Wirtschaftsmacht", wie sie Gottfried Niedhart mit seinem liberalen Modell des "Internationalismus" in wirtschaftlichen Kategorien vorträgt.
Bei dieser jedenfalls angedeuteten Differenz, hinter der immerhin Grundfragen der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen stehen, bleibt es dann aber auch. Der Hauptbefund dieses Bandes liegt in der - vor allem angesichts der höchst wechselhaften Rezeptionsgeschichte - erstaunlich weitgehenden, zumindest grundsätzlichen Einmütigkeit der Forschung über Stresemann. Das gilt auch für die Innenpolitik. Kontroversen um die Annäherung Stresemanns an die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) hebt Larry E. Jones in der Strategie einer dauerhaften Stabilisierung der Republik von rechts auf. Dahinter stand aber mehr als bloßer Pragmatismus, wie Ludwig Richters umsichtiger Beitrag hervorhebt, nämlich Stresemanns Verpflichtung auf die "klassisch-liberale, staatsidealistische Tradition, die eine Übernahme der Verantwortung um des Staatsganzen willen forderte" und die DVP in eine "Staatspartei" umzuformen trachtete. Der "Mahlstrom" einer fundamentalen Erosion des Parlamentarismus walzte diese Ansätze jedoch nieder und war "nicht von Personen oder einzelnen Gruppen aufzuhalten". Daher verliere auch die Frage an Bedeutung, ob Stresemann - wäre er nicht am 3. Oktober 1929 gestorben - den Untergang der Republik hätte verhindern können. Eine solche Ansicht leitet jedoch Henry A. Turner aus einer kontrafaktischen Analyse her: mit Stresemann wäre das Scheitern der Großen Koalition 1930 und die Septemberwahl samt dem Durchbruch der NSDAP ausgeblieben. In der Tat hätte die Welt dann anders ausgesehen. Aber es führt nicht weiter, diesen Gedanken konkret auszuspinnen.
ANDREAS RÖDDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alte Fragen der Stresemann-Forschung werden neu gestellt
Karl-Heinrich Pohl (Herausgeber): Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 311 Seiten, 25,- Euro.
Jede Generation schreibt ihre Geschichte neu: Diente die Weimarer Republik jahrzehntelang als Negativfolie für die Selbstvergewisserung der Bonner Bundesrepublik, so haben sich die Perspektiven nach 1989/90 verschoben. Im Lichte neuer Gegenwartserfahrungen - von der neuerlichen Frage nach der Stellung Deutschlands in Europa und der Welt bis zu den Problemen der sozialen Sicherungssysteme - ebenso wie neuer Forschungsansätze stellen sich die alten Fragen wieder neu.
So bereitet Karl-Heinrich Pohl eine neue Stresemann-Biographie vor und gibt jetzt flankierend einen Sammelband heraus, den er mit einem Blick in seine Werkstatt eröffnet. Dort sieht es allerdings noch recht unaufgeräumt aus: Selbstverständlichkeiten und Absichtserklärungen - es "darf und sollte auf keinen Fall ein neuer Held geboren werden" - liegen ebenso herum wie Forschungsansätze und Untersuchungsgegenstände, die "möglicherweise" zu neuen Erkenntnissen führen könnten, vor allem der Topos des "Grenzgängers": "Vielleicht kann man damit - bei aller gebotenen Vorsicht - einen ,Schlüssel' zur Analyse seiner Persönlichkeit gewinnen."
Während man sich fragt, ob solch selbstreferentielles making of wirklich der separaten Publikation bedarf, und während auch ein rein deskriptiver, immer wieder in Vermutungen endender Beitrag über Stresemanns Dresdner Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Nachweis schuldig bleibt, daß von ihrer Untersuchung "ein ganz neuer Eindruck vom Leben Stresemanns" ausgehe, versammeln die anderen Beiträge immerhin den Stand der Stresemann-Forschung. Mit der Souveränität angelsächsischer Biographik skizziert Jonathan Wright das Charakterbild des Reichsaußenministers der Jahre 1923 bis 1929 und Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei (DVP): der wesentliche Gesichtszug der "Maske" des stets Außenseiter gebliebenen Sozialaufsteigers war der "Drang zum Kompromiß", den auch Christian Baechler in der Essenz seiner Biographie aus dem Jahre 1996 im Zentrum der Persönlichkeit sieht. Entgegen dem weitverbreiteten, schon zeitgenössischen Vorwurf des Opportunismus oder der Camouflage attestiert er ihm - trotz aller Wandlungen - Authentizität und Aufrichtigkeit der jeweiligen Überzeugungen: "ein Realist, kein Zyniker".
