Band 7 "Politische Begriffe" ist ein "Lexikon im Lexikon". In über 1100 Stichwörtern von "Absolutismus" bis "Zweidrittelgesellschaft" ermöglicht der Band eine schnelle Grundinformation, die durch Literaturhinweise und Querverweise für das Gesamtwerk ergänzt wird. So ist dieser Band ein in sich geschlossenes Politikkompendium und zugleich Register für das Gesamtwerk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.1999Das Wheel erfunden
Das ambitionierte Lexikon der Politik ist abgeschlossen
Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze, Suzanne S. Schüttemeyer (Herausgeber): Lexikon der Politik, Band 7: Politische Begriffe, C. H. Beck Verlag, München 1998. 744 Seiten, 118,- Mark.
In diesem Jahr kann in Deutschland nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die Politikwissenschaft ihren 50. Geburtstag feiern: Im Januar 1949 wurde in Berlin die Deutsche Hochschule für Politik (wieder-)eröffnet, im September 1949 forderten alliierte Besatzungsoffiziere, westdeutsche Kultuspolitiker und Universitätsrepräsentanten auf einer Konferenz im südhessischen Waldleiningen die Einrichtung von Lehrstühlen für politische Wissenschaften an allen Universitäten, und schon im Jahr zuvor hatte die hessische Landesregierung unter Zinn den Hochschulen in Frankfurt, Marburg und Darmstadt erste politikwissenschaftliche Professuren zugewiesen. So macht sich die inzwischen in die Jahre gekommene bundesdeutsche Politikwissenschaft mit dem Abschluß des ambitiösen und umfangreichen "Lexikons der Politik" selbst ein Geburtstagsgeschenk.
Der abschließende siebte Band hat sich unter dem Titel "Politische Begriffe" nicht nur zum Ziel gesetzt, die fachwissenschaftliche Sprache der Politikwissenschaft zu erschließen, sondern durch systematische Querverweise auf die anderen Bände auch als Register für das Gesamtwerk zu fungieren. Er kann daher Antworten auf unterschiedlichste Fragen nach dem Zustand der heutigen Politikwissenschaft bieten: Auf welchen grundlegenden Begriffen, Theorien und Methoden baut das Fach in Deutschland auf, wie ordnet es sich mit seinen Inhalten im Verhältnis zu den Nachbarwissenschaften ein, welches Bewußtsein hat es von seiner Vergangenheit, und welche Perspektiven eröffnen sich ihm für die Zukunft?
Der Heidelberger Politikwissenschaftler Dieter Nohlen, Herausgeber des Gesamtlexikons, hat dem siebten Band in seiner Einleitung die Aufgabe gesetzt, politische Begriffe als Instrumente des politikwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in ihrer semantischen Herkunft sowie ihrer geschichtlichen Bedingtheit herauszuarbeiten und dabei deutschsprachige Ausdrücke in den Vordergrund zu stellen. In seinen eigenen Beiträgen gelingt ihm das auch mustergültig, hingegen verzichten andere Autoren auf die begriffsgeschichtliche Herleitung.
Ganze Breite.
In der Gesamtheit des Lexikons dominieren, vor allem im Gefolge der Wahlforschung, englischsprachige Ausdrücke (actual vote, advocacy planning, affirmative action, agenda setting und so weiter). Das ist auch eine Folge des umfassenden Gegenstandsbereiches, den die Politikwissenschaft diesem Lexikon zur Folge zum Inhalt hat. In den mehr als 1100 Stichwörtern schlägt sich nicht nur die ganze Breite des heutigen Verständnisses von "politics" als dem prozeduralen, "policy" als dem inhaltlich-materialen und "polity" als dem formal-normativen Aspekt des Politischen nieder, auch der Stoff von zahlreichen Nachbarfächern wird erfaßt. Dabei werden vor allem Soziologie, Ökonomie und Sozialpsychologie berücksichtigt, während Geschichte, Öffentliches Recht und Philosophie weitgehend außen vor bleiben. Bei einigen Stichwörtern wie dem "Kapitalkoeffizienten" und der "kognitiven Dissonanz" ist der politische Bezug nur schwer erkennbar.
Die zahlreichen Artikel des Lexikonbandes "Politische Begriffe" zu Theorien, Methoden und Arbeitsweisen der heutigen Politikwissenschaft legen den Eindruck nahe, daß dieses Fach völlig in der Allgemeinheit der Sozialwissenschaften aufgegangen ist. Als Beispiel sei das Stichwort "Battle of Sexes" genannt, bei dem der Leser zunächst einen Hinweis auf feministische Ansätze in der Politikwissenschaft vermutet. Als nächstes kommt einem die Definition Max Webers in den Sinn, daß "Macht" die Chance ist, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Kaum vermuten läßt sich jedoch, daß sich hinter diesem Schlagwort die Erklärung folgenden spieltheoretischen Koordinationsproblems versteckt: "Ein Mann und eine Frau möchten gerne einen Abend gemeinsam verbringen, haben aber keine Möglichkeit (oder wagen es nicht), sich abzustimmen. Beide wissen, der Mann möchte am liebsten zum Fußballspiel, die Frau ins Ballett. Was sollen sie tun?" Beim sogenannten Gefangenendilemma kann man die politikwissenschaftliche Relevanz dieses Problems der Kooperation rationaler Individuen noch nachvollziehen, doch beim paradigmatischen Spiel des Geschlechterkampfes erscheint sie hergeholt.
