Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1999Ein Vorurteil entkräftet
Andere bestätigt: Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR
Sonja Süß: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Band 14. Ch. Links Verlag, Berlin 1998. 776 Seiten, 58,- Mark.
Nach der politischen Wende in Deutschland wurden erhebliche Vorwürfe wegen eines generellen politischen Mißbrauchs der Psychiatrie in der DDR erhoben. Untersuchungskommissionen in den meisten neuen Bundesländern überprüften darauf die psychiatrischen Behandlungs- und Einweisungspraktiken zu DDR-Zeiten. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die Kommission, die sich mit den Vorwürfen gegen das psychiatrische Krankenhaus Waldheim als "Stasi-Folterklinik" und den Anschuldigungen des ehemaligen sächsischen Innenministers Heinz Eggert gegen seine Behandlung im psychiatrischen Krankenhaus Großschweidnitz beschäftigte.
Ein Kommissionsmitglied, die 1957 in Thüringen geborene Nervenärztin Sonja Süß, widmete fünf Jahre intensiver Forschung der Aufarbeitung von Verknüpfungen zwischen psychiatrischer Wissenschaft und politischer Macht in der DDR. Das Werk der seit Mitte der achtziger Jahre in der Bürgerbewegung aktiven Autorin ist der Bürgerrechtlerin und Nervenärztin Erika Drees gewidmet, die trotz andauernder politischer Verfolgung, einschließlich Haft, jahrzehntelang als Psychiaterin zum Wohle ihrer Patienten tätig gewesen ist.
Die zentrale Aussage der Monographie, die insbesondere auf der Analyse Hunderter Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) basiert, entkräftigt ein Vorurteil: Anders als in der Sowjetunion oder in Rumänien ist die Psychiatrie in der DDR nicht systematisch als staatssicherheitsdienstliches Instrument zur Verfolgung politischer Gegner mißbraucht worden.
Damit wird kein "Persil-Schein" ausgestellt; es hat politischen Mißbrauch gegeben, aber in Einzelfällen, die sehr differenziert dargestellt werden. Häufige Rechtsverletzungen mit systematischem Charakter sind bei den polizeirechtlichen Psychiatrieeinweisungen zu verzeichnen. Unter Verstoß gegen das Einweisungsgesetz der DDR wurden psychisch Kranke oder Alkoholabhängige, die als potentielle "Störer" betrachtet wurden, bei "gesellschaftlichen Höhepunkten" wie Sportfesten und Parteitagen widerrechtlich festgehalten.
In dem Kapitel über "inoffizielle Mitarbeiter im Gesundheitswesen" wird als zentrales Anliegen der Stasi weniger eine Bespitzelung von Patienten als vielmehr eine gegenseitige Kontrolle des medizinischen Personals zur Unterbindung von Fluchtbewegungen und zur generellen Überwachung der als politisch unzuverlässig geltenden medizinischen Intelligenz dargestellt. Nach Schilderung der Autorin waren 35 Prozent der Ärzte Inoffizielle Mitarbeiter (IM).
Auffällige Unterschiede ergaben sich bei der Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht zwischen Psychiatern und Ärzten anderer Fachrichtungen. In 62 Prozent der IM-Akten von Psychiatern sind Schweigepflichtsverletzungen dokumentiert. Bei Vertretern anderer Fachrichtungen sind es "nur" 21 Prozent.
Beispiele dafür, daß die Führungsoffiziere der Staatssicherheit die psychiatrische Krankenbehandlung hätten beeinflussen wollen oder können, etwa um einem Kranken durch bewußte Fehltherapie zu schaden, finden sich nicht. Staatssicherheit und Gesundheitswesen zeigen sich als Institutionen, die unter Anleitung und Kontrolle durch die Partei keineswegs harmonisch zusammengearbeitet, sondern jeweils eigene Interessen verfolgt haben.
Die Autorin stützt ihre Befunde auf belegbare Tatsachen, die durch einen umfangreichen Apparat von Anmerkungen und Fußnoten dokumentiert werden. Unter dem Stichwort "Kolportage von Stereotypen" setzt Frau Süß sich mit der Literatur über ihr Thema auseinander. Auch methodische Grenzen, zum Beispiel bei der Interpretation von Gutachten, werden erörtert.