Stresemanns spezifische und für die deutsche Geschichte alles andere als typische Verbindung von Realitätssinn und Kompromißbereitschaft erstreckte sich von der Innenpolitik über die internationalen Wirtschaftsbeziehungen und das Staatensystem bis hin zur Sozialpolitik. Mit seiner Fähigkeit zu systemischem Denken verfolgte er - so Peter Krüger - deutsche Interessenpolitik nicht durch offensiven, nationalistischen Revisionismus, sondern durch Mäßigung, friedlichen Interessenausgleich und institutionalisierte Kooperation auf europäischer Ebene. Aus der Erkenntnis der "Verflochtenheit der Interessen und Beziehungen" habe Stresemann einen neuen Begriff von Macht und Staatenordnung abgeleitet. Krüger warnt jedoch vor einer Überstrapazierung der Interpretationsfigur von der "Wirtschaftsmacht", wie sie Gottfried Niedhart mit seinem liberalen Modell des "Internationalismus" in wirtschaftlichen Kategorien vorträgt.
Bei dieser jedenfalls angedeuteten Differenz, hinter der immerhin Grundfragen der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen stehen, bleibt es dann aber auch. Der Hauptbefund dieses Bandes liegt in der - vor allem angesichts der höchst wechselhaften Rezeptionsgeschichte - erstaunlich weitgehenden, zumindest grundsätzlichen Einmütigkeit der Forschung über Stresemann. Das gilt auch für die Innenpolitik. Kontroversen um die Annäherung Stresemanns an die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) hebt Larry E. Jones in der Strategie einer dauerhaften Stabilisierung der Republik von rechts auf. Dahinter stand aber mehr als bloßer Pragmatismus, wie Ludwig Richters umsichtiger Beitrag hervorhebt, nämlich Stresemanns Verpflichtung auf die "klassisch-liberale, staatsidealistische Tradition, die eine Übernahme der Verantwortung um des Staatsganzen willen forderte" und die DVP in eine "Staatspartei" umzuformen trachtete. Der "Mahlstrom" einer fundamentalen Erosion des Parlamentarismus walzte diese Ansätze jedoch nieder und war "nicht von Personen oder einzelnen Gruppen aufzuhalten". Daher verliere auch die Frage an Bedeutung, ob Stresemann - wäre er nicht am 3. Oktober 1929 gestorben - den Untergang der Republik hätte verhindern können. Eine solche Ansicht leitet jedoch Henry A. Turner aus einer kontrafaktischen Analyse her: mit Stresemann wäre das Scheitern der Großen Koalition 1930 und die Septemberwahl samt dem Durchbruch der NSDAP ausgeblieben. In der Tat hätte die Welt dann anders ausgesehen. Aber es führt nicht weiter, diesen Gedanken konkret auszuspinnen.
ANDREAS RÖDDER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wer zwischen den Zeilen liest, kann den Worten von Kritiker Andreas Rödder eine gewisse ratlose Distanz zu dem Sammelband entnehmen, der - sozusagen als Stoffsammlung - vor der demnächst erscheinenden neuen Stresemann-Biografie von Karl-Heinrich Pohl herausgegeben worden ist. Die Autoren skizzieren zwar umfassend den aktuellen Forschungsstand, so Rödder, aber ob der vorherige Blick in die "Werkstatt" des Herausgebers und seiner Co-Autoren tatsächlich vonnöten war, bezweifelt der Rezensent doch sehr. In jener "Werkstatt" nämlich sieht es noch "recht unaufgeräumt aus", findet er; floskelartige Äußerungen stünden umrissenen Forschungsansätzen gegenüber und bilden offenbar für den Kritiker kein wirklich homogenes Bild von der Arbeit an der erwarteten Biografie. Wirklich kontrovers wird Stresemann schon lange nicht mehr diskutiert, erklärt Rödder, daher sei das eigentliche Ergebnis dieses Bands auch nicht die Ausbreitung irgendwelcher neuer spektakulärer Ansichten, sondern die Darstellung der "Einmütigkeit der Forschung über Stresemann". Und das klingt doch wenig beflügelnd.
© Perlentaucher Medien GmbH
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