Postmoderne Sozialwissenschaft.
Die Gesamtheit der Stichwörter im Lexikonband zu den "Politischen Begriffen" belegt, daß die deutsche Politikwissenschaft heute auf der Höhe einer internationalen und modernen, in vielfacher Hinsicht postmodern ausgerichteten Sozialwissenschaft steht, wobei geisteswissenschaftliche, insbesondere historische Aspekte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Vor allem das geringe ideengeschichtliche Bewußtsein der Disziplin birgt die Gefahr, daß sie dazu neigt, das Rad immer von neuem, wenn auch als "wheel", zu erfinden.
Problematischer für das Profil der heutigen Politikwissenschaft erscheint die Tatsache, daß sich ihr Gegenstandsbereich in einer Weise ausgedehnt hat, daß er alles beinhaltet - und möglicherweise beliebig wird. Doch darin spiegelt die akademische Disziplin nur die allgemeine Entwicklung des Politischen wider. Der Lexikonband bestätigt diesen Eindruck bereits in quantitativer Hinsicht, indem er zum Beispiel dem zentralen Stichwort "Politikwissenschaft" nur eine Textspalte widmet, im Vergleich zu vier Spalten für den "Datenschutz" und zahlreichen anderen Stichwörtern.
In diesen Ungereimtheiten zeigen sich auch editorische Schwächen des siebten Bandes des "Lexikons der Politik". Seine Herausgeber haben zu vieles und zu Verschiedenartiges gewollt: sowohl eine knappe Herleitung der politischen und sozialwissenschaftlichen Begriffe als auch ein inhaltliches "Lexikon im Lexikon" und schließlich ein Register des Gesamtwerkes. Wer sich nur ein allgemeines Lexikon zur Politikwissenschaft leisten kann, ist mit Manfred G. Schmidts "Wörterbuch zur Politik" nicht nur preislich, sondern vermutlich auch inhaltlich besser bedient. Doch als Gesamtwerk ist das nun abgeschlossene "Lexikon der Politik" eine bewundernswerte Leistung. Damit ist ein für die sich ausdifferenzierende Disziplin unentbehrliches Handbuch vorgelegt worden, werden doch nicht nur die Theorien, Methoden und Inhalte, sondern vor allem die Forschungsdebatten der heutigen Politikwissenschaft in all ihrer Vielfalt vermittelt.
WILHELM BLEEK
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Das ambitionierte Lexikon der Politik ist abgeschlossen
Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze, Suzanne S. Schüttemeyer (Herausgeber): Lexikon der Politik, Band 7: Politische Begriffe, C. H. Beck Verlag, München 1998. 744 Seiten, 118,- Mark.
In diesem Jahr kann in Deutschland nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die Politikwissenschaft ihren 50. Geburtstag feiern: Im Januar 1949 wurde in Berlin die Deutsche Hochschule für Politik (wieder-)eröffnet, im September 1949 forderten alliierte Besatzungsoffiziere, westdeutsche Kultuspolitiker und Universitätsrepräsentanten auf einer Konferenz im südhessischen Waldleiningen die Einrichtung von Lehrstühlen für politische Wissenschaften an allen Universitäten, und schon im Jahr zuvor hatte die hessische Landesregierung unter Zinn den Hochschulen in Frankfurt, Marburg und Darmstadt erste politikwissenschaftliche Professuren zugewiesen. So macht sich die inzwischen in die Jahre gekommene bundesdeutsche Politikwissenschaft mit dem Abschluß des ambitiösen und umfangreichen "Lexikons der Politik" selbst ein Geburtstagsgeschenk.
Der abschließende siebte Band hat sich unter dem Titel "Politische Begriffe" nicht nur zum Ziel gesetzt, die fachwissenschaftliche Sprache der Politikwissenschaft zu erschließen, sondern durch systematische Querverweise auf die anderen Bände auch als Register für das Gesamtwerk zu fungieren. Er kann daher Antworten auf unterschiedlichste Fragen nach dem Zustand der heutigen Politikwissenschaft bieten: Auf welchen grundlegenden Begriffen, Theorien und Methoden baut das Fach in Deutschland auf, wie ordnet es sich mit seinen Inhalten im Verhältnis zu den Nachbarwissenschaften ein, welches Bewußtsein hat es von seiner Vergangenheit, und welche Perspektiven eröffnen sich ihm für die Zukunft?
Der Heidelberger Politikwissenschaftler Dieter Nohlen, Herausgeber des Gesamtlexikons, hat dem siebten Band in seiner Einleitung die Aufgabe gesetzt, politische Begriffe als Instrumente des politikwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in ihrer semantischen Herkunft sowie ihrer geschichtlichen Bedingtheit herauszuarbeiten und dabei deutschsprachige Ausdrücke in den Vordergrund zu stellen. In seinen eigenen Beiträgen gelingt ihm das auch mustergültig, hingegen verzichten andere Autoren auf die begriffsgeschichtliche Herleitung.