Großen Umfang nimmt die Schilderung der historischen und politischen Rahmenbedingungen in bezug auf das gesamte Gesundheitswesen der DDR ein. Hier wird auch die Geschichte Eggerts dargestellt. Gesonderte Kapitel beschäftigen sich mit den politischen Hintergründen des Verhaltens von Fachvertretern der Ostblockländer im Weltverband für Psychiatrie 1971 bis 1989 und mit dem eigenen Zentralen Medizinischen Dienst der Staatssicherheit, der die psychisch destruktiven Folgen repressiver Tätigkeiten bei ihren Verursachern dokumentiert.
Die Autorin belegt, daß psychologisches Fachwissen für MfS-Zwecke unter dem Etikett "Operative Psychologie" systematisch ausgebeutet wurde und wertet das als typisches Beispiel für die Akademisierung der Kaderausbildung in den sechziger Jahren. Neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis, Ortsregister und Erläuterungen DDR-spezifischer Abkürzungen enthält das Werk auch ein umfangreiches Personenregister, in dem die einst für das Ministerium für Staatssicherheit tätigen Psychiater namentlich aufgeführt sind. Einige von ihnen praktizieren heute noch.
MANFRED GASPAR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andere bestätigt: Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR
Sonja Süß: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Band 14. Ch. Links Verlag, Berlin 1998. 776 Seiten, 58,- Mark.
Nach der politischen Wende in Deutschland wurden erhebliche Vorwürfe wegen eines generellen politischen Mißbrauchs der Psychiatrie in der DDR erhoben. Untersuchungskommissionen in den meisten neuen Bundesländern überprüften darauf die psychiatrischen Behandlungs- und Einweisungspraktiken zu DDR-Zeiten. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die Kommission, die sich mit den Vorwürfen gegen das psychiatrische Krankenhaus Waldheim als "Stasi-Folterklinik" und den Anschuldigungen des ehemaligen sächsischen Innenministers Heinz Eggert gegen seine Behandlung im psychiatrischen Krankenhaus Großschweidnitz beschäftigte.
Ein Kommissionsmitglied, die 1957 in Thüringen geborene Nervenärztin Sonja Süß, widmete fünf Jahre intensiver Forschung der Aufarbeitung von Verknüpfungen zwischen psychiatrischer Wissenschaft und politischer Macht in der DDR. Das Werk der seit Mitte der achtziger Jahre in der Bürgerbewegung aktiven Autorin ist der Bürgerrechtlerin und Nervenärztin Erika Drees gewidmet, die trotz andauernder politischer Verfolgung, einschließlich Haft, jahrzehntelang als Psychiaterin zum Wohle ihrer Patienten tätig gewesen ist.
Die zentrale Aussage der Monographie, die insbesondere auf der Analyse Hunderter Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) basiert, entkräftigt ein Vorurteil: Anders als in der Sowjetunion oder in Rumänien ist die Psychiatrie in der DDR nicht systematisch als staatssicherheitsdienstliches Instrument zur Verfolgung politischer Gegner mißbraucht worden.
Damit wird kein "Persil-Schein" ausgestellt; es hat politischen Mißbrauch gegeben, aber in Einzelfällen, die sehr differenziert dargestellt werden. Häufige Rechtsverletzungen mit systematischem Charakter sind bei den polizeirechtlichen Psychiatrieeinweisungen zu verzeichnen. Unter Verstoß gegen das Einweisungsgesetz der DDR wurden psychisch Kranke oder Alkoholabhängige, die als potentielle "Störer" betrachtet wurden, bei "gesellschaftlichen Höhepunkten" wie Sportfesten und Parteitagen widerrechtlich festgehalten.
In dem Kapitel über "inoffizielle Mitarbeiter im Gesundheitswesen" wird als zentrales Anliegen der Stasi weniger eine Bespitzelung von Patienten als vielmehr eine gegenseitige Kontrolle des medizinischen Personals zur Unterbindung von Fluchtbewegungen und zur generellen Überwachung der als politisch unzuverlässig geltenden medizinischen Intelligenz dargestellt. Nach Schilderung der Autorin waren 35 Prozent der Ärzte Inoffizielle Mitarbeiter (IM).
Auffällige Unterschiede ergaben sich bei der Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht zwischen Psychiatern und Ärzten anderer Fachrichtungen. In 62 Prozent der IM-Akten von Psychiatern sind Schweigepflichtsverletzungen dokumentiert. Bei Vertretern anderer Fachrichtungen sind es "nur" 21 Prozent.
Beispiele dafür, daß die Führungsoffiziere der Staatssicherheit die psychiatrische Krankenbehandlung hätten beeinflussen wollen oder können, etwa um einem Kranken durch bewußte Fehltherapie zu schaden, finden sich nicht. Staatssicherheit und Gesundheitswesen zeigen sich als Institutionen, die unter Anleitung und Kontrolle durch die Partei keineswegs harmonisch zusammengearbeitet, sondern jeweils eigene Interessen verfolgt haben.
Die Autorin stützt ihre Befunde auf belegbare Tatsachen, die durch einen umfangreichen Apparat von Anmerkungen und Fußnoten dokumentiert werden. Unter dem Stichwort "Kolportage von Stereotypen" setzt Frau Süß sich mit der Literatur über ihr Thema auseinander. Auch methodische Grenzen, zum Beispiel bei der Interpretation von Gutachten, werden erörtert.
Großen Umfang nimmt die Schilderung der historischen und politischen Rahmenbedingungen in bezug auf das gesamte Gesundheitswesen der DDR ein. Hier wird auch die Geschichte Eggerts dargestellt. Gesonderte Kapitel beschäftigen sich mit den politischen Hintergründen des Verhaltens von Fachvertretern der Ostblockländer im Weltverband für Psychiatrie 1971 bis 1989 und mit dem eigenen Zentralen Medizinischen Dienst der Staatssicherheit, der die psychisch destruktiven Folgen repressiver Tätigkeiten bei ihren Verursachern dokumentiert.
Die Autorin belegt, daß psychologisches Fachwissen für MfS-Zwecke unter dem Etikett "Operative Psychologie" systematisch ausgebeutet wurde und wertet das als typisches Beispiel für die Akademisierung der Kaderausbildung in den sechziger Jahren. Neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis, Ortsregister und Erläuterungen DDR-spezifischer Abkürzungen enthält das Werk auch ein umfangreiches Personenregister, in dem die einst für das Ministerium für Staatssicherheit tätigen Psychiater namentlich aufgeführt sind. Einige von ihnen praktizieren heute noch.
MANFRED GASPAR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sonja Süß besitzt eine doppelte Kompetenz. Sie hat selbst als Fachärztin in der Psychiatrie der DDR gearbeitet, stand der Bürgerrechtsbewegung nahe und wurde als Mitglied des Demokratischen Aufbruchs 1990 mit der Untersuchung zum politischen Mißbrauch der Psychiatrie in der DDR betraut. Mehrere Jahre hat die Autorin mit Aktenrecherchen und Zeitzeugenbefragungen zugebracht. Dies tat sie mit der Akribie der gelernten Naturwissenschaftlerin und der Unaufgeregtheit der Psychiaterin. Das Resultat ist entsprechend eindeutig und darf bis zur Vorlage anderslautender Beweise als wissenschaftlich gesichert gelten." (Die Literarische Welt, 5.12.98) "Wer sich ein objektives Bild von dem Komplex"DDR und Psychiatrie"machen möchte, sollte dieses Buch lesen." (Deutsches Ärzteblatt, 17/1999) "Fast ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der DDR ist nun die erste, gründlich recherchierte Monographie über die DDR-Psychiatrie erschienen. (...) Das Ergebnis der Forschungen von Sonja Süß ist gestützt auf die Untersuchung der einschlägigen psychiatrischen Institutionen in der DDR durch gesamtdeutsch zusammengesetzte Expertenkommissionen nach der Wende, die Weisungen des Ministeriums für Staatssicherheit, die Analyse der Stasi-Akten von IM-Psychiatern und von Opfern politischer Repression." (Deutschland Archiv 2/99)