Ganze Breite.
In der Gesamtheit des Lexikons dominieren, vor allem im Gefolge der Wahlforschung, englischsprachige Ausdrücke (actual vote, advocacy planning, affirmative action, agenda setting und so weiter). Das ist auch eine Folge des umfassenden Gegenstandsbereiches, den die Politikwissenschaft diesem Lexikon zur Folge zum Inhalt hat. In den mehr als 1100 Stichwörtern schlägt sich nicht nur die ganze Breite des heutigen Verständnisses von "politics" als dem prozeduralen, "policy" als dem inhaltlich-materialen und "polity" als dem formal-normativen Aspekt des Politischen nieder, auch der Stoff von zahlreichen Nachbarfächern wird erfaßt. Dabei werden vor allem Soziologie, Ökonomie und Sozialpsychologie berücksichtigt, während Geschichte, Öffentliches Recht und Philosophie weitgehend außen vor bleiben. Bei einigen Stichwörtern wie dem "Kapitalkoeffizienten" und der "kognitiven Dissonanz" ist der politische Bezug nur schwer erkennbar.
Die zahlreichen Artikel des Lexikonbandes "Politische Begriffe" zu Theorien, Methoden und Arbeitsweisen der heutigen Politikwissenschaft legen den Eindruck nahe, daß dieses Fach völlig in der Allgemeinheit der Sozialwissenschaften aufgegangen ist. Als Beispiel sei das Stichwort "Battle of Sexes" genannt, bei dem der Leser zunächst einen Hinweis auf feministische Ansätze in der Politikwissenschaft vermutet. Als nächstes kommt einem die Definition Max Webers in den Sinn, daß "Macht" die Chance ist, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Kaum vermuten läßt sich jedoch, daß sich hinter diesem Schlagwort die Erklärung folgenden spieltheoretischen Koordinationsproblems versteckt: "Ein Mann und eine Frau möchten gerne einen Abend gemeinsam verbringen, haben aber keine Möglichkeit (oder wagen es nicht), sich abzustimmen. Beide wissen, der Mann möchte am liebsten zum Fußballspiel, die Frau ins Ballett. Was sollen sie tun?" Beim sogenannten Gefangenendilemma kann man die politikwissenschaftliche Relevanz dieses Problems der Kooperation rationaler Individuen noch nachvollziehen, doch beim paradigmatischen Spiel des Geschlechterkampfes erscheint sie hergeholt.
Postmoderne Sozialwissenschaft.
Die Gesamtheit der Stichwörter im Lexikonband zu den "Politischen Begriffen" belegt, daß die deutsche Politikwissenschaft heute auf der Höhe einer internationalen und modernen, in vielfacher Hinsicht postmodern ausgerichteten Sozialwissenschaft steht, wobei geisteswissenschaftliche, insbesondere historische Aspekte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Vor allem das geringe ideengeschichtliche Bewußtsein der Disziplin birgt die Gefahr, daß sie dazu neigt, das Rad immer von neuem, wenn auch als "wheel", zu erfinden.
Problematischer für das Profil der heutigen Politikwissenschaft erscheint die Tatsache, daß sich ihr Gegenstandsbereich in einer Weise ausgedehnt hat, daß er alles beinhaltet - und möglicherweise beliebig wird. Doch darin spiegelt die akademische Disziplin nur die allgemeine Entwicklung des Politischen wider. Der Lexikonband bestätigt diesen Eindruck bereits in quantitativer Hinsicht, indem er zum Beispiel dem zentralen Stichwort "Politikwissenschaft" nur eine Textspalte widmet, im Vergleich zu vier Spalten für den "Datenschutz" und zahlreichen anderen Stichwörtern.
In diesen Ungereimtheiten zeigen sich auch editorische Schwächen des siebten Bandes des "Lexikons der Politik". Seine Herausgeber haben zu vieles und zu Verschiedenartiges gewollt: sowohl eine knappe Herleitung der politischen und sozialwissenschaftlichen Begriffe als auch ein inhaltliches "Lexikon im Lexikon" und schließlich ein Register des Gesamtwerkes. Wer sich nur ein allgemeines Lexikon zur Politikwissenschaft leisten kann, ist mit Manfred G. Schmidts "Wörterbuch zur Politik" nicht nur preislich, sondern vermutlich auch inhaltlich besser bedient. Doch als Gesamtwerk ist das nun abgeschlossene "Lexikon der Politik" eine bewundernswerte Leistung. Damit ist ein für die sich ausdifferenzierende Disziplin unentbehrliches Handbuch vorgelegt worden, werden doch nicht nur die Theorien, Methoden und Inhalte, sondern vor allem die Forschungsdebatten der heutigen Politikwissenschaft in all ihrer Vielfalt vermittelt.
WILHELM BLEEK